
Es war ein ungewohnter Anblick, Yalomiro hoch zu Ross zu sehen, anstatt in Gestalt eines Pferdes. Allerdings schien er selbst recht dankbar zu sein, dass Elosál den maedlor den Pfad entlang geschickt hatte, den Advon ihr gewiesen hatte. Der junge Mann führte Úldaise Tiáramalés Ross als Handpferd und hatte Yalomiro auf halber Strecke aufgelesen. Ich erschrak bei seinem Anblick. Yalomiro war kreidebleich, konnte sich kaum gerade im Sattel halten und schien insgesamt ganz unsicher und unkoordiniert zu sein, so als könne er nicht richtig sehen und Balance halten. Ohne den schrecklichen Zauberstab, der zu meinem Entsetzen nun doch nicht ganz aus dem Weltenspiel verschwunden war, wäre er wohl gar nicht auf die Beine gekommen.
„Yalomiro!”, rief ich erschrocken und rannte auf ihn zu.
Er hob müde die Hand. „Nicht erschrecken, Salghiára. Es ist alles gut, wie es ist.”
„Was ist mit dir passiert?”
„Es ist alles gut. Ich bin nur … müde.”
Cýelú Irísolor wollte ihm beim Absteigen helfen, besann sich aber und winkte den Stallmeister heran, der irgendwann im Laufe der chaotischen Nacht wieder in den Cielástel zurückgekehrt war. Zusammen mit dem maedlor wuchteten sie Yalomiro aus dem Sattel. Ich hatte ihn so gern stürmisch umarmt, aber damit hätte ich ihn nur umgeworfen. Also legte ich nur vorsichtig meine Arme um ihn und schmiegte mich an seine Brust. Er legte die Hand auf meinen Rücken. „Hýardora“, flüsterte er. „Salghiára. Endlich.”
„Yalomiro”, wisperte ich und fühlte mich unsagbar erleichtert. Er war wieder da. Nun konnte nichts mehr passieren.
„Was ist passiert?”, fragte er. „Was ist es dir ergangen?”
„Ich …”, holte ich aus und war nahe daran, ihn mit all den Neuigkeiten zu erschlagen, mit dem Regen, den ich beschworen hatte, mit dem Geysir, den Elosál und ich geschaffen hatten, mit der Jagd der arcaval’ay auf die Monster, mit …
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und legte meine Stirn an seine, die eiskalt war, ungeachtet der Hitze am Rande der Wüste. Das war besser, viel besser. Elosál fasste Cýelú am Ärmel und zog ihn lächelnd ein Stück von uns weg. Aber er hätte nicht misstrauisch sein müssen. Sein Geheimnis, das würde ich bewahren, bis er es einmal selbst erzählte. Das hatten wir miteinander vereinbart.
„Das hast du sehr, sehr gut gemacht, Salghiára”, flüsterte Yalomiro. Seine Umarmung war erschreckend kraftlos. „Und ganz, ohne dass ich dir zugeschaut habe. Siehst du? Du kannst es aus eigener Kraft. Du brauchst mich nicht, um stark zu sein.”
„Aber du hast mir gefehlt!”
Er schmiegte seine Wange an meinen Kopf. Seine Gedankenstimme war auch sehr leise, aber sie fand bessere Worte als seine Zunge. Beieinander.
Cýelú räusperte sich.
„Und was habt Ihr erlebt, Meister Yalomiro?”, erkundigte sich Elosál. Wahrscheinlich hatten wir weit länger so zweisam dagestanden, als es vor Zuschauern höflich war.
„Nicht viel”, behauptete er bescheiden. „Hauptsächlich bin ich im Dunklen herumgetappt und habe Leere und Zwielicht durchwandert. Zumindest, solange ich nicht bewusstlos war und mich von jungen Kindern retten lassen musste.”
„Da habe ich von meinem Sohn aber zwischenzeitlich weit haarsträubendere Dinge gehört.”
„Ihr wisst, Meisterin … Kinder lieben große Geschichten.”
„Wo Ihr es sagt: Wo ist bei alledem der báchorkor geblieben?”
„Ich denke, er ist längst dort, wo das Weltenspiel ihn als Nächstes benötigt.”
„Und er ist das, was wir wohl alle glauben, dass er ist?”
„Ja. Dessen bin ich mir ganz sicher.”
„Dann müssen wir ihn schleunigst finden. Wir dürfen ihn nicht aus den Augen lassen!”, sagte Cýelú Irísolor alarmiert.
„Das wird nicht nötig sein. Er wird auf unserer Seite sein, wenn es das gilt. Sich uns anschließen wird er sich nicht. Das haben Rotgewandete niemals getan. Sie müssen allein wirken.”
„Er hat die Kinder gerettet”, gab Elosál zu bedenken. „Ich will ihm danken.”
„Dazu wird es sicher einmal die Gelegenheit geben.” Yalomiro stützte sich auf mich und blickte zum Burgtor auf. „Und was ist Eurem Haus hier geschehen?”
„Unkundige”, erklärte Cýelú. „Offenbar hat das entfesselte Chaos in der Stadt für ein wenig Unordnung und Missmut gesorgt.”
Yalomiro schaute in den Graben. Dort glitzerte es so vielfarbig, so als hätte jemand darin Altglascontainer ausgeleert. Die Zugbrücke darüber hatten die Regenbogenritter notdürftig mit Brettern geflickt, sodass die Pferde darüber laufen konnten.
„Das ist ernst”, sagte er. „Was werdet Ihr tun?”
„Wir beraten uns darüber mit den beiden sinoray, die uns hier besucht haben. Jene zwei wohl, die von all den Ältesten ihres Verstandes noch mächtig sind. Wir müssen mit der Stadt Aurópéa zu einer Einigung kommen. Aber die alten Leute schlafen noch. Wir geben ihnen die Ruhe, die sie brauchen.”
„Einer anderen Einigung, als der, sich gegenseitig möglichst zu ignorieren?”
„Sie brauchen unsere Hilfe, Meister Yalomiro, auch wenn sie es nicht ahnen. Es ist etwas Schlechtes in der Stadt, etwas, das wir uns nicht erklären können.”
„Weil es nichts Magisches ist”, setzte Cýelú hinzu. „Also können wir es nicht mit Magie beheben. Das müssen die Unkundigen selbst tun.”
„Nun”, sagte er, „dann will ich Euch nicht dreinreden.”
„Wir werden uns mit den ehrenwerten sinoray beratschlagen”, sagte Elosál. „Wir werden es finden und lösen. Und wenn Ihr uns dabei beistehen könnt …”
Cýelú seufzte, aber nur ganz leise.
„Die Mächte wollen wohl, dass wir zusammenwirken”, antwortete ich. „Jeder auf seine Weise.”
„Werdet Ihr das reparieren, Meister?”, fragte der maedlor unbehaglich, mit Blick auf den Scherbenhaufen und die Splitter, die seinesgleichen in der Nacht hinterlassen hatte.
„Nein. Ich denke, wir lassen es vorerst so. Bevor noch jemand vergisst, was sich hier zugetragen hat.”
Der junge Mann senkte beschämt den Kopf.
„Der Schaden in Aurópéa dürfte größer sein als die paar Scherben hier. Wir bieten euch an, das zu beheben. Sag das den Leuten. Aber entscheidet selbst, ob ihr es annehmen wollt.”
„Ja, Meister.”
„Gut. Dann geht ihr beiden nun zurück in die Stadt, nehmt die Maultiere mit und sorgt dafür, dass morgen, gegen Abend, wenn es kühler wird, eure sinoray eine bequeme Sänfte oder Kutsche bekommen und ihre Villen für ihre Heimkehr vorbereitet sind. Sie sind unsere lieben Gäste bis dahin.”
Der Stallmeister und der maedlor entfernten sich.
Elosál wandte sich uns zu. „Und was können wir für Euch tun, Meister Yalomiro?”
„Wenn es recht wäre, dann würde ich es gern den sinoray nachtun und eine Weile einfach nur ausruhen. Drei, vier Nächte vielleicht, bis meine Kraft wieder halbwegs hergestellt ist. Wenn Ihr uns so lange hier duldet.”
„Ihr seid unsere Gäste, Meisterin Salghiára, Meister Yalomiro.”
„Ohne Euch kränken zu wollen … ich würde es vorziehen, hier draußen zu bleiben. Ihr versteht … das Gold.”
„Wir finden sicher ein Sonnensegel, das Euch nicht weh tut”, sagte Cýelú. Ich kam nicht umhin, zu bemerken, dass er erleichtert schien, dass Yalomiro den Cielástel nicht betreten wollte. „Lagert hier draußen, solange es Euch gefällt.”
„Ich werde nicht länger bleiben, als Ihr es ertragt”, gab Yalomiro höflich zurück. „Nun gut. Vielleicht ein paar Gongschläge länger.”
Cýelú runzelte die Stirn. Yalomiro verzog keine Miene.
„Und dieser verfluchte Zauberstab da?”
Yalomiro hielt ihn dem Goldenen entgegen. „Wollt Ihr ihn haben? Meinetwegen behaltet ihn und macht etwas Nützliches draus. Einen Besen vielleicht, um den Schaden hier wegzukehren.”
„So denkt Ihr wohl, Euer hässliches Gerümpel loszuwerden, was? Packt Euch und verschwindet mit dem Ding!”
Ich war entsetzt über dieses unvermittelte Wortgefecht. Doch dann bemerkte ich, dass Elosál verstohlen kicherte.
„So haltet doch Frieden!”, bat ich. „Was sollen die Kinder denken?”
„Wo ist Dýamirée?”, fragte Yalomiro. „Warum ist sie nicht bei dir, Salghiára?”
Tja. Warum war sie nicht bei mir? Als ich mit Cýelú Irísolor zum Cielástel zurückgekehrt war, war er vorangegangen, um nach den Kindern zu suchen. Ich fühlte mich noch zu schwach, um die Burg mit all dem Gold zu betreten, also war er gegangen, hatte sie schlafend in Advons Schulzimmer vorgefunden und ganz behutsam, sodass sie nicht einmal aufgewacht war, zu mir ins Freie gebracht.
So erleichtert, so glücklich war ich gewesen, meine Tochter wieder bei mir zu haben! Ich hatte lange neben ihr gesessen und ihr einfach nur beim Schlafen zugesehen, während ich mir viele, ungeordnete und eher Emotionen als Überlegungen gleichende Gedanken durch den Kopf gingen. Dýamirée war offenbar unverletzt. Sie lebte. Und in ihren Träumen gingen viele sonderbare Dinge vor, ich nahm undeutliche, aufblitzende Bilder wahr, wenn ich vorsichtig hinein blickte. Es kam ein Wesen darin vor, ein Mensch, der gleichzeitig war und nicht war. Vielleicht das Letzte, was vom Verfluchten geblieben war.
Als es hell wurde und sie aufwachte, hatten wir ein inniges Wiedersehen miteinander erlebt. Aber dann … dann hatte sie doch tatsächlich Wichtigeres zu tun.
„Advon zeigt ihr den Cielástel”, erklärte ich Yalomiro. „Die beiden haben sich so viel zu erzählen. So viel anzuschauen.”
„Ich werde sie zu Euch schicken, sobald ich sie sehe. Es ist ja ein so liebes und verständiges Kind. Ganz außergewöhnlich, angesichts eines so anmaßenden Vaters.”
„Cýelú!”
Yalomiro und Cýelú blitzten sich gegenseitig aufgebracht an. Die Provokation brachte sogar etwas Leben in Yalomiro zurück. Dann lächelte er, verneigte sich mit vollendeter Höflichkeit, soweit er das fertig brachte, und wandte sich zum Gehen. Cýelú schaute ihm verblüfft nach, offenbar erstaunt über den leichten Sieg.
Elosál lächelte mich an. Ihre Augen glänzten warm und golden. Ich nickte ihr zu. Und wie gut fühlte es sich an, endlich eine neue Freundin gefunden zu haben.
***
Anders, als die Eltern es denken mochten, waren Advon und Dýamirée nicht im Cielástel. Allerdings hatten die beiden sich auch nicht allzu weit fortgemacht. Das Abend- und das Morgenkind standen beieinander am Weidezaun des magischen Geheges und schauten den Einhörnern zu.
„Heute sind sie langweilig”, sagte Advon bedauernd. „Du solltest sie sehen, wenn sie miteinander um die Wette laufen und kämpfen und spielen. Sie hüpfen dann manchmal im Übermut wie die Zicklein, und der Boden bebt davon.”
„Ich glaube, die sind alle sehr müde von heute Nacht. Ich finde es schön, wie sie da liegen oder grasen. So ruhig. So als würde nie etwas Böses passieren.”
Sie betrachteten schweigend, wie die Einhörner im Schatten der hohen Bäume dösten. Farbenspiel lag platt auf der Seite und schnarchte hörbar. Perlenglanz und Sonnenstrahl weideten Seite an Seite, so dicht, dass sie einander berührten.
„Und wann reiten wir nun ans große weite Meer?”, fragte Dýamirée.
„Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir damit noch etwas warten.”
„Warten ist langweilig. Ich will die Schiffe sehen, und die hohen Wellen.”
„Ich glaube nicht, dass meine und deine Eltern einfach so einverstanden wären, Dýamirée.”
„Nicht?”
„Nein.”
„Warum?”
„Weil wir Kinder sind. Darum. Wir können so etwas noch nicht allein bestimmen.”
„Ach ja.” Dýamirée stützte das Kinn auf die Hände. Ihr grüner Blick verdunkelte sich.
Eine Weile hörten sie dem beruhigenden Geräusch zu, das die Einhörner beim Gras rupfen machten, dem sachten Wind und dem Gesang der Vögel.
„Deine Eltern werden sicher bald wieder in euren Wald zurückkehren”, sprach Advon es aus, um es hinter sich zu bringen.
„Ja”, murmelte Dýamirée. „Mama und Papa können einfach nicht in eurer schönen Glasburg sein. Das tut ihnen weh. Noktáma will das nicht.”
„Ob es meiner Mama und Papa weh tun würde, in eurem Wald zu sein?”
„Im Wald wahrscheinlich nicht. Deinem Papa hatte das nichts ausgemacht. Aber vielleicht könnten sie unser Haus und Noktámas Heiligtum nicht betreten. Das würde Pataghíu vielleicht nicht mögen.”
„Ich hätte so gern deinen Wald gesehen. Und die vielen großen Bäume.”
„Und den See. Der See ist so schön …” Sie blickte auf. „Du musst mir versprechen, dass du mich ganz oft besuchen kommst. Dein Papa kann dich doch zu uns bringen. Und wir müssen die unkundigen Kinder wieder finden.”
„Die sind auf der anderen Seite des Montazíel.”
„Da kann Farbenspiel hinüber fliegen. Wenn er sich ausgeruht hat. Das kann sogar mein Vater, wenn er ein Rabe ist.”
„Dýamirée ….”
„Ich will nicht, dass ich von dir wegmuss”, sagte sie kläglich. „Aber ich will auch bei Mama und Papa sein, und nach Hause will ich auch, und … Ach … alles miteinander.”
„Alles miteinander ist unmöglich.”
„Ich kann mich aber nicht entscheiden. Ich will zurück zu Mama und Papa und dem, was ich kenne. Aber … ich kenne jetzt mehr. Ich kenne jetzt dich. Da sollst dazu gehören.”
„Ich will auch nicht, dass du weggehst”, sagte er, so tapfer wie er konnte. „Ich will nicht wieder so allein sein. Obwohl … nun, da Siledaú weg ist, wird sicher alles leichter. Hoffe ich. Ich habe nun meine Eltern zurück, ohne falsche Sorge, ohne Angstmacherei. Es kann wieder so schön werden. Aber … ohne dich macht das keinen Spaß.”
„Und wenn wir uns verstecken? Nur eine Weile?”
„Das ist keine Lösung. Die finden uns doch, egal wo wir sind. Die können alle zaubern. Und es sind unsere Eltern. Wir können uns nicht vor Magie verbergen, die es gut mit uns meint.”
„Advon?”
Sie schaute ihn mit großen, feuchten Augen an. Dann streckte sie ihre Hände nach ihm aus. Er umarmte sie schluchzend. Vor den Einhörnern war es ganz egal, dass er so traurig war. Und so teilten sie ihre Tränen miteinander, während das Leben der Unkundigen in Aurópéa und im fernen Wijdlant weiterging und die Erinnerung an die Nacht des Chaos in den Menschenherzen verblasste.
***
Die neuen Gewänder fühlten sich ungewohnt an, aber Galéon war froh, dass er dies gleich als erstes angegangen war. Die zerschlissenen Lumpen, die er in Aurópéa, am Rande der Wüste getragen hatte, waren nördlich des Montazíel viel zu dürftig, um ihn zu wärmen. Natürlich war er vorsichtig gewesen, hatte den Großteil seines neuen Gepäcks und den Blumentopf gut versteckt und sich dann zum ersten abgelegenen Gehöft begeben, das in südwestlicher Richtung von der großen Burg von Wijdlant am Weg lag. Er war dort angekommen, bevor die Nacht hereinbrach. Eine freundliche Bäuerin hatte ihm dort eines der leinenen Hemden und eine Hose etwas gekürzt und enger genäht. Dafür hatte er den gesamten Haushalt mit ein paar exotischen Märchen aus Ivaál und später, als die Kinder schlafen gegangen waren, die Erwachsenen mit ein paar derberen Schamlosigkeiten aus Forétern unterhalten. Das alles war ihm leicht wie immer von der Zunge gegangen, aber es fühlte sich … anders an als zuvor. Unterhaltsam, voller Wortwitz, Phantasie und Lust, das schon. Aber es war ihm klar geworden, dass er nun, da er andere Geschichten kannte, nicht mehr so unbeschwert erzählen konnte wie zuvor.
Mit dieser Erkenntnis hatte er sich am nächsten Morgen fortgeschlichen, hatte sein Zeug aus dem Versteck geholt und war weitergelaufen, nach Südwesten.
Doch die roten Gewänder fühlten sich gut an, nicht wie die abgelegte Kleidung von fremden Leuten, die er gewohnt war und mit der man ihn hier und dort bezahlt hatte. Er fror nicht mehr darin. In die nächste Siedlung, diesmal ein größeres Dorf, das er am folgenden Abend erreichte und das bereits zum yarlmálon Grootplen gehörte, ging er mit gestärktem Mut. Ein gutmütiger Handwerker reparierte den wackeligen Spaten. Auf die neugierige Frage, warum denn ein báchorkor so ein Gerät mit sich herumtrug, hatte Galéon eine heitere Schelmengeschichte parat, die die Dorfleute zum Lachen brachte und von weiteren Fragen abhielt. Man lud ihn ein, mehr davon gegen eine Mahlzeit zu tauschen. Galéon nutzte die Gelegenheit, sich später nach Märchen aus der Gegend zu erkundigen. Es war eine Vorsehung der Mächte, dass er den kleinen Blumentopf bei sich trug, denn die schöne exotische Blume brachte die Rede ganz zwanglos auf besondere Pflanzen in der Gegend. Tatsächlich bekam er so, neben allerlei Schwänken und Gruselgeschichten, auch das Mysterium von den roten Blumen zu hören, die jeden Sommer auftauchten und sich Sense und Pflug widersetzten.
Am nächsten Abend hatte Galéon das Grenzgebiet zum yarlmálon Tjiergroen erreicht. Pataghíus sinkender Glanz tauchte die Traumrautenblüten in blutroten Schimmer.
Du hast dir Zeit gelassen, sagte das Traumphantom.
„Ich war zu Fuß.”
Du solltest dir ein Pferd beschaffen.
„Was soll denn ein báchorkor mit einem Pferd? Das würde mir doch nur gestohlen. Soll ich Wegelagern einen Grund geben, mich auszurauben?”
Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde einen Lichtwächter ausrauben.
„Es reicht, wenn es ein Trottel versucht.”
Das Traumphantom seufzte, als sähe es einer langen, anstrengenden Zeit entgegen. Dann beeile dich. Fang an, zu graben.
Der junge Mann stach gehorsam in den Boden. Den Umgang mit einem Spaten war er nicht gewohnt und die Arbeit wurde bald anstrengend, aber das Traumphantom beobachtete streng jeden seiner Handgriffe und vereitelte jeden Versuch, kurz innezuhalten. Galéon war schließlich schweißgebadet und der Sonnenuntergang längst dem milden kühlen Sternenlicht gewichen, als der Spaten auf etwas Hartes stieß und es zerbrach.
Die Knochen kannst du lassen, wo sie sind, sagte das Phantom unbeeindruckt. Die Grabbeigaben sind es, die dir zustehen. Hol sie hervor.
Der báchorkor wühlte vorsichtig mit den Händen weiter, schauderte vor dem menschlichen Gerippe, das er ertastete. Ein verrottetes Bündel fand er, darin einen gut erhaltenen Geldbeutel, der einige goldene Münzen enthielt. Den steckte er ein. Und dann, als Nächstes …
Danach hast du gesucht. Nimm es und komm aus dem Loch heraus. Du hast nicht die ganze Nacht Zeit.
„Ist das …”
Ja. Das hat das Licht selbst uns gegeben und gelassen, damit wir es in seinem Sinne führen. Nun ist es deines.
„Kann ich es gefahrlos berühren?”
Du hast es dir selbst gewählt, damals, an jenem Tag, als dein Dorf brannte und ich dich aus den Flammen trug. Du hast es berührt, damals. Erinnere dich!
Galéon tastete danach. Seine Fingerspitze berührte es. Und zugleich zuckte in seinem Geist ein Bild auf, das die Zeit lange gnädig verdeckt hatte und das danach in seinen Träumen immer wieder aufgetaucht war, mit jedem Mal etwas weniger verwischt.
Da stand er, er roch das Stroh in der Scheune und die Flammen, das knisternde Holz, die schreienden Menschen, Kampfeslärm rasender Bewaffneter gegen wehrlose, überraschte Bauern, die ihnen nichts entgegensetzen konnten. Da stand er, klein, mager, verängstigt, und blickte zu dem fremden Erwachsenen auf, der da vor ihm stand. Ein junger rothaariger Mann, der ihn gleich erschlagen würde. Nicht aus Grausamkeit, nicht aus Mordlust, das hatte er, keine vier Sommer alt, in diesem Moment verstanden. Dieser junge Mann mit dem roten Blut fremder Leute auf seinen roten Gewändern, der würde ihn jetzt erschlagen, den kleinen Jungen, der in dem Gemetzel dort draußen gerade Vater und Mutter verlor, weil er Mitleid hatte. Es würde schnell vorbei sein. Und noch bevor der kleine Junge von damals begriff, wie ihm geschah, war die schimmernde, blauschwarze Klinge auf ihn niedergefahren, bis eine Fingerbreite vor seinem Hals. Eine Kinderfingerbreite.
Ja. Er hatte sie berührt, die Klinge, vor ungezählten Wintern, an jenem schrecklichen Tag. Er hatte sich seinen Meister erwählt, ohne es zu wissen, und vielleicht hatte er damals damit den Seelenfunken des fremden, zwischen Schmerz, Schuld und Wahnsinn gefangenen Rotgewandeten vor etwas Schrecklichem beschützt.
Das Licht, sagte das Traumphantom eindringlich, hat dich dazu bestimmt. In einer anderen Zeit, unter anderen Umständen, wäre es einfacher gewesen. Nimm es an, Galéon. Mach das richtig, was mir misslungen ist.
Galéon griff zu, aber diesmal zitterten seine Finger.
Spute dich. Es will zu dir. Du bist sein Meister. Du wirst es führen. Mach schon!
Der báchorkor atmete ein und griff zu.
Pure, makellose Magie strömte in seine Adern, nicht schmerzhaft und heftig wie ein Blitz. Mehr wie ein Strom, eine Flüssigkeit, wie ein Rausch, der ihn zugleich betäubte und euphorisch machte. Galéon kletterte aus der Grube heraus, zog es dann zaghaft aus der erdverkrusteten Scheide und betrachtete es ehrfürchtig im Sternenglanz. Es schimmerte wieder, blauschwarz wie der Panzer eines Stechkäfers.
„Ich … werde es niemals so meisterhaft führen können wie du”, wisperte er.
Du wirst hoffentlich nicht in die Verlegenheit kommen, damit fechten zu müssen. Dazu ist es nicht gedacht. Damit verspottest du es nur. Es ist ein mächtiges Werkzeug, keine Waffe. Das Traumphantom klang weniger spöttisch als erwartet. Es klang … erwartungsvoll. Und vielleicht sogar ein bisschen gerührt. Du wirst wissen, was damit zu tun ist. Meister Galéon.
„Ich will es führen, wie du es tun wolltest“, raunte Galéon, schier überwältigt von dem Geschenk, das er da gerade erhalten hatte. Tränen rannen ihm über die Wangen.
Nein, sagte das Traumphantom sanft. Du wirst es führen, so wie es dir bestimmt ist. So, wie das Licht es dir aufträgt. In Ehre, in Würde, in Güte und Gnade. So, wie es kommt. So, wie es sein soll. — Und nun leg es beiseite und mach das Loch wieder zu. Es ist nicht gut, wenn ein Siegel zu lange gestört ist.
Galéon legte das Schwert beiseite, griff nach dem Spaten und schloss das Grab. Achtsam deckte er es am Ende mit den Soden mit den roten Traumrauten ab, die er achtsam ausgestochen hatte.
Nur zur Vorsicht setzte er die weiße Mondblume mitten dazwischen. Was hier ruhte, hatte den Schutz der Schattensänger nötiger als er.
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