
Ich konnte im Nachhinein nicht sagen, wie ich aus Gor Lucegaths Turm hinaus und wieder in die Burg hinein gekommen war. Ich war verstört, nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Meine eigene kleine Stube, die ich in den letzten Wochen mehr und mehr als Gefängnis empfunden hatte, erschien mir nun wie eine rettende Zuflucht. Ich wollte nur hinein und die Tür hinter mir verschließen. Vielleicht schaffte ich es sogar, die große Truhe davor zu schieben.
Im großen Saal war Licht. Auf den Stufen des Podiums, wo der Thron der teiranda stand, hatte jemand Kerzen aufgestellt. Ich huschte die Treppe zur Galerie auf und lief dort hinüber zu den Stiegen, die zu den Gemächern hinauf führten. Dabei warf ich einen Blick hinab und sah – ohne mich in diesem Moment darüber zu wundern, es war mir einfach egal, was die drei dort trieben – Altabete, Moréaval und Grootplen vor dem leeren Thron knien. Jeder hatte sein Schwert vor sich auf den Boden gelegt und schien ganz in Gedanken in sich versunken zu sein. Moréaval war klatschnass und alle drei wirkten derangiert und schmutzig.
Die Szene, die Art, wie die drei Männer dort bewegungslos im Kerzenschein kauerten, hatte etwas Verstörendes. Ich war mir nicht sicher, ob es sich um eine Art Andacht vor dem leeren Thron handelte oder um ein Ritual, mit dem sie irgendetwas beschwören wollten.
Aber darüber dachte ich erst nach, als ich wieder in meinen vier Wänden war. Ich stellte die Laterne neben die halb zusammengefügte Geige, schloss den Fensterladen und hatte den Sessel schon halb vor die Tür gezogen, bevor mir einfiel, wie sinnlos das war, da die Tür sich nach außen öffnete.
Ich ließ mich auf den Boden sinken, lehnte mich gegen das Holz und vergrub das Gesicht in den Händen.
Ich war ihm entkommen. Ich lebte noch.
Und ich hatte mein Vorhaben nicht zu Ende gebracht. Dafür saß ich jetzt hier und war verstörter als je zuvor.
Gor Lucegaths Präsenz war furchtbar, und das Beunruhigende daran war, wie nahe ich mich ihm für einen Moment gefühlt hatte. Das war verwirrend. Und dabei hatte ich noch nicht einmal damit angefangen, darüber nachzudenken was er mir da gerade aus eigenen Stücken für private Dinge erzählt hatte.
Aus eigenen Stücken? Aus Kalkül? Hatte er überhaupt die Wahrheit gesagt?
Sicher. Wenn der Rotgewandete etwas nicht war, dann ein Lügner. Aber wie passte diese tragische, makabre Liebesgeschichte mit ihm zusammen?
Arámaú! Ich schrak auf und rappelte mich hoch. Wo war sie?
Natürlich hatte sie zwischenzeitlich das Zimmer verlassen. Warum hätte sie auch warten sollen? Immerhin war ich es gewesen, die sich wider alle Warnungen auf den Weg in die Gefahr begeben hatte. Sie hatte allen Grund, wütend auf mich zu sein. Sicherlich war auch ich nur wieder entkommen, weil Meister Gor mit mir spielte.
Aber ich musste sie dringend warnen! Es war offensichtlich, dass der Rotgewandete zumindest vermutete, dass irgendetwas an Katzen in dieser Burg verdächtig war. Aber wann war ihm dieser Verdacht gekommen? Immerhin hielt Arámaú sich seit Jahrzehnten hier versteckt.
Sollte ich noch einmal losgehen und sie suchen? Meister Gors Drohung war deutlich gewesen. Ihn nun zu provozieren, keine Stunde nach seiner eindringlichen Warnung, wäre nicht nur dumm von mir gewesen, sondern auch – ich stutzte bei diesem Gedanken – respektlos.
Die Geige! Was war nur in mich gefahren, dass ich das so mühselig zusammengeflickte Instrument offen hatte auf dem Tisch liegen lassen! Jederzeit hätte jemand das Zimmer betreten und sie entdecken können!
Ich sprang auf, raffte die Einzelteile zusammen und legte alles hastig in die Truhe. Dann legte ich sicherheitshalber noch eines meiner Kleider darauf. Und eine der Bettdecken. Und räumte alles wieder weg, da es mir doch wieder zu auffällig erschien.
Der Krug, den man mir zum Abendessen gebracht hatte, war noch da. Es war ein trockener Wein darin. Ohne nachzudenken, schenkte ich mir meinen Becher ein und trank, viel zu hastig und ganz gegen meine Gewohnheit. Vielleicht konnte mich das ein klein wenig beruhigen.
Anderthalb Becher später lag ich auf dem Bett und hatte mich zumindest soweit wieder beruhigt, dass ich nicht mehr hektisch umher rannte. Ich hatte mich zusammengerollt, den halbvollen Tonkelch in der Hand und starrte ins Leere, bis meine Laterne erlosch, weil ihr das Öl ausging.
Die Dunkelheit machte es nicht besser. Meine Gedanken kreisten wild umher, um den Rotgewandeten, das Deckenbild mit der goala’ayra, die von den einstigen Bewohnern der Burg verehrt worden war, um mein Schicksal, das sich dadurch ankündigte, dass ich Wein schmecken und das wirkliche Gesicht der yarlay sehen konnte, und um den Umstand, dass Meister Gor einmal verliebt gewesen war. Und dass ausgerechnet ein Schattensänger es ihm verdorben hatte, was auch immer für eine fürchterliche Geschichte hinter alledem stecken mochte.
Ich starrte ins Dunkle, und ob es der schnell herunter gestürzte Alkohol oder die Nachwirkungen meines verbotenen Ausflugs waren, ich spürte mit noch mehr Gewalt als zuvor, wie sehr ich Yalomiro vermisste.
„Bitte”, hörte ich mich selbst wispern, „bitte, Yalomiro, komm zurück. Bitte hol mich hier heraus!”
Vielleicht wäre es ja ganz einfach. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, Gor Lucegath und seinen finsteren Plänen zu entkommen. Womöglich konnte Yalomiro noch einmal einen letzten Zauber wirken und ganz einfach mit in meine Welt kommen. Dort wäre er sicher. Dort wären wir sicher. Zumindest glaubte ich das.
Meine Welt … wie lange hatte ich nicht mehr an die Wirklichkeit zurückgedacht, aus der es mich hierher verschlagen hatte. Wie seltsam, dass es mir gerade nun einfiel.
Ich starrte an die Decke und versuchte, mich zu erinnern.
Sicherlich vermisste man mich schon in meiner Welt. Zumindest in der Uni dürfte es aufgefallen sein, dass ich seit Wochen Vorlesungen und Seminare schwänzte. Wahrscheinlich quoll auch schon längst mein Briefkasten über. Zum Glück hatte ich damals, als ich in den Keller ging, weder Herd noch Wasser angestellt. Meine beiden kümmerlichen Zimmerpflanzen waren sicher längst vertrocknet. Aber was machte das schon. Wenn Yalomiro Macht über Pflanzen hatte, dann würde er sicher auch die Grünlilie und den Bogenhanf wieder zum Leben erwecken können.
Ob man nach mir suchte? Nun, wenn mich irgendjemand vermisste, und sei es der Hausmeister, weil ich die Flurwoche versäumte, war bestimmt schon jemand in der Wohnung gewesen. Vielleicht suchte sogar die Polizei nach Hinweisen für mein Verschwinden.
Ich überlegte kurz, ob sie beim Durchsuchen meiner Sachen nach Hinweisen auf irgendetwas Peinliches stoßen konnten und fragte mich im selben Moment, was in mich gefahren war. Hier war eine Welt in Gefahr, und ich sorgte mich um meinen Browserverlauf? Was würden sie denken, wenn sich herausstellte, dass ich bei meiner letzten Online-Sitzung in den Tiefen von Paranormalem, Mystery und Spuk vorgedrungen war? Was für eine Steilvorlage für die True-Crime-Community, die vielleicht einmal auf meinen Fall aufmerksam würde!
Ob meine Mutter, meine Restfamilie, die Leute, die ich kannte, zumindest ein bisschen betroffen wären, wenn ich einfach nicht mehr da wäre?
Ich tastete unter mein Kopfkissen. Dort hatte ich den zerbrochenen Geigenbogen versteckt, was tatsächlich nur möglich war, weil er zerbrochen war. Abwesend ließ ich meine Finger durch das schwarzglänzende Pferdehaar gleiten, das Einzige, was ich von Yalomiro bei mir behalten hatte.
Ich weinte still vor mich hin und steigerte mich in eine Wunschvorstellung hinein. Ich träumte, mit Yalomiro durch eine Tür zu gehen, hinein in meine Wohnung. In Sicherheit.
Was würde ich dort machen? Was würde geschehen, wenn der Schattensänger mit in meine Welt ging, um sich vor dem sicheren Tod durch seinen ärgsten Feind zu retten?
Vermutlich würde mir zunächst nichts Besseres einfallen, als Yalomiro einen Kaffee anzubieten. Tranken Schattensänger Kaffee? Trank Yalomiro überhaupt jemals etwas?
Du meine Güte, was war los mit mir? Und was war das für ein Geräusch?
Ich schüttelte meine wirren Gedanken ab und horchte. Da war ein Kratzen. Ein unablässiges Kratzen. Draußen am Fensterladen! Ich stellte den Weinbecher auf den Boden und stand auf, tastete mich durch die Finsternis zum Fenster. Und horchte.
Lass mich rein!
Ich zuckte erschrocken zurück, so laut brüllte es in meinen Gedanken.
„Arámaú!” Mit zitternden Händen entriegelte ich die Holzläden und schob die eine Seite auf. Etwas Pelziges huschte hinein und sprang mit weichen Pfoten zu Boden. Ihre Augen schimmerten silbrig.
Mach Licht!
„Ich kann nicht. Die Laterne … das Öl ist leer.”
Sie seufzte. Was ist mit dir? Deine Gedanken fühlen sich grotesk an.
„Möglicherweise bin ich ein klein wenig betrunken.” Ich schämte mich.
Dann leg dich besser hin. Was wir zu bereden haben, geht auch im Dunklen. Bei den Mächten, kann man dich denn nicht allein lassen?
Ich stieß den Fensterladen zu und suchte die Matratze. Tatsächlich war ich erleichtert, wieder zu liegen. Ich spürte, wie sie aufs Bett sprang.
„Arámaú! Du … du bist in Gefahr.”
Was du nicht sagst.
„Meister Gor … ich glaube, er hat einen Verdacht, dass eine Katze…”
Ich weiß.
„Er sagt … du weißt?”
Sie gab ein beschwichtigendes Schnurren von sich. Ja, ich weiß. Ich habe meine Tarnung viel zu sehr aufdecken müssen, seit wir uns begegnet sind. Und genau deswegen bin ich gekommen. Um mich von dir zu verabschieden.
Das fuhr mir eiskalt durch die Glieder. „Verabschieden?”
Es ist zu unser aller Besten, Ujora. Aber keine Angst, ich werde nicht weit fortgehen. Ich verlasse die Burg und streune durch die Ebene, bis Yalomiro wieder zu uns stößt. Es wird langsam zu gefährlich, hier zu sein.
„Ich verstehe”, antwortete ich tonlos und hoffte, dass ich träumte.
Wirst du es ein paar Tage noch ertragen, hier zu sein und dich nicht noch einmal mit dem Rotgewandeten messen zu wollen?
„Ich wollte mich nicht mit ihm messen! Wie kommst du … ach… ach Arámaú…”
Ich konnte nicht anders. Ich griff zu ihr hinüber und wollte sie streicheln, aber sie wich mir aus.
Vorsicht, Ujora! Ich bin kein Schoßtierchen!
Wie konnte ich mich so gehen lassen! „Entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.”
Ich habe ein Abschiedsgeschenk für dich. Etwas schabte über die Bettdecke in meine Richtung. Sie schob es mit der Pfote auf mich zu. Ich langte danach.
Holz. Scharfkantiges, unregelmäßig geformtes Holz.
Elektrisiert fuhr ich hoch. Mein schwindeliger Kopf protestierte, aber ich war mit einem Mal hellwach. „Ist das …”
Wenn du mir vorhin einen Moment länger Zeit gegeben hättest … ja. Ist es.
„Aber … wann hast du es geholt? Wie hast du es gefunden?”
Das tut nichts zur Sache. Du hast ihn lange genug abgelenkt. Wichtig ist, dass der Rotgewandete nicht dich verdächtigen wird, sobald er feststellt, dass es aus seinem Versteck verschwunden ist
„Wo hast du es hergeholt? Wo war es denn?”
Unten im Turm natürlich. Im ehemaligen Verlies. Dort, wo all der alte Krempel herumliegt, den niemand wiederfinden soll und will.
Ich legte mich sachte wieder hin. Wenn ich sofort die Treppe hinunter gegangen wäre, hätte ich mir also viel Ärger erspart. Was für eine Ironie!
Wichtig ist, dass du die Geige vorerst nicht zusammensetzt.
„Warum nicht?”
Bei den Mächten, stell nun keine dummen Fragen. Ich bleibe dabei, wenn du aus einer Sentimentalität heraus das Werkzeug reparieren willst, mach es meinetwegen. Aber wenn du es jetzt tust, wird der Rotgewandete es mit größtem Vergnügen wieder zerstören oder, noch schlimmer, verderben. Solange er die Geige zerbrochen auffindet, wird es ihm egal sein.
„Und was soll ich tun?”
Du siehst zu, dass du die Scherbe sehr gut versteckst. An einen sicheren Ort, an dem der Rotgewandete sie nicht vermutet, Gleich morgen früh.
„Ich … ich versuche es.”
Gut. Mach es unauffällig, so dass niemand es bemerkt. Schließlich willst du nicht schuld daran sein, wenn Meister Gor versucht, aus irgendwelchen ahnungslosen Unkundigen herauszupressen, wo das verfluchte Ding ist.
Ich schwieg. Arámaú knurrte. Hast du das verstanden?
„Ja. Natürlich.”
Gut. Oh, Ujora, bei den Mächten, ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben und dich beschützen, wie ich es Yalomiro versprochen habe. Aber das hieße, im letzten Moment ein Risiko einzugehen, das es nicht wert ist. Ich habe in meinem Leben nur noch einen Wunsch, Ujora. Und das ist, zu sehen wie Yalomiro Lagoscyre Gor Lucegath besiegt. Um das Blut meines Kreises und den Schmerz zu rächen, und um unsere Geheimnisse zu bewahren.
„Arámaú… Meister Gor hat mir eine Geschichte erzählt …”
Ich weiß. Du musst nicht weiter reden. Er hat dich gebeten, es niemandem weiterzuerzählen also tu es nicht. Ich hab es gehört.
„Gehört?”
Ich war dir dicht auf den Fersen und habe gehorcht. Ich wollte wissen, was ihr so lange zu bereden habt. Denkst du ernsthaft, ich hätte dich in dein Verderben laufen lassen? Wenn er dich angetastet hätte, ich wäre ihm ins Gesicht gesprungen und hätte ihm seine dumme Maske heruntergekratzt.
Du meine Güte. Und ich hatte gedacht, sie habe sich beleidigt verzogen. Wie sehr ich mich schämte.
Spätestens mit dem, was ich gerade getan habe, habe ich mich so nahe an ihn herangewagt, dass ich nun nichts mehr ausrichten kann.
Die Scherbe in meiner Hand wurde plötzlich sehr schwer. Mir wurde bewusst, was Arámaú für mich riskiert hatte
„Ist es denn möglich, dass … ein Schattensänger ihm Unrecht getan hat?”
Ja. Das ist denkbar. Wenn Gor Lucegath in den Zeiten der Chaoskriege ein junger Mann war, ist er möglicherweise … einem begegnet.
„Dem Kerl, der die Stadt der Regenbogenritter angegriffen hat?”
Ovidáol Etaímalar? Nein. Einem anderen, von dem wir nicht reden, dem meinesgleichen sogar seinen Namen genommen hat, um ihn auszustoßen. Mehr musst du nicht wissen. Und mehr werde ich dir nicht sagen. Nicht heute.
Ich schauderte. Arámaú kam näher. Ich spürte die Wärme von ihrem Fell ausstrahlen. Wie gerne hätte ich sie berührt!
Ich werde dir dafür etwas anderes erzählen, Ujora. Etwas, das dir vielleicht etwas Trost gibt. Du wolltest doch wissen, ob ich Yalomiro … geliebt habe, damals, bevor Gor Lucegath kam, nicht wahr?
„Ja”, sagte ich überrascht.
Warum war dir das so wichtig?
„Weil er dich nie vergessen hat. Und weil du sicher viel besser zu ihm passt als ich.”
Als Meister Gíonar mich in den Boscargén holte, Ujora, war ich ein ganz kleines Mädchen von fünf oder sechs Sommern. Das ist das Alter, in dem die Magie gewöhnlich erwacht. Ich weiß nicht, wer ich vor dieser Zeit war und wer meine leiblichen Eltern sind. Diese Erinnerungen erlöschen in dem Moment, in dem wir im Etaímalon vor den Großmeister oder die Großmeisterin treten. Aber bis dahin war ich ein kleines, verängstigtes, weinendes Ding, das von einem großen, gestrengen Mann in schwarzen Gewändern in den Schatten geführt wurde und an einem Ort wieder herauskam, an dem lauter ehrfurchtgebietende Fremde in schwarzen Roben auf einer mondbeschienenen Lichtung um ein ominöses Gebäude herumstanden. Mit einer unheilvoll offenstehenden Tür, die in die Schwärze führte wie ein alles verschlingendes Maul.
Ich wusste nicht, was mich erwartete. Meister Gíonar, möge er hinter den Träumen seinen Frieden haben, hatte zwar sein Bestes gegeben, mich zu beruhigen und mir zu erklären, dass ich von der Dunkelheit auserwählt sei. Dass mir eine große Ehre zuteilwürde. Dass ich Wissen und Fähigkeiten jenseits meiner Vorstellungskraft empfangen würde. Natürlich habe ich kein Wort von dem verstanden, was er mir da schmackhaft machen wollte. Ich war ein kleines Kind!
Die camat’ay waren freundlich und hatten so viele gütige Worte für mich. Aber ich sträubte mich. Keine Macht der Welt hätte mich dazu bewegen können, den Etaímalon freiwillig zu betreten. Kannst du dir das vorstellen? Da standen all diese mächtigen Magier ratlos im Kreis und warteten darauf, dass ich in die Halle zum Meister gehe. Aber schon damals war es mit meiner Tapferkeit nicht weither. Ich habe geschrien und geheult und mich derart gesträubt, dass sie es nur für ein böses Vorzeichen halten konnten. Meister Gíonar war in Nöten, denn sein Ruf als Meister stand auf dem Spiel. Wenn er gekonnt hätte, hätte er mich wahrscheinlich am liebsten gepackt und einfach zu Meister Askýn hineingetragen, aber das durfte er natürlich nicht. Noktáma will, dass wir freiwillig in ihr Heiligtum kommen und sie nicht fürchten. Für mich in meinem Kindertrotz stand fest: Ich wollte nicht zu diesen schwarzgekleideten Leuten gehören. Ich hatte Angst. Angst, Angst, Angst. Mein Leben lang hatte ich Angst.
Ich hatte ihr aufmerksam zugehört. Ich versuchte mir wieder vorzustellen, dass die camat’ay kleine Kinder entführt hatten. Oder dass Eltern sie aus freien Stücken hergaben. Beides fand ich gleichermaßen entsetzlich. Und ich konnte so gut nachfühlen, was Arámaú damals ausgestanden hatte. „Und dann?”
Dann war da plötzlich dieser ältere Junge, sagte sie. In ihrer Stimme veränderte sich etwas. Sie klang plötzlich sanfter. Emotionaler. Ein Junge in einem einfachen schwarzen Hemd. Er hatte sich das Ganze eine Weile angeschaut und trat dann plötzlich aus dem Kreis unter den erwachsenen camat’ay hervor. Meister Gíonar wollte ihn zurückhalten, aber der Junge beachtete ihn gar nicht. Die anderen camat’ay versuchten es gar nicht erst. Ich glaube, sie waren gespannt, was passieren würde. Der Junge setzte sich zu mir auf den Boden. Und dann hat er gezaubert. Eine wunderschöne Blume aus funkelndem Licht hat er beschworen. Gesagt hat er nichts. Und ich habe gestaunt. Vor lauter Staunen habe ich zuerst aufgehört, zu weinen. Und dann hörte ich auf, Angst zu haben.
Sie schwieg eine Weile, als riefe sie sich diese Erinnerungen wieder vor Augen. Ich versuchte, es mir vorzustellen. Zarte Lichtzaubereien hatte ich in der Nacht schon mehrfach selbst gesehen.
Am Ende, fuhr sie fort, hatte er mich, ganz ohne Worte, nur durch seine Gegenwart davon überzeugt, dass ich im Boscargén in Sicherheit sein würde. Das die camat’ay freundlich seien, dass man mit Magie unglaublich viel Spaß haben konnte. Und dass er, wenn ich es wollte, mich in das Heiligtum zum Großmeister begleiten würde. Dass er mich bei der Hand nahm und wir gemeinsam hineingingen, verstieß gegen sämtliche ehrwürdigen Rituale, und Meister Gíonar hat ihm seinen Vorwitz vermutlich nie verziehen. Aber ich weiß heute, dass alle camat’ay, auch er, sehr beeindruckt davon waren, wie Yalomiro Lagoscyre es fertig gebracht hat, ein trotziges, panisches Heulkind zu bändigen, mit einer kleinen kindischen Zauberei.
Das, Ujora, das ist Yalomiro immer für mich gewesen. Derjenige, der mich im entsetzlichsten Moment meines Lebens an die Hand genommen hat. An dessen Seite ich niemals Angst haben musste, bis zu dem Tag, an dem Gor Lucegath unsere Domäne betrat und ihn besiegte. Keine Begierde, kein Verlangen, so wie du es dir vielleicht vorstellst, Ujora, nichts was möglicherweise für dich eine Bedeutung hat. Ich bin Yalomiros Seele tief verbunden, aber auf eine ganz andere Art als du.
„Geborgenheit”, sagte ich leise.
Ich weiß nicht, was er für mich empfunden haben mag. Wir haben zueinander niemals darüber geredet. Schattensänger müssen nicht reden. Aber … es war mir wichtig, dass du diese Geschichte kennst, um zu verstehen. Mehr gibt es nicht zu sagen.
Ich hätte mich damit zufriedengeben sollen. Aber ich wollte mehr wissen.
„Arámaú … wenn die Schattensänger so freundlich sind, warum hattest du so viel Angst? Was … was geschieht mit euch, wenn ihr in den Etaímalon vor den Großmeister tretet?”
Wir legen unsere Vergangenheit, unsere Erinnerungen und unsere Herkunft ab. Wir treten in Noktámas Dienst wie neu geboren in ihrem Heiligtum. Der Großmeister nimmt all das von uns fort.
Sicherlich konnte ich mir kein Urteil darüber erlauben. Aber das klang in meinen Ohren so unglaublich … falsch. So grausam und übergriffig, und … und ich ahnte.
„Arámaú”, wisperte ich. „Was tut der Großmeister, wenn er … Liebe in eurer Seele findet?”
Er trennt sie heraus.
„Heraustrennen?”
Liebe … menschliche Liebe ist gefährlich. Liebe und Magie, Ujora, bringen immer den Tod. Oder den Wahnsinn. Alle camata’ay haben zu ihrem eigenen Schutz diese Lücke, dieses Loch in ihrer Seele. Auch ich.
„Aber … Yalomiro …”
Sie tapste sie zu mir hinüber und rollte sich an meiner Brust zusammen. Schlaf, Ujora. Hab keine Angst. Der Schatten hält die Hand über dich. Wir lassen dich nicht allein.
Ich musste an mich halten, um nicht erneut zu versuchen, sie zu streicheln. Stattdessen umschloss ich die Scherbe mit der Hand und schmiegte mein Gesicht an den Geigenbogen. Und Arámaú begann, magisch zu schnurren, bis mir die Gedanken wegdrifteten.
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