
Dann ließ er meine Hand los. Ich keuchte auf und drückte die geschlossene Faust an meine Brust. Mir wurde schwindelig, als die Anspannung sich so unvermittelt löste.
Der Rotgewandete wartete, bis ich mich wieder etwas gefasst hatte.
„Du hast also Andriér Altabetes Gesicht gesehen und seine Stimme verstanden?”
Ich nickte. Sprechen konnte ich noch nicht.
„Sehr gut.” Er erhob sich und legte sein Werkzeug wieder sorgfältig zurück. Dann ging er hinüber zu einem der Regale und kam mit einer schlanken Kanne und zwei kristallenen Bechern zurück. Er schenkte ein und reichte mir einen davon.
„Trink”, bat er. „Keine Angst. Es ist nichts weiter als ganz gewöhnlicher Wein. Sie lagern ihn hier unten im Keller, und ich weiß, dass du ihn zwischenzeitlich schmecken kannst.”
Ich schaute zu ihm auf.
„Ich kann … ich möchte lieber nicht.”
Er lächelte müde.
„Ich würde es sehr schätzen, wenn du es annimmst, wenn du dir schon die Mühe gemacht hast, mich hier zu besuchen, Ujora. Sieh mir nach, dass ich deine Neugierde nicht ungetadelt lassen konnte.”
Er trank selbst. Ich zögerte kurz. Verärgern wollte ich ihn nicht, also und tat es ihm nach. Es war in der Tat Rotwein, ohne ungewöhnlichen Geschmack.
„Es ist also nun so weit, dass ich dich nicht mehr mit Kleinigkeiten irreführen kann.” Seine hellen Augen unter der Maske musterten mich nachdenklich. Ich saß vor ihm wie das Kaninchen vor der Schlange und wusste beim besten Willen nicht zu sagen, was in ihm vorging. Es dauerte eine Weile, bis er wieder redete.
„Ich hätte dir keine Schmerzen zugefügt, Ujora. Noch nicht. Ich habe Yalomiro Lagoscyre mein Ehrenwort gegeben, dich zu schonen, bis er wieder hier ist, ohne mich zu betrügen. Aber so, wie es aussieht, wird es keinen Unterschied mehr machen, ob er mich oder dich verrät oder einfach nur zu viel Zeit verliert. Du bist dabei, ein Teil von Pianmurít zu werden.”
„Das will ich nicht!”
„Es ist keine Frage des Wollens. Es ist selten eine Frage des Wollens, sondern des Werdens.”
Ich stand rasch auf. „Ich gehe nun wohl besser … wenn Ihr erlaubt.”
„Ich halte dich nicht auf. Aber es ist schade, dass du es so eilig hast, wieder zu verschwinden, nachdem dich so viel Hoffnung zu mir getrieben hat.”
„Aber ich hatte mich doch offensichtlich geirrt.”
„Nein, das hast du nicht. Ich weiß, wonach du suchst. Und ich habe einen guten Grund dafür, dass ich es dir nicht überlassen werde. Lass uns bitte darüber schweigen. Und glaube mir, dass es zu deinem und letztlich auch zum Besten des Schattensängers ist.”
Er trank. Ich wartete verunsichert. Irgendetwas an ihm war anders als sonst. Aber ich konnte es zunächst nicht benennen.
„Was ist Eurer Meinung nach unser Bestes?”
„Dein Bestes wäre gewesen, wenn du niemals diesen verfluchten Schlüssel an dich genommen hättest. Sein Bestes wäre gewesen, mir das Artefakt zu überlassen. Euer beider Bestes wäre gewesen, wenn ihr euch nie aufeinander eingelassen hättet. Aber es ist nun einmal geschehen.”
Er warf einen abwesenden Blick auf sein goldenes Folterbesteck und schloss die Schatulle wieder. „Und was mein Bestes gewesen wäre, das steht hier nicht zur Debatte. In wenigen Tagen wird es ausgestanden sein.”
Ich zögerte. Wie er da so an den Tisch gelehnt stand und müde an seinen Becher nippte, wirkte er sonderbar. Ich spürte eine seltsame Art von Nähe zu ihm, äußerst irritierend war das. Aber irgendetwas – Intuition oder schlicht Dummheit – sagte mir, dass es falsch wäre, nun einfach unverrichteter Dinge wieder zu gehen.
„Benutzt Ihr das häufig?”, fragte ich scheu mit Blick auf den Kasten.
„Nicht mehr.”
„Und warum steht es dann mitten auf dem Tisch?”
Er wirkte erheitert. „Weil ich wusste, dass du hineinschauen würdest.”
„Ihr habt also geahnt, dass ich kommen würde?”
„Sagen wir, ich habe fest damit gerechnet.”
„Nehmt Ihr es mir übel?”
„Nein.”
„Und nun? Seid ihr zufrieden?”
„Ujora, ich glaube, ich muss dich das tatsächlich fragen. Hast du irgendeine Ahnung, wer meinesgleichen ist? Was wir getan haben? Wozu wir geworden sind?”
„Nur insoweit, wie Yalomiro mir berichtet hat. Davon, dass euresgleichen das ay’cha’ree geschaffen hat und daraufhin ein großer Krieg ausbrach.”
„Das, Ujora, ist im Kern richtig, aber eine stark verkürzte Darstellung. Magst du von mir nun den Rest der Geschichte hören? Und vielleicht die eine oder andere Pointe, die Yalomiro Lagoscyre dir sicher aus gutem Grund vorenthalten hat?”
Wollte ich das? Es war mir nicht geheuer. Vielleicht hatte ich auch Angst davor, Dinge zu erfahren, ohne die ich bislang gut zurechtgekommen war.
„Ich kann dich nicht zwingen”, sagte er. „Aber … nun, ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich so etwas einmal sagen würde, und schon gar nicht zu einem unkundigen Menschen. Aber ich glaube, es würde mit etwas bedeuten, wenn du nicht vor mir wegläufst.”
„Und wenn ich Angst vor Eurer Geschichte habe?”
„Dazu besteht kein Grund. Niemand muss Angst vor Geschichten haben. Erinnerungen, Ujora, sind da schon viel gefährlicher. Aber all diese Dinge sind in der Vergangenheit versunken und liegen lediglich in meinem Herzen wie einst wertvolles, jetzt nutzloses Gerümpel. Bist du bereit?”
Blieb mir etwas anderes übrig? Ich seufzte und nickte.
Er stellte seinen Becher ab.
Im nächsten Augenblick hatte er mich gepackt, energisch, aber nicht unsanft, und rücklings auf den Tisch geschoben.
„Schau!”, forderte er mich auf und deutete nach oben. „Schau dir das an.”
Ich war so erschrocken und starr, dass ich gar nicht auf die Idee kam, mich zu wehren und auszuweichen, als er mich losließ. Das Licht diffundierte und leuchtete nun einen größeren Bereich der Zimmerdecke aus. Dort war ein großes, halb verblasstes Fresko angebracht, doch die Farben wurden vor meinen Augen wieder etwas satter und deutlicher. Fasziniert schaute ich hin.
Es war eine Szene mit vielen Figuren, dem Stil nach wesentlich älter als die Abbilder von Kíaná von Wijdlants Vorfahren unten in der Halle oder das Monumentalgemälde in Valvivant. Aber die Darstellung erinnerte mich an das Wandbild, das ich in meiner Kammer dort gesehen hatte. Gramgebeugte, verzweifelte Menschen, die weinend und wehklagend über Toten am Boden trauerten, meinem Eindruck nach auf einem Schlachtfeld. Mehrere solcher Szenen waren es, die kunstvoll nebeneinander begannen und dann in einem schwungvollen Bogen auf einen Mittelpunkt zuliefen und eine Strudelwirkung erzeugten. Im Mittelpunkt war eine große Gestalt, eine langhaarige Frau in einem roten Gewand mit einem schwarzen Schwert in der Hand. Die Menschenfiguren in ihrer Nähe weinten nicht mehr. Die rotgewandete Frau, obwohl bewaffnet, breitete einladend ihre Arme aus, tröstend, gütig.
„Il ay’ra“, sagte Gor Lucegath. Er rückte Laterne und Schatulle etwas beiseite. „Ist sie schrecklich und furchteinflößend, Ujora, die ytrara dort?”
„Ja”, sagte ich.
„So wie ich?”
„Nein”, rutschte es mir heraus. „Ganz anders.”
„Das, Ujora, waren die goala’ay. Die Unkundigen haben sich uns anvertraut, wenn sie erkennen mussten, dass das Weltenspiel endlich ist und jederzeit für sie vorbei sein kann. Wenn sie andere verloren, die mit ihren Seelen verbunden waren. Was du dort siehst, Ujora, ist zwar eine uralte Kriegsszene. Aber das ist dem Alter und der Geschichte dieser Burg geschuldet. Wir wandelten nicht nur auf den Schlachtfeldern. Wir sind auch zu den Alten gekommen, an die Lager von Kranken und dorthin, wo Menschen verunglückt sind. Sogar dorthin, wo sie sich selbst ein Ende gesetzt haben oder Opfer von Verbrechen wurden. Wir waren da, wenn das Licht sich offenbarte.”
„Vom Licht … hat Yalomiro geredet.”
„Tatsächlich?”
„Ja. Mit sehr großer Ehrfurcht. Ich glaube, ich ahne, was das … Licht sein könnte.”
„Nein. Das ist unmöglich. Was das Licht ist, kann ein Mensch nicht begreifen. Dafür ist kein lebendiger Verstand gemacht. Auch nicht der eines lebendigen Magiers, abgesehen natürlich von dem eines geweihten goala’ay. Und selbst der hätte nicht die Worte, um es zu beschreiben. Es ist unaussprechlich.”
„Aber wenn das … Licht so unfassbar ist, wie war es dann möglich, dass einer von euresgleichen das Artefakt anfertigen konnte?”
„Das, Ujora, weiß bis heute niemand. Vielleicht, weil es unvorstellbar ist. Wäre das nicht … beunruhigend?”
Wäre es nicht ebenso eine billige Ausrede? Aber das sagte ich natürlich nicht laut. „Und was geschah danach?”
„Das Licht hat uns verstoßen. Das war im Prinzip alles. Alles, was uns blieb, war jener blasse, schwache Funke, den der Verräter einfangen und bannen konnte. Das ay’cha’ree.”
„Hättet ihr den kleinen Teil Licht einfach wieder – freilassen können?”
„Nein. Das war das allererste, was wir versucht haben. Aber es gelang nicht. Das ay’cha’ree war absolut unzerstörbar. Und das Licht war für uns auf ewig unerreichbar geworden.”
Er ließ sich in seinem Sessel nieder. Ich erhob mich meinerseits aus meiner seltsamen Position.
„Aber das erklärt immer noch nicht, warum … na ja… warum Ihr Leute getötet habt…”
„Ist das nicht naheliegend?”
„Nein.”
„Dann musst du verstehen, dass das Licht selbst natürlich nicht aus dem Weltenspiel fort war. Es wurden schließlich weiterhin Menschen geboren und mussten sterben. In dem Moment, in dem ein Mensch hinter die Träume geht, Ujora, ist das Licht offenbar. Natürlich kann deinesgleichen es nicht sehen, aber glaube mir, es ist da, so flüchtig wie ein Wimpernschlag. Und meinesgleichen war voller Verzweiflung, die Aufmerksamkeit des Lichtes zu erregen, um jeden Preis, es um Gnade anzuflehen und um einen Rat, wie wir den begangenen Frevel gutmachen können. Um das Licht zu rufen, gab es nur einen Weg. Und um es vielleicht einen Moment länger zu beschwören … nun ja. Du wolltest wissen, warum ich die Werkzeuge besitze.”
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er mir da gerade Ungeheuerliches mitgeteilt hatte. Mir wurde übel.
„Ironischer Weise”, fuhr er beiläufig fort, „brachten als Resultat wirrer Gerüchte um das Artefakt die magischen Kriege aus, die im Übrigen nicht etwa so heißen, weil Magier sie angezettelt hätten, sondern weil sie sich nur durch Magie bändigen ließen. Zumindest vorerst. Die magischen Kriege zeigten zwei unmittelbare Auswirkungen auf das Weltenpiel, sofern es meinesgleichen betraf. Zum einen war es ausgesprochen praktisch, dass nicht nur ohne Sinn und Verstand teiranday, yarlay und sogar ujoray begannen, sich in den Wirren gegenseitig umzubringen. Die Kampfstätten flimmerten unter dem unerreichbaren Licht. In ihrer Verblendung maßten sich Menschen jedoch auch an, zu entscheiden, wer hinter die Träume zu stoßen sei. Das verschaffte vielen goala’ay erstaunlich gute Positionen im Gefolge der Mächtigen, bis in die Tage der Chaoskriege hinein. Es gab es viele günstige Gelegenheiten, dem Licht zu opfern. Man hat mich dafür sogar großzügig entlohnt.” Er tippte auf seine Gürteltasche. Ich hörte die Münzen darin klimpern. „Für jedes dieser Goldstücke habe ich im Auftrag eines verblendeten Menschen einen anderen Menschen umgebracht, Ujora. Einige still und diskret, weil sie jemanden im Weg waren. Die meisten vor großem Publikum und mit großer Geschicklichkeit. Auch einige yarlay, die bei ihren Herren in Ungnade gefallen waren. Wusstest du, dass es gekränkten teiranday gefällt, abtrünnige Ritter in glühendem Rüstzeug versengen zu sehen?”
„Hört auf”, bat ich verstört. „Das … das ist schrecklich!”
„Vor allem war es Zeitverschwendung. Das Licht ignorierte uns weiterhin, egal, wie sehr wir unsere Fertigkeiten perfektionierten, wie sehr wir uns auch erniedrigten, indem wir uns als fýntaray für unkundige Despoten verdingten. Und zum anderen kamen die Schattensänger auf die ebenso törichte und anmaßende Idee, dass das ay’cha’ree in ihren Besitz gehörte. Ich vermute, das hat Yalomiro Lagoscyre dir als große Heldentat des Diebsgesindels geschildert?”
„Er redete davon. Aber ganz gewiss nicht als Heldentat. Er hat es … erwähnt.”
Gor Lucegath neigte sich zu mir vor. „Und nun, Ujora, bevor du weitere Gedanken dahingehend hegst, wie verdammenswert und abscheulich die goala’ay doch sein mögen, stell es dir so vor: Ein Kind, von der Mutter verstoßen für eine Missetat seines Geschwisters, und seines letzten Andenkens an eine glückliche Zeit beraubt von Diebsgesindel?”
„Das ist nicht fair!”
Gor Lucegath lachte. „Oh, ein so larmoyantes Bild reicht bereits aus, um an dein Mitgefühl zu rühren, Ujora?”
„Nicht, wenn ich annehme, das Andenken sei gefährlich und der Dieb hat es gestohlen, damit das Kind damit nicht in seiner ziellosen Wut anderen Leid zufügt, die mit alldem überhaupt nichts zu tun haben.”
„Ich sehe, du hast nichts von alledem verstanden.” Er schenkte mir in meinen Becher nach. „Aber du weißt nun, was meinem Kreis zugestoßen ist, Ujora. Das alles ist lange, lange Zeit her. Lange, bevor ich geboren wurde. Ich selbst habe die alten, die dem Licht gefälligen Tage nicht miterlebt. Aber vielleicht hilft es dir, zu verstehen was ich empfinde, wenn mir irgendwo ein solches Bild begegnet und ich darüber nachdenke, was meinesgleichen, was ich weiterhin hätte sein können und sollen.”
„Und dafür wollt Ihr das Artefakt zurückhaben?”
„Das wollten wir alle. Zu jeder Zeit, um jeden Preis.”
„Aber ist es denn nicht egal, wer es hat, wenn das Licht sich ohnehin nicht befreien lässt?”
„Wie kommst du darauf, dass ich das will?”
Ich trank, um Zeit zu gewinnen.
„Erzählt mir mehr.”
Hinterlasse einen Kommentar