
„Wäre es nicht ziemlich töricht von mir, dir meinen Plan preiszugeben?”, fragte Gor Lucegath. „Soll ich dir die Überraschung verderben? Du wirst früh genug erfahren, wozu ich das ay’cha’ree benötige.”
„Natürlich. Eine dumme Frage von mir.”
„Es wird dich immerhin nicht überraschen, dass ich beabsichtige, Yalomiro Lagoscyre zu töten, sobald er seinen Nutzen erfüllt hat und das Artefakt in meinen Händen ist.”
„Ich gehe davon aus, dass Euch das am Ende nicht gelingen wird. Er wird Euch besiegen.”
„Wie niedlich.” Der Rotgewandete war amüsiert. „Nun, wir werden sehen, ob du Recht behältst. Aber lass dir gesagt sein, Ujora, dass der Umstand, dass dein Schattensänger noch lebt nicht damit zusammenhängt, dass er sich erfolgreich gegen mich verteidigt. Hast du schon einmal eine Katze beobachtet, die mit einer Maus … spielt?”
„Das …”
„Magst du Katzen, Ujora?”
Ich erstarrte, bemerkte das und versuchte, das Erschrecken beiseite zu wischen.
„Ich mag Katzen ganz und gar nicht, Ujora. Vielleicht ist das ein kleine Schwäche, eine Wunderlichkeit meinerseits, aber immer, wenn ich eine Katze sehe, fühle ich mich beobachtet.”
Bleib ruhig, redete ich mir selbst zu. Das ist Zufall! Er kann nichts von Arámaú wissen …
„Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit Yalomiro Lagoscyre. Hat er sich dir eigentlich jemals in seiner Katzengestalt gezeigt?”
… oder doch?
„Nein”, sagte ich. „Ich weiß nur, dass er sich in ein Pferd verwandeln kann.”
„Und in einen Drachen. Beeindruckend, dass er mit Magie sogar eine Form beherrscht, die allein der Phantasie entspringt.”
„Ja. Ja … natürlich.”
„Ich spüre, dass dir dieses Gespräch unbequem wird, Ujora. Soll ich das Thema wechseln?”
Was erwartete er, das ich darauf antworten würde? Die Frage lag vor mir wie kreuz und quer durcheinander verlaufende Stolperdrähte.
„Wie Ihr wollt.”
„Oh, ich möchte dich nicht unnötig aufwühlen. Ich kann es dir nachsehen, dass es dir Sorgen bereitet, den Schattensänger in sein Verderben laufen zu sehen. Aber er ist alt genug, um zu wissen, was er tat, als er mich herausforderte. Es ist nur schade, dass seine Geschichte damit wohl ganz ähnlich enden wird wie die eines anderen Magiers, vor langer, langer Zeit. Magst du ein Märchen hören, Ujora?”
„Vielleicht sollte ich jetzt wirklich besser gehen…”
„Da war einmal ein junger Mann in roten Gewändern”, begann Gor Lucegath und lehnte sich locker in seinem Sessel zurück. „Sicher nicht das, was nach deinen Maßstäben ein ehrenhafter und gütiger Herr gewesen wäre, so wie yarl Althopian oder auch … ja, vielleicht sogar wie Yalomiro Lagoscyre. Nein, wirklich nicht. Es war eine gnadenlose Zeit, zu der es wenig Platz für Edelmut und Frohsinn gab. Jener junge Mann hatte viel Härte und noch mehr Enttäuschung erfahren in seiner Zeit, und was er auch tat, nie war es genug zur Zufriedenheit seines Lehrherrn. Und so war unser Held schon als Jüngling zutiefst verbittert. – Empfindest du schon Mitleid, Ujora?”
„Noch nicht allzu sehr.”
„Das könnte sich ändern. Denn selbst diese traurige, verbitterte Gestalt hatte Träume. Der junge Mann strebte danach, sich dereinst aus seiner unglücklichen Lage zu befreien. Aber er war auch vernünftig genug, um zu erkennen, dass er sein Ziel vorläufig nicht erreichen konnte, dass es Zeit und Beharrlichkeit bedurfte. Das geeignete Mittel dorthin schien ihm das Erringen von Macht zu sein, Macht, die ihm schließlich Respekt und Freiheit verschaffen würde. Wie aber kommt so ein armer Tropf an Macht heran, Ujora?”
„Ich habe keine Ahnung.”
„Der einfachste Weg zur Macht ist, sich zunächst in mächtige Gesellschaft zu begeben. Im Fall unseres Helden führte dieser Weg ihn zu einem neuen Lehrmeister. Einem, der das Talent, den Eifer und den unbändigen Wunsch des jungen Mannes, sich zu beweisen, ohne Vorbehalte zu würdigen wusste. Das war ein ganz und gar ungewohntes, ein angenehmes und verlockendes Gefühl. Für diese Wertschätzung, diese Anerkennung war der junge Mann bereit, alles zu geben, ohne Rücksicht auf seine Moral und Ehre. Eine Weile ging das gut, und er blühte im Schatten seines neuen mächtigen Meisters auf. Er war seinem Retter, dem, der ihn aus seiner Misere und an seine Seite geholt hatte, zutiefst dankbar, loyal und ergeben. Er war bereit, alles für ihn zu tun, was immer von ihm verlangt wurde. Dabei wurde ihm nicht bewusst, dass er langsam und schleichend vom Schüler dieses Meisters mehr und mehr zu dessen Handlanger wurde. Sein bitteres und zugleich ehrgeiziges Herz wurde immer spröder, kälter und gieriger. Bis eines Tages …”
Er unterbrach sich, trank und schaute nachdenklich zu dem Deckengemälde auf.
„Aber vielleicht sollte ich dir das doch nicht erzählen.”
„Warum so plötzlich nicht?”
„Es ist vielleicht nicht gut”, sagte er.
Ich war verwirrt. Machte er es nun nur spannend, oder war es etwas anderes, das ihn zögern ließ? „Ihr habt damit angefangen.”
„Ich hätte das nicht tun sollen.”
„Ich wüsste jetzt aber gerne, wie es ausgeht”, sagte ich. Das wollte ich tatsächlich. Ich ahnte, dass hinter dieser sonderbaren Geschichte etwas steckte, das er mir unter anderen Umständen nicht sagen würde. Vielleicht war das zu irgendetwas nützlich.
„Warum?”
„Weil ich wissen will, ob ich noch Mitleid bekomme?”
Er lachte lautlos. Dann fuhr er fort.
„Eines Tages geschah mit dem jungen Mann etwas, womit niemand rechnen konnte, am allerwenigsten er selbst. Er begegnete einer fánjula. Eine Begegnung unter ganz außergewöhnlich furchtbaren und unglücklichen Umständen. Aber selbst diese unglückliche Begegnung bewirkte etwas in seinem verdorbenen Herzen, in seiner Seele. Er erkannte sie als seine hýardora.”
Das war nicht wahr! Das konnte er nicht ernst meinen!
„Und”, fragte ich vorsichtig, „hat sie ihn auch erkannt? Was war mit ihrem Herzen?”
„Ich weiß es nicht. Vielleicht gar nichts. Vielleicht Abscheu. Vielleicht … Mitgefühl”, sagte er leise. „Ich … er hat es nie erfahren.”
„Es gibt also kein glückliches Ende?”
„Nein”, sagte der Rotgewandete. „Magst du auch ein Unglückliches hören?”
Ich nickte.
„Es ist nicht spektakulär.” Gor Lucegath trank einen kleinen Schluck. „Er hat sie umgebracht.”
Mir war, als krampfe sich Kälte um mich herum zusammen, so leichthin sagte er das. „Aber … warum? Etwa, weil sie ihn abgewiesen hat?”
„Nein. Weil sein Meister es von ihm verlangte, vorgeblich als Beweis seiner Loyalität. Möglicherweise war das aber nicht der einzige Grund. Vielleicht war es eine spontane Laune des Meisters, seinen treuesten Gefolgsmann quälen zu wollen. Doch das ist einerlei. Der junge Mann gehorchte, weil es keine Wahl für ihn gab. Liebe … stand ihm nicht zu.”
Ich schauderte. Der Lichtwächter drehte den Becher in den Händen.
„Abgesehen davon”, redete er sachlich weiter, „gab es auch für sie keinen Ausweg. Hätte er sich geweigert, jemand anderes hätte sich gefunden, es auszuführen. Für sie machte es nur den Unterschied, dass es von schneller und kunstfertiger Hand geschah. Wenigstens diese letzte, bittere Zärtlichkeit konnte er ihr erweisen.”
„Wusste sie, dass …”
„Nein. Sie hat niemals erfahren, dass der junge Mann … ihr zugetan war. Und was immer nahe daran war, in ihm zu erwachen – es ging in dem Moment zugrunde, in dem sie hinter die Träume ging. Ihr Seelenfunke war … wunderschön.”
Unbehagen wallte in mir auf. Die Geschichte, die ich hier zu hören bekam, machte mir Angst, auf eine ganz sonderbare, beklemmende Weise.
„Wer, Ujora, trägt die größere Schuld? Der unerbittliche Meister, der den Gehorsam einforderte? Oder der erbärmliche Feigling, der ihm gehorchte? Entscheide du es.”
„War das wirklich nur ein Märchen?”, fragte ich.
„Selbstverständlich. Oder denkst du, ausgerechnet ich würde dir eine sentimentale Liebestragödie erzählen, Ujora? Ich? Ein goala’ay, ein Magier, dessen Macht sich darauf gründet, Verzweiflung, Schmerzen und Tod zu bringen?”
„Aber … ist der junge Mann bei seinem Meister geblieben, um Macht zu erlangen?”
Gor Lucegath lächelte freudlos. „Was denkst du?”
„Ich glaube, es ist tatsächlich besser, wenn ich jetzt gehe”, sagte ich verwirrt.
„Findest du allein hinaus?”
„Wahrscheinlich. Ich sehe Eure Verwirrzauber ja nicht mehr.”
Ich erhob mich und erwartete, dass er mich aufhalten würde. Aber er schien in Gedanken versunken zu sein. Das Licht der Lampe, die er mitgebracht hatte, wurde schwächer.
Ich nahm meine eigene Laterne und ging hinüber zur Tür.
„Ujora”, sagte er aus dem Dunkel, das sich im Zimmer ausbreitete, „ich habe dir das nicht erzählt, damit jemand … anderes davon erfährt.”
„Nein. Natürlich nicht.”
„Gut. Aber bevor du gehst, Ujora, noch zwei Dinge. Zum einen: Wenn ich dich jemals wieder an irgendeinem Ort antreffe, an dem du nicht sein solltest, werde ich es nicht dabei belassen, dich mit meinem alten Handwerkszeug lediglich zu erschrecken.”
Unwillkürlich schloss ich meine Fäuste. „Ich verstehe.”
„Und zum anderen”, sagte er bitter und amüsiert zugleich, „solltest du wissen, dass der grausame Meister jenes jungen Mannes damals einen schwarzen Mantel trug.”
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