Die vergangenen Nächte hatten bewegte See gebracht. Kelwa hatte Isan am Morgen berichtet, dass die Strömung große Mengen Sturmalgen in Richtung des Strandes schwemmte. Egnar sei am Mittag mit seinem Fischerboot in einem großen Teppich des frei treibenden Krautes hängen geblieben.

Das war eine treffliche Gelegenheit. Sturmalgen wuchsen in den wärmeren Gewässern im Osten, und wenn das Meer eine Menge davon hier in den Norden brachte, dann konnte man nicht anders als zugreifen. Getrocknet und zu Pulver zerstoßen, waren die Wasserpflanzen eine Zutat für Arzneien, mit der sich fast alles lindern ließ, von Halsschmerzen bis zu schlecht heilenden Wunden. Möglicherweise half es auch bei Knochenbrüchen. Jedenfalls konnte es nicht schaden, so viel davon einzusammeln wie möglich, bevor die Wellen es sich wieder zurückholten und ins Meer spülten.

Und so machte Isan sich zur zurückweichenden Flut mit einer Laterne, einer großen Kiepe und einem Rechen auf zum Strand zur Ernte. Eigentlich hätte Majék, dieser Faulpelz, ihr dabei helfen sollen. Aber sie hatte es nicht geschafft, ihn wachzurütteln.

Zum Glück war die Arbeit leicht und der Tragekorb füllte sich rasch. Die junge Frau bewegte sich fröhlich summend den Strand entlang, hörte dem immerwährenden Rauschen des Meeres zu und schaute ab und zu auf. Noktámas Juwel spiegelte sich und glitzerte auf den Wellen. Die wartenden Kutter draußen auf dem Wasser dümpelten vor sich hin. Zusammen mit Isans Licht war die Nacht tiefblau, ruhig und friedlich.

Isan gelangte zu den Ruderbötchen, die jenseits der Flutlinie auf dem Strand vor den Dünen lagen. Dort angelangt, machte sie eine Pause, stärkte sich an einem Schluck Bier aus ihrer Kalebasse und hing einen Moment ihren Gedanken nach. Einen Mond war es her, seit yarl Emberbey seinen leiblichen Sohn nach Virhavét in die Schule gegeben hatte und dafür dieser sonderbare Bengel aus Rodekliv eingetroffen war. Angeblich war der weitläufig mit dem alten yarl verwandt. Nun, sicher benötigte der Junge seine Zeit, um sich im yarlmálon einzuleben. In Rodekliv hatte er es sicher nicht leicht gehabt.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr, die sie ablenkte. Sie hob ihre Laterne, schaute hin und entdeckte zu ihrer Überraschung in etwa zwanzig Schritten Entfernung einen Mann, der auf einem der Boote saß und dem Meer zugewandt war. Er betrachtete etwas in seinen Händen und schien sie nicht bemerkt zu haben.

Isan runzelte die Stirn. Wer war das? Und wo war er so lautlos hergekommen?

„He!”, rief sie.

Unvermittelt warf die dunkle Gestalt das Ding zu Boden, erhob sich und ging gemessenen Schrittes fort, ohne Isan Beachtung zu schenken, aber nicht ohne mit einem Tritt zu zerstören, was immer er da gehabt hatte. Es zersprang mit einem trockenen Knacken. Isan schaute ihm verblüfft nach. Ein großer, schlanker Mann mit einem Hut und einem weiten schwarzen Mantel, dessen Rückenseite dezent glitzerte.

Isan ließ die Kiepe stehen und den Rechen fallen. Konnte das sein? War das etwa …

„Halt! Bleibt stehen!”

Sie packte die Laterne, eilte ihm nach und warf dabei einen flüchtigen Blick auf das zertretene Ding. Es schien ein Bötchen aus Rinde und einem vertrockneten Blättersegel zu sein, wie es Kinder zum Spielen benutzten. Dieses hier würde allerdings nirgendwo hin mehr fahren.

„He! Hallo! Bleibt stehen! Meister Yalomiro! So wartet doch!”

Nun reagierte er auf ihr Rufen und drehte sich zu ihr um. Sie wandte respektvoll den Blick von ihm ab. Aber ihr Herz klopfte vor Freude über die unerwartete Begegnung.

„Meister Yalomiro”, sprudelte sie hervor. „Was für eine Überraschung! Was führt Euch her? Wie geht es Meisterin Salghiára? Und was macht Eure Tochter? Oh, die anderen werden sich so freuen, dass Ihr uns besuchen kommt! Bleibt ihr lange? Braucht Ihr wieder ein Schiff?”

Der Schattensänger schwieg. Das war sonderbar. Isan stutzte. Dann wagte sie, vorsichtig aufzublicken, natürlich nicht bis in sein Gesicht. Sie konzentrierte sich stattdessen auf das Amulett, das er an einer Kette über der Brust trug. Etwas war falsch daran. Es … war aus Gold.

„Ihr seid nicht Meister Yalomiro”, wisperte sie.

„Nein”, sagte er. Seine Stimme jagte Isan ein seltsames Erschauern durch Mark und Bein. Sie war sonor, sanft, berückend. Wie schwarzer Samt.

„Aber … wer seid Ihr?”

„Mein Name“, sagte er spöttisch, „tut nichts zur Sache.”

Er verneigte sich, drehte sich um und ließ sie stehen. Und verschwand erneut im Schatten.