Waýreth Althopians Gemächer, die er bewohnte, wenn er an Asgaý von Spagors Burg seinen Hofdienst versah, waren zweckmäßig und schlicht eingerichtet. Während sie wartete, ließ Isan es sich nicht nehmen, Möbel und Schränke zu inspizieren. In dem größeren der beiden Räume lag ausreichend frische Kleidung zum Wechseln bereit. Isan war froh, dass Althopian endlich seine zwischenzeitlich wirklich arg mitgenommenen Gewänder gegen frische austauschen konnte. Wenn Kelwa hier zuständig für die Wäsche war, stand ihr die große Herausforderung bevor, all die hartnäckigen Flecken aus dem Stoff zu bekommen.

In dem deutlich kleineren Nebenraum stand ein zweites Bett, aber dieses Zimmer schien nicht regelmäßig bewohnt zu sein. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Isan verdächtige Schrammen und Macken am Bettgestell und auf der Tischplatte. Offenbar hatten hier zuvor Menschen achtlos mit Waffen hantiert. Ein Gemach für einen Knappen, der dem Ritter für gewöhnlich beiseite stand? Das würde passen. In Valvivant waren die Knaben, die den yarlay assistierten, bekannt dafür, etwas zu ungestüm mit den ersten echten Schwertern und Streitwaffen umzugehen, die ihnen in die Finger kamen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einem Edelknaben neue Möbel in sein Zimmer zu stellen.

Isan war nicht anspruchsvoll. Sie nahm den kleinen Raum für sich in Beschlag und kam sogleich mit einer Zimmermagd ins Gespräch, die sie vor der Tür abfing. Sie versprach dem etwa gleichaltrigen Mädchen eine Kupfermünze und zwei Haarbänder, sollte sie einen Eimer heißes Wasser und ein Stück richtig gute Seife herbeischaffen können.

Isan bekam das Gewünschte in erstaunlich kurzer Frist. Während sie sich Haare und Leib wusch, blieb das Mädchen neugierig im Zimmer und fragte Isan über ihre Herkunft und die Umstände aus, die sie an Waýreth Althopians Seite verschlagen hatten. Isan plauderte ausführlich über das Leben in Valvivant, pries und lobte Althopians Güte und Gunst in höchsten Tönen und erfuhr bei dieser Gelegenheit, wie es in Spagor zuging – recht gemächlich und informell, wenigstens solange yarl Emberbey nicht in der Nähe war, wie es schien. Noch bevor das Wasser abkühlen konnte, war die junge doayra auf dem aktuellen Stand und bestens informiert über ihre neue Umgebung.

Erst das Hinzukommen Waýreth Althopians unterbrach die plappernden Mädchen. Der Ritter trug nun eine weiße Tunika über einer weiten Leinenhose und war in Holzschuhen. Er duftete angenehm nach einer Kräuterseife, Haar und Bart hatten offensichtlich fachkundige Pflege erhalten. Er trug einen kleinen Korb bei sich.

Die Zimmermaid zog sich zurück, nicht ohne den yarl mit einem schwärmerischen Blick zu bedenken. Der yarl schien das nicht zu bemerken.

„Wart Ihr um diese Zeit im Badehaus?”, fragte Isan. Dass es ein solches in der Burg gab, hatte sie eben erst erfahren, und den Ritter in Zivil zu sehen, war ein ungewohnter Anblick.

Yarl Emberbey machte mich darauf aufmerksam, dass ich einen Geruch verströme wie ein Iltis in der Ranz. Ich hätte das tun sollen, bevor ich vor den teirand trete. Nun, ich denke, er hat es nicht bemerkt. Seine Aufmerksamkeit gilt fortan wohl anderen Dingen.”

„Was habt Ihr mit Eurem teirand angestellt?”, fragte das Mädchen ernst.

„Ich habe ihm lediglich das Geschenk übergeben. Offenbar handelte es sich um ein Bildnis der teiranda. Mehr nicht.”

„Das kann nicht sein. Er redete von einer wunderschönen, liebreizenden Dame.”

„Nun, ich habe es nicht selbst gesehen. Möglicherweise war es ein allzu schmeichelndes Bildnis. Die Maler sind ebensolche Schwindler wie die báchorkoray, wenn es um einträgliches Anbiedern geht.”

„Vielleicht ist es eine Falle?”

„Mit etwas Glück ist es nur ein grausamer Scherz.”

Isan runzelte die Stirn. Dass der Ritter das, was die Gabe des Rotgewandeten ganz offenbar ausgelöst hatte, so abtat, missfiel ihr.

„Wollt Ihr Euren Herrn nicht aufklären?”

„Nein.”

Er öffnete den Korb und holte wortlos Käse, Brot, geräucherten Fisch und ein paar gekochte Eier heraus. Offenbar hatte der fürsorgliche Alsgör Emberbey auch noch dafür gesorgt, dass der Freund zu später Stunde zumindest noch eine kalte Mahlzeit bekam. Isan, die am Mittag von Kelwas Fischsuppe gegessen hatte, setzte sich ungefragt zu ihm an den Tisch. Der yarl schob ihr ein Essbrettchen zu. Aber sie griff nicht zu.

„Ihr wisst, dass es Zauberei ist.”, sagte Isan ernst.

„Wahrscheinlich.”

„Und Ihr wisst auch, wie Euch selbst Zauberei bekommen ist.”

„Ich habe den Rotgewandeten nicht darum gebeten.”

„Euer teirand weiß nicht einmal, was in Wijdlant vor sich geht.”

„Schweig.”

„Ihr setzt Euren teirand derselben üblen Magie aus, mit der der goala’ay die Menschen in Wijdlant unterjocht.”

„Ich kann es nicht ändern.”

„Ist das, was Ihr da tut, etwa Verrat?”

„Du solltest besser schweigen.”

„Was würde Eure yarlara sagen, wenn sie davon erführe?”

„Halt den Mund!”, rief er aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Eier hüpften vom Teller und kullerten davon. Isan fing sie ein.

„Warum?”, fragte sie leise und hielt seinem wütenden Blick stand. „Warum passt das alles nicht zu dem Mann, der ihr wart, bevor er seinen Fuß in die Burg von Wijdlant setzte?”

Der Ritter ertrug das nicht lange. Er vergrub das Gesicht in den Händen und bebte. Isan war sich sicher, dass er sich alle Mühe gab, nicht zu weinen. Sie ließ ihm Zeit. Dann legte das Mädchen die Eier vorsichtig zurück auf die Schale und erhob sich. Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus.

„Bitte”, sagte sie leise. „Ich will Euch doch keine Vorwürfe machen. Es steht mir auch nicht zu, über Euch zu richten. Ich will es nur verstehen. Ich will Euch helfen, wenn ich kann.”

„Ich habe keine Wahl”, kam es leise zwischen seinen Fingern hervor.

„Ihr werdet erpresst. Das ist mir klar. Aber was hat der goala’ay davon, diesen teirand in seine Fänge zu bekommen? Und was hat es mit dem Geheimnis der teiranda wohl auf sich? Was ist das Ziel des Ganzen?”

„Ein vereintes teirandon“, wisperte Althopian. „Asgaý von Spagor, Kíaná von Wijdlant und die yarlay, die ihnen ihre Treue schwören. Altabete und Grootplen und Moréaval … und Emberbey und ich. Mit Valvivant sind ihm diese Pläne ja offenbar vorerst misslungen.”

„Ihr denkt, er ist auf der Jagd nach weiteren yarlay als seine Gefolgsmänner? Denkt Ihr, er will … die Mächte mögen uns davor bewahren – einen neuen Krieg anzetteln?”

Althopian blickte auf. „Nein”, sagte er dann. „Ich glaube nicht, dass ihm nach … dieser Art von Macht ist. Er hat etwas anderes mit uns vor. Etwas viel Komplizierteres.”

„Etwas, das Ihr zu verhindern versuchen wollt?”

Er nickte. „Selbstverständlich.”

„Und wenn Ihr nun nicht alle zugleich retten könnt? Wenn es zu viel ist, was auf Euren Schultern lastet?”

Er strich sich müde über die Augen. „Es gibt einen Weg, mit dem ich alle zugleich retten kann. Deswegen gebe ich mich für diesen Wahnsinn hin.”

„Und das hat mit dem Schwarzmantel zu tun, auf den wir warten?”

„Bitte, Mädchen … bitte quäle mich nicht mit deiner Neugier. Ich … es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Ich weiß, dass du es in deiner Freundlichkeit nur gut mit dir meinst. Aber wenn ich zu viel preisgebe, bringe ich nicht nur die yarlara von Ivaál in Gefahr. Ich muss es mit mir selbst ausmachen. Bitte, verwirre nicht mein Gewissen. Du kannst mir nicht helfen.”

Sie nickte. Mehr würde sie nicht aus ihm herausbringen.

„Gut”, sagte sie. „So macht es alles mit Euch selbst aus. Aber ihr solltet wissen, dass Ihr nicht allein damit seid. Ich habe ebenso Anteil an dem, was in unserem Teil des Weltenspiels geschieht. Auch wenn ich nicht weiß, wie die Regeln lauten.”

„Du weißt nicht, worüber du sprichst.”

„Nein, das weiß ich nicht. Aber ich glaube zu wissen, wer Ihr seid. Herr … wenn Euch danach ist, jagt mich ruhig von dannen. Ich komme zurecht, wenn Ihr meine Gegenwart nicht ertragt, während Ihr das Spiel des Rotgewandeten mitspielt.”

„Vielleicht wäre es tatsächlich das Beste, wenn du mich allein lässt. Nicht, weil ich deiner überdrüssig bin. Aber mir wäre leichter ums Herz, wenn du dich in Sicherheit brächtest.”

„Ich bin nicht feige, Herr. Aber ich habe Angst, dass Ihr Euch aufgebt. Dass Ihr am Ende werdet wie die armen yarlay der teiranda.”

Sie wollte ihn allein lassen und wandte sich ab. Aber er hinderte sie daran, indem er ihre Hand auf der Tischplatte mit der seinen bedeckte. Das war unzüchtig, solange er keine Handschuhe trug. Isan errötete, aber ihm schien in seiner Seelennot nicht bewusst zu sein, was er tat.

„Wie kann ich dir jemals vergelten, was du für mich tust?”, fragte er leise.

„Indem Ihr dem Rotgewandeten das Spiel verderbt”, antwortete sie sanft. „Indem Ihr Euch im rechten Moment für das Richtige entscheidet.”

Er ergriff ihre Hand, und ehe Isan es verhindern konnte, hatten seine Lippen einen Kuss darauf gehaucht, sachter als ein vorbeischwebende Fuchszahnschirmchen.

„Herr, was tut Ihr?”, tadelte Isan geschmeichelt. „Das steht mir nicht zu. Ich könnte Eure Tochter sein!”

„Ich wünschte, du wärest meine Tochter”, entgegnete er.

Sie entzog ihm sanft ihre Hand und lächelte. „Ich bin Eure Freundin und werde es immer sein. Egal, wie dieses Euer Abenteuer endet. Und nun entschuldigt mich. Ich bin müde.”

Sie verneigte sich vor ihm, ging nach nebenan und zog die Tür hinter sich zu. Einen Augenblick brauchte sie, um sich zu sammeln.

Dann seufzte sie glücklich und ließ sich auf ihr Schlaflager fallen. Bei den Mächten, wenn das die Mädchen in Valvivant gesehen hätten! Der berühmte, der mächtige, der hochedle und tapfere yarl Althopian hatte ihre Hand geküsst! Wie die einer Edeldame! Ganz artig und galant!

Aber davon erfahren – nein, das sollte niemals jemand. Dieser Moment würde für immer in ihrem Herzen bleiben wie ein unschätzbares Kleinod.

Das Hochgefühl vermochte sogar die Furcht zu verdrängen, die von dem rätselhaften Plan des Rotgewandeten dräute. Und so gelang es Isan, tief und fest einzuschlagen, während der Wind das Rauschen der Brandung herantrug.

***

Die Nacht war frei von Arámaús Gedanken.

Das beunruhigte Yalomiro zutiefst. Es musste nichts bedeuten, dass die Schattensängerin in der fernen Burg nicht zur verabredeten Zeit ihrerseits ihr Bewusstsein in die Dunkelheit entsandte. Tausend Gründe konnte es geben, warum sie ihre geheime Begegnung versäumte. Vielleicht geschah in Pianmurít gerade irgendetwas, das sie ablenkte, aufhielt.

Wenn dem so war, dann war es etwas sehr Wichtiges. War es etwas Wichtiges, dann hatte es mit der Unkundigen oder dem Rotgewandeten zu tun. Hatte es mit dem Rotgewandeten zu tun, war es beunruhigend. Betraf es die Unkundige, machte ihm das Angst.

Doch ihm fehlte in dieser Nacht die Zeit, um zu warten.

Er faltete sorgsam sein Hemd zusammen und legte es zu den übrigen Kleidungstücken in eine Kiste. Auch die Tasche mit seiner verbliebenen Habe lag bereits darin.

„Was soll’n wir mit dem Zeugs machen, wenn …”, fragte Majék. Egnar knuffte ihn unsanft vor den Arm.

„Hättet ihr Verwendung dafür?”, fragte der Schattensänger.

Nun schwiegen die beiden.

„In der Tasche sind einige Gegenstände aus Silber. Die könnt Ihr einschmelzen, wenn ihr mögt, denn ich werde sie nicht mehr benötigen. Meine übrige Kleidung mag nehmen, wem sie passt und wer denkt, dass ihm Schwarz gut zu Leibe steht. Nur den Mantel mag ich euch nicht überlassen. An den Stickereien habe ich eigenhändig eine Ewigkeit lang gearbeitet und mir die Finger dafür zerstochen. Mögen die Mächte wissen, warum Frauen daran so viel Freude finden. Gebt ihn yarl Althopian. Er wird jemanden wissen, der ihn als Andenken schätzen könnte.”

Majék feixte, verkniff sich aber einen Kommentar. Offenbar fand der Junge die Vorstellung, , dass ein Mann sich an Handarbeiten versuchte, amüsant.

Yalomiro kletterte über die Reling des Fischerbootes und schaute auf das Chaos, nun eine dunkle, tosende Wand in der Ferne.

„He”, sagte Egnar. „Hilft’s dir, wenn wir irgendetwas machen?”

„Was solltet ihr machen?”

„Wir können doch nicht einfach so … nichts tun.”

„Ah.” Der Magier verstand. „Nun, wenn es Euch beruhigt, mag es nicht schaden, wenn ihr Noktáma, Pataghíu und ganz besonders das Licht darum bittet, mich in meinem Wahnsinn zu behüten. Aber macht euch nicht allzu viele Gedanken. Ich bin sehr zuversichtlich, dass ich bald wieder bei euch bin.”

„Aber …”

Yalomiro sprang. Er wollte nicht noch mehr Zeit mit den Unkundigen verschwenden, so gut sie es meinten.

Das Wasser war eiskalt und zog ihn augenblicklich in die Tiefe, eine schwarze, finstere Bodenlosigkeit. Das hatte er nicht erwartet, aber versetzte ihn nicht in dieselbe Panik, die ein Unkundiger an seiner Stelle verspürt hätte. Im Gegenteil: Mit dieser Dunkelheit konnte er verschmelzen, sich in ihr bewegen wie ein flüchtiger Schatten. Er kämpfte sich wieder an die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Der Schwung hatte ihn ein ganzes Stück weit vom Boot weggetragen. Vermutlich konnten Majék und Egnar ihn in der Nachtschwärze schon gar nicht mehr erkennen. Er sah sie beide, wie sie sich hektisch umschauten, während die bunten Öllaternen an den Seiten des Mastes schwach leuchteten, eine blau und die andere gelb.

Nun gut. Nun war es also ernst. Er holte tief Atem und glitt zurück unter Wasser. Das Chaos musste er erreichen, solange es noch Nacht war.

Sicher, er hätte ebenso in Gestalt des Raben das letzte Wegstück einfach fliegen können, aber das Chaos bestand hier am nördlichen Ende der Welt nun einmal aus Wind und Wasser. Es wäre das Klügste, sich dem Meer anzuvertrauen und durch den Sog ins Chaos hineinziehen zu lassen. Dort würde das Artefakt ihn zu sich lotsen. So hatte er den Zauber gewirkt. Noktáma würde ihn führen. Und um den Tod musste er sich nicht sorgen.

Solange Gor Lucegath sich nicht anders entschied, war er unsterblich. Das Schlimmste, was geschehen konnte war, dass die Wesen im Chaos ihn packten und ihm den Verstand ausrissen.