
Sie saßen schließlich zu dritt an der Grabenseite der Ostmauer, schauten auf die Enten, die auf dem Wasser schliefen, die Köpfe unter dem Flügel, und alle drei waren bereits ziemlich betrunken.
Immerhin war Andriér Altabete gerade noch rechtzeitig gekommen, um Jóndere Moréaval davon abzuhalten, in seinem desolaten Zustand und in vollem Rüstzeug ins Wasser zu gehen.
Nachdem er den verzweifelten jüngeren Ritter wieder auf den abschüssigen Ufervorsprung gezerrt, und dann nach langem vergeblichen Rufen jemanden gefunden hatte, der sich auf die Suche nach Daap Grootplen machte, hatte er eine Weile nur still dagesessen und den völlig aufgelösten jungen Mann beschwichtigend im Arm gewiegt wie ein kleines Kind. Die Fackel, die Altabete mitgebracht hatte, um außerhalb der Mauern besser sehen zu können, stak im matschigen Boden und knisterte vor sich hin.
Es hatte eine Weile gedauert, bis sich aus Moréavals unartikulierten Schluchzen herauskristallisierte, dass Gor Lucegath ihn mit seinem furchtbaren, unüberwindbaren Schwert herausgefordert und anschließend rätselhafte Andeutungen gemacht hatte, dass schon bald ein echtes Gefecht beginnen könnte. Der Tod der Kammermagd kurz zuvor hatte den yarl vollkommen aus der Bahn geworfen. Zweifellos war es der Rotgewandete gewesen, der das Mädchen zu dieser Verzweiflungstat getrieben hatte; sie alle hatten seine unheilvollen Drohungen gehört. Aber es war absolut unnötig, dass der junge Ritter sich, von seiner Angst berauscht, getrieben fühlen mochte, denselben Weg zu wählen. Und so saß Altabete hier, in der Nacht, im Schatten der Burg, bat still zu den Mächten, dass der Zusammenbruch den jungen Mann in seinen Armen so weit erschöpfen mochte, dass dessen Widerstand brach und er sich zurück in die Burg führen ließe.
Das war einen Augenblick lang peinlich gewesen, als Grootplen durch die winzige versteckte Tür zu ihnen gestoßen war. Der mynstir hatte in seiner Aufmerksamkeit eine Flasche starken Weinbrand mitgebracht. Das sollte Moréaval wohl noch schneller gefügig machen, aber am Ende hatten sie alle drei davon getrunken.
„Sollte denn die arme Dienerin unserer Herrin, möge sie hinter den Träumen glücklich sein, mehr Mut haben als ich?”, fragte Moréaval trübsinnig.
„Das hat nichts mit Mut zu tun”, sagte Grootplen und reichte ihm das Getränk. „Das war weibische Kopflosigkeit. Und außerdem kannst du dich in der Brühe nicht ersäufen. Ich hab’s doch mal gesehen. Du kannst schwimmen wie ein Fisch!”
„Deshalb hab ich mein Eisen angelegt”, beharrte Moréaval.
„Hätte trotzdem nichts gebracht. Der Kerl lässt dich nicht fort.”
„Vermutlich hätte er ‘ne Weile zugeschaut und dann den Graben leergezaubert.”
„Dann muss ich eben auch niederspringen.”
„Würde mich nicht wundern, wenn das durch irgendeine … Zauberei jetzt noch ginge”, sagte Altabete düster. „Nein, so lässt er uns nicht entkommen.”
Die drei schauten betrübt zu den Wasservögeln, die sie im Fackelschein gerade eben erkennen konnten. Sie waren einiges gewohnt von dem Magier, der sie alle in seinen Bann eingewoben hatte wie eine Spinne die Fliegen im Netz, an Fäden, gerade noch lang genug, damit sie ihren Dienst verrichten und ab und zu den Schein wahren konnten.
Aber er hatte noch nie sein Schwert gegen einen von ihnen gezogen.
„Was sollen wir tun?”, frage Moréaval. „Wenn es so ist, wie es klingt und man uns … die Herrin … angreift?”
„Aber wer sollte das denn wollen?”
„Weiß ich das denn? Er hat mich rundheraus gefragt, ob ich bereit wäre, zu töten. Sowas fragt er doch nicht ohne Grund!”
„Nein, natürlich nicht. Er weiß etwas, was wir nicht wissen.”
„Ja, und offenbar sollte es uns nicht allzu sehr überraschen, wenn es so weit ist.”
Eine Weile grübelten sie mit vom Alkohol schweren Gedanken weiter.
„Glaubt Ihr, er hat einen Krieg im Sinn?”, frage Moréaval.
Grootplen schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich. Dafür bräuchte er schon etwas mehr als uns drei traurige Gestalten und die paar Kerle hier, die wissen an welchem Ende man eine Pike anfasst. Nein, er weiß etwas anderes.”
„Althopian!”, murmelte Altabete.
„Was?”
„Bei den Mächten! Es ist so naheliegend! Hatte Waýreth nicht gefaselt, dass er uns retten wollte?”
„Er hat ziemlich viel blödes Zeug geredet, der betrunkene Narr.” Grootplen nahm Moréaval die Flasche wieder ab und prostete damit den Enten zu. „Auf die Ehre unseres guten Freundes aus dem Norden!”
„Ich meine es ernst. Was glaubt Ihr, warum er Althopian wieder hat laufen lassen?”
„Weil er einen Auftrag für ihn hatte. Einen, für den wir offensichtlich nicht gut genug waren.”
„Und wenn Althopian nun glaubt, er könne uns helfen? Das tun, was wir ursprünglich von ihm erbeten hatten?”
„Wie meinst du das?”
„So, wie ihr’s versteht. Wir sind traurige Gestalten. Aber Althopian – er denkt, er ist ein Held! Wenn er tatsächlich auf die Idee kommt, er könne es besiegen, das Monster …”
„Wenn er .. angreift…”, wisperte Moréaval.
Grootplen gab die Flasche an Altabete weiter. „Ihr meint, der Rotmantel will wissen …”
„Ja. Ob wir bereit wären, Althopian zu erschlagen.”
„Aber … könnte er uns dazu zwingen?”
Altabete trank und erhob sich. „Ich muss die teiranda sehen. Sofort.”
„Du bist betrunken!”
„Darauf kommt es auch nicht mehr an.”
„Und wenn sie schon schläft?”
Der yarl winkte ab und gab Grootplen die Flasche zurück. Dann stapfte er, nicht mehr ganz geradeaus, von dannen.
Moréaval zögerte einen Augenblick. Dann rappelte er sich auf, griff nach der Fackel und eilte den beiden tropfend hinterher.
***
Yalomiro spürte, wie sich die Strömung veränderte. Tief unter dem Wasser war etwas, in der Tiefe, Wirbel und Wogen, die Ausläufer der Chaos und seine Wurzel. Was war das für eine Kraft, die das Meer zu einer unüberwindlichen Wand auftürmte? Wie tief unten am Meeresboden war es? War es überhaupt? War da ein Boden? Oder bereits die Grenzen des Dunklen?
Nein. Keine Grenzen. Eine Grenze wäre etwas, das eine andere Seite hatte. Das hier war möglicherweise eher ein Ende. Ein Ende, das in ein Nichts hineinfloss, ein absolutes, unendliches Nichts, in dem nicht einmal mehr Zeit existierte.
Möglicherweise war es das Nichts, vor dem das Wasser sich entsetzte, in wilder Flucht hinauf brandete und doch zurückstürzen musste, in alle Ewigkeit, solange das Weltenspiel bestand.
Ob er der erste Schattensänger war, der dem Nichts, dem Ende, dem Was-auch-immer körperlich so nahe kam?
Und die Chaosgeister? Würden sie versuchen, ihn aufzuhalten?
Yalomiro ließ seine Gedanken mit der Strömung treiben und versuchte, seinen Körper zu ignorieren. Auf dem unbewegten Wasser einfach geradeaus zu schwimmen war nicht schwer gewesen, aber die Kälte war nach einer Weile schlimm geworden. Einen Augenblick lang war Yalomiro versucht gewesen zu probieren, ob er sich wohl in einen Fisch verwandeln konnte, aber das war ihm zu heikel gewesen. Wer wusste schon, was im Chaos mit ihm geschah, ob er es möglicherweise nicht in seinen eigenen Körper zurückschaffen würde.
Es fröstelte und strebte Atemzug um Atemzug dem tosenden, brodelnden Wassergebirge zu. Gegen den Strom anzuschwimmen wurde immer anstrengender. Schließlich war da auch Wasser über ihm, zunächst ein feiner Nebel aus Gischt, den das herab prasselnde Wasser aufstörte. Doch das Sprühwasser wurde immer stärker und dichter, erst zu einer Art Wasserfall, der aus immer größerem Hohen hinabstürzte, mischte sich mit festen, harten Tropfen wie unter einem unsagbar dichten Starkregen. Die Luft vermengte sich immer fester mit Wasser und verschlug ihm den Atem. Die Strömung griff nach seinen Gliedern und zog ihn ruckartig voran, ließ ihn wieder los. Wellen brachen über ihm zusammen und rissen ihn in die Tiefe, schleuderten ihn wieder empor in die Gischt.
Yalomiro schnappte nach Luft, aber es reichte kaum, um seine Lungen zu füllen. Das Meer vermengte sich mit dem Wind zu einer gleichförmigen Masse, Es war völlig belanglos, ob er über oder unter Wasser war.
Wäre da nicht der magische Leitfaden, der ihn mit dem ay’cha’ree verband, er wäre verloren gewesen. Er zappelte daran wie ein Fisch an einer Angelschnur, Ohne den schrecklichen Schutzbann, die auferlegte Unsterblichkeit, mit der Gor Lucegath ihn versehen hatte, wäre seine Reise längst zu Ende gewesen.
Es war nahe. Er spürte, dass das Artefakt da war und auf ihn wartete. Dass es lange genug versteckt gelegen hatte und die Zeit gekommen, dass es wieder zurück ins Weltenspiel geriet.
Yalomiro keuchte, spuckte Wasser und Blut und ächzte unter dem Druck, mit dem das Wasser ihn zu zerquetschen versuchte. Nur noch kurz … nur noch ein Stück …
Dann ertrug er es nicht mehr. Mit einem Seufzer ließ er seinen Körper, seinen Willen und seinen Geist los. Nur in seiner Seele glomm das Kostbarste, das Kräftigste seiner Magie, strahlend wie ein gleißendes Leuchtfeuer im Toben des Chaos und der Wesen in seinen Tiefen.
Ujora, dachte er und haschte danach. Ujora, bleib bei mir.
Dann wurde es finster, und Yalomiro Lagoscyre wurde eines mit dem Chaos.
Bring mich zum ay’cha’ree, war sein letzter Gedanke, Noktáma, hab Gnade mit dem letzten deiner Diener.
Hinterlasse einen Kommentar