Als Venghiár Emberbey die Augen öffnete, war es hell. Zu hell. Pataghíus Glanz stand offenbar schon eine Weile hoch am Himmel. Zu hoch. Der morgendliche Hahnenschrei war nicht zu ihm vorgedrungen, und von unten hallten Alltagsgeräusche hinauf in die Stube. Die Fensterläden standen weit offen. Wahrscheinlich hatte er sich in der Nacht einfach nicht mehr damit abgegeben, er entsann sich nicht.

Der junge Mann gab ein unwilliges Grunzen von sich, griff nach der Bettdecke und drehte sich noch einmal um. Sei es drum. Es war eine lange Nacht gewesen, die zweite in Folge, die viel zu viel Aufregung gebracht hatte. Auch in den Nächten zuvor hatte er auch bei weitem nicht genug Schlaf abbekommen. Aber nun, nun war er der Burgherr und  konnte tun und lassen, was ihm beliebte. Wer es nun wagte, ihn zu stören, dem sollte es nicht gut bekommen.

Venghiár wälzte sich herum und fand die andere Hälfte seiner Matratze belegt vor. Hevstrid war zerzaust und auf ihren Lippen lag ein ganz merkwürdiges Lächeln. Sie schnarchte, ganz leise und anmutig, wie ein Kätzchen.

Schlagartig war Venghiár hellwach und schnellte aus den Kissen herauf.

„Guten Morgen“, begrüßte ihn jene wohltönende Stimme, die er nie wieder zu hören gehofft hatte. Entsetzt wandte er den Kopf, ganz zögerlich und langsam. Er ahnte bereits, was er zu Gesicht  bekommen würde.

„Wie kommt Ihr her?“, fragte der junge Mann matt und ebenso verstört.

Der Schwarzgewandete saß entspannt in Alsgör Emberbeys Sessel und hatte die Beine übereinandergeschlagen. In den Händen hielt er die leere Metflasche. Er spielte damit.

„Durch das Fenster“, antwortete der Magier schlicht. „Das erschien mir am bequemsten.“

Venghiár raffte hastig die Decke an sich und entblößte Hevstrid dabei mehr, als es schicklich war. Bei den Mächten, was war passiert? Wie war es zugegangen, dass er mit einem nackten Weibsbild zusammen im Sterbebett des Großonkels gelandet war? Und das vor den Augen dieses unheimlichen Kerls! Was war passiert, woran er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte?

Die Gedanken des jungen Mannes rasten in seinem Kopf hin und her wie Mäuse in einem Käfig. Das letzte, woran er sich bewusst entsann, war das brennende Totenfloß. Sein Bogen lag auf dem Boden vor dem Bett, neben seinen Gewändern. Hevstrids Kleid hing, achtlos drapiert oder einfach hingeworfen, halb über der Sessellehne, ohne dass es den Magier zu stören schien.

„Ich kann das erklären“, behauptete er hastig.

„Das würde mich wundern.“

„Es ist nicht so, wie es aussieht!“

„Ihr braucht Euch nicht zu rechtfertigen. Ihr seid jung, strotzt vor Manneskraft und seid sicherlich den Reizen der fánjulaé nie abgeneigt. Nicht verwunderlich bei einer so liebreizenden jungen Gespielin.“

Venghiár runzelte verwirrt die Stirn. Hevstrid schlief derweil und träumte gewiss von etwas sehr Erfreulichem.

Wie lange seid Ihr schon hier?“, fragte er beschämt. „Was habt Ihr mit angesehen?“

„Wollt Ihr das wirklich wissen?“

Venghiár streckte die Hand nach dem Mädchen auf und wollte es wachrütteln, aber der Schwarzmantel schüttelte den Kopf. „Lasst sie. Es wäre ihrem Verstand nicht zuträglich, wenn sie meiner ansichtig würde.“ Er lachte, ein wenig anzüglich. „Es liegt mir fern, Euch mit meiner Gegenwart in ihrer Gunst auszustechen. Ich bin vielmehr hier, um mit Euch die nächsten Dinge zu besprechen.“

„Aber wenn sie aufwacht und uns hört, dann …“

„Sie wird nicht aufwachen. Nicht, solange ich es nicht will. Gönnen wir ihr die Ruhe, nachdem sie Euch so viel Vergnügen bereitet hat. Aber es kann sicherlich nicht schaden, wenn Ihr Euch etwas anzieht.“

Wie betäubt stand Venghiár auf und bückte sich nach Hemd und Hose. Mit zitternden Händen hob er beides auf und streifte es sich über. Sein Kopf fühlte sich wattig an, wie nach einer wild durchzechten Nacht, aber ohne die Übelkeit und den Schwindel. Der Schwarzgewandete beobachtete ihn unverwandt aus schimmernd silbrigen Augen.

„Ihr habt Euch des Leichnams entledigt“, redete er dabei weiter. „Gut gemacht. Dann gibt es nun nichts mehr, was Euch hier an Ort und Stelle hält.“

„Nicht ganz. Meine Gehilfen sind noch nicht zurückgekehrt.“

„Wollt Ihr Euer yarlmálon tatsächlich von diesen beiden Dummköpfen abhängig machen, wo Ihr doch zwischenzeitlich eine so reizende Statthalterin engagiert habt?“

„Ich muss die beiden zumindest anweisen, ihr zu gehorchen. Von einem Weib würden sie sich im Leben nichts sagen lassen.“

Der Schattensänger seufzte tief. „Welche Torheit. Hat sich nicht oft genug gezeigt, um wie viel umsichtiger und gestrenger kluge Frauen Dinge zu regeln wissen, an denen tumbe Mannsbilder sich in Stolz und Sturheit zum Narren machen?“

„Es ändert nichts daran, dass meine Knechte alles verderben könnten, solange sie keine klaren Anweisungen haben. Von mir. Von niemand anderem.“

„Nun gut. Kann einer der beiden lesen?“

„Ich … glaube schon.“

„Dann schreibt ihnen eine Liste als Gedankenstütze und stellt Eurer lieblichen  hýardora jemanden beiseite, der ihre Autorität bestärkt. Der Waffenknecht, den Ihr aus Rodekliv bestellt hattet, sollte taugen. Hier habt Ihr keine Zeit zu verlieren.“

„Das ist nicht meine hýardora!“

„Es geht mich nichts an, wie Ihr ihr diesen Umstand zu erklären gedenkt. Sie ist immerhin eine ehrbare fánjula. Kein wohlfeiles Freudenmädchen, das Ihr mit ein paar Münzen abspeisen könntet.“

Venghiár seufzte unglücklich. Unter seinen Kleidern hatte das Schwert des Großonkels gelegen. Einen Augenblick lang zögerte er. Dann gürtete er es sich um. Der Schattensänger lehnte sich zurück.

„Während Ihr Euch hier fleischlichen Reizen hingegeben habt“, fuhr er fort, „habe ich mich auf die Fährte Eurer kleinen Weitbase begeben. Sie ist mit dem báchorkor weit gekommen. Wenn niemand die beiden vom Weg pflückt und sie nicht rasten, gelangen sie spätestens in der Nacht an die Burg von Althopian.“

„Was? Warum? Ich meine … warum habt Ihr sie nicht aufgehalten?“

„Es ist nicht so, dass ich es nicht versucht hätte. Aber etwas hat meine Pläne gestört. Etwas, womit ich mich nicht länger abgeben konnte.“

Nun hätte Venghiár fast gegrinst. Etwas, was dem Schwarzgewandeten misslungen war? War das denn die Möglichkeit? Aber er hatte sich schnell unter Kontrolle. Bei näherem Nachdenken war die Sache alles andere als heiter.

„Und was machen wir? Was stellt Ihr Euch vor? Sollen wir sie gerade noch einholen mit Euren Zauberkräften?“

„Nein. Wir machen uns geradewegs auf den Weg nach Wijdlant. Dort werden wir sie erwarten.“

„Aber die kleine Kröte darf nicht bei Herrn Waýreth anlangen!“, protestierte Venghiár.

„Wieso denn nicht?“

„Seid Ihr bei Sinnen? Sie werden ihm doch alles verraten!“

„Was sollten sie ihm verraten? Habt Ihr Euren Großonkel ermordet?“

Venghiár stutzte. „Nein“, sagte er dann. „Als ich kam, war er bereits dahin.“

„Habt Ihr eure Weitbase mit dem Tod bedroht?“

„Ja … nein.“ Der junge Mann setzte sich auf die Bettkante. Hevstrid rekelte sich lasziv im Schlaf. Beiläufig warf er die Decke über sie. „Ich meine …“

„Ihr wolltet sie aus dem Weg räumen, ich weiß. Aber war es nicht so, dass sie bereits mit dem báchorkor im Sattel war, als ihr mit dem Bogen ihre Kammer betreten habt?“

„Woher … ach, was soll es. Ja. Wie immer Ihr das wissen könnt, ja, Ihr habt recht.“

„Was bleibt dann also für eine Geschichte, die sie und der báchorkor yarl Althopian auftischen könnten? So sehr Euch das überraschen mag, Herr Venghiár: Ihr seid unschuldig an allem, was das verwirrte Kind Euch aus überbordender Fantasie heraus vorwerfen könnte. Mehr noch: Euer gesamter Hausstand hier kann bezeugen, wie besorgt Ihr um das Mägdelein wart.“

„Ich habe diesen dreckigen Lumpenkerl angeschossen.“

„Welcher liebende Verwandte hätte nicht versucht, das Kind vor einem Unhold zu beschützen? Alles, was Ihr tatet, war, den Entführer aufhalten zu wollen. Unglücklicherweise vergebens.“

„Und wenn der báchorkor redet?“

„Worüber? Noch einmal, Herr Venghiár, so langsam, dass selbst Ihr es versteht: Ihr habt nichts verbrochen. Allenfalls könnte man Euch für Eure Gedanken und Pläne anklagen. Aber wer wäre je für eine Tat belangt worden, die die Fantasie gar nicht erst verlassen hat?“

Venghiár dachte verblüfft nach. Wie überraschend, wie gut es sich anfühlte, ein so sauberes Herz zu haben.

„Abgesehen davon“, fuhr der Schwarzgewandete fort, „ist längst nicht gesagt, dass der báchorkor überhaupt das Risiko eingeht, das Kind in Althopians Burg zu begleiten. Viel wahrscheinlicher ist, dass er die Kleine das letzte Stück allein laufen lässt. Wahrscheinlich hat er es ebenso eilig, nach Wijdlant weiterzureisen. Dass er das Kind mitgenommen hat, dürfte nicht von Beginn seine Absicht gewesen sein. Es müsste vielmehr in seinem Interesse sein, es schnellstmöglich loszuwerden und in Wijdlant in der Menge von seinesgleichen unterzutauchen. Dort wird sich seine Spur verwischen. Oder denkt Ihr, die teiranday könnten es sich leisten, gerade zum vasposár auf Verdacht die versammelten báchorkoray festsetzen und verhören zu lassen? Wie sähe das denn aus, ein so großes Fest ohne Lieder und Geschichten?“

„Ich verstehe das alles nicht.“ Venghiár schaute sich nach seinen Stiefeln um. Einen fand er unter dem Bett. Den anderen reichte der Schattensänger ihm zu; er hatte neben dem Sessel gestanden. „Wer ist dieser báchorkor eigentlich? Und was hat er mit der Amtskette vor?“

„Nun, nüchtern betrachtet ist er der Mörder Eures geliebten Großonkels. Was er mit seinem Diebesgut vorhat, werde ich noch herausfinden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas ist, was nach alledem noch eine Bedeutung hätte.“

„Aber was …“

Der Schattensänger hob energisch die Hand und brachte ihn zum Schweigen. Venghiár verstummte.

„Ich erwarte, dass Ihr Euch nun sputet. Ich gebe Euch noch die Zeit, etwas zu essen, Euch dem Anlass angemessen zu kleiden und Eure Sachen zu packen. Macht die Anweisungen für Eure beiden Spaßmacher fertig und nehmt Abschied von Eurer entzückenden Herzensdame hier. Man erwartet Euch zum Turnier.“

„Aber … so schnell? Meine Helfer müssen doch noch packen, und …“

„Ihr braucht keine Helfer. Die werden sich in Wijdlant finden. Ich werde Euch welche finden. Ich hole euch ab, sobald Noktámas Schleier von Süden aufzieht. Derweil habe ich selbst noch etwas zu tun. Habt Ihr noch Fragen?“

Der junge Ritter schwieg eingeschüchtert. Die dunkle Samtstimme war streng und schneidend geworden, duldete keinen Widerspruch. Hevstrid schlummerte, von alledem unbeeindruckt. Und immer noch lächelte sie, so sonderbar, fast verstörend. Fast, als bereite Ihr etwas eine Menge Genugtuung.

Der Schwarzmantel wartete.

„Meister“, murmelte Venghiár schließlich, „Die hier, das Mädchen … wie ist das passiert? Ich erinnere mich nicht. Es ist ausgelöscht aus meinem Gedächtnis. Habt Ihr damit zu tun?“

„Nein. Das war ganz allein Euer Unverstand. Zugegeben – amüsant ist es schon.“

„Aber wieso bin ich mit ihr im Bett gelandet? Das habe ich doch gar nicht gewollt! Ich wollte doch nur … was soll ich denn jetzt mit Ihr anfangen?“

Nun lachte der Schattensänger, ausgesprochen amüsiert. Er warf Venghiár die Glasflasche zu, sodass der geistesgegenwärtig zuschnappen musste.

„Ist Euch bewusst, was Ihr und sie da so sorglos getrunken habt?“

„Einen alten Met, was sonst? Etwas anderes war hier gestern nicht zur Hand.“

„Aus der Mitgift Eurer Großtante, wenn mich nicht alles täuscht?“

„Ja, und?“

Der Schattensänger erhob sich. „Denkt darüber nach. Was könnte man sich in Ovéstola wohl dabei gedacht haben, der Dame einen Trunk mitzugeben, den sie mit einem Mann teilen sollte, der doppelt so alt war wie sie? Eine Dame, deren einzige Aufgabe es war, ihm wenigstens einen tauglichen Nachkommen zu schenken? Hat man nicht auch in Rodekliv über die gewissen Tränke getuschelt, die findige doayraé zu brauen vermögen, um die Lust zu entfachen und den Verstand zu betäuben? “

Venghiár schaute ihn verständnislos an. Dann begriff er und ließ die Flasche erschrocken fallen. Scherben spritzten über den Boden.

„Schade“, sagte der Schwarzmantel. „Das war recht hübsches Glas.“

„Aber … wartet! Die Flasche war unangetastet und verkorkt! Sie haben davon nicht getrunken!“

„Nein. Vielleicht war da doch etwas mehr zwischen ihnen als … Pflichtbewusstsein. Vielleicht ist zwischen der Schönen dort und Euch nun auch mehr als blinde Lust.“

„Nein! Nein, ich will das nicht! Ich will doch nicht mit der da …“

„Ihr nicht. Aber vielleicht will sie? Wäre das nicht recht und billig, nachdem, was Ihr ihren armen Eltern angetan habt?“

Der Magier lächelte und legte dem verstörten Ritter aufmunternd die Hand auf die Schulter. „Sagt mir, Herr Venghiár … wie steht es mit Euch? Genießt Ihr die Macht?“

Venghiár schauderte. Die Gegenwart des Schattensägers fühlte sich seltsam an. Ihm war, als hülle sich ein leichtes Fieber um ihn und etwas Kaltes stiege ihm auf den Knochen empor. Aber das war nur ganz kurz. Ein, zwei Lidschläge, und dann war da wieder nur goldenes Herbstsonnenlicht, und im Hintergrund schnurrte Hevstrid im Schlaf. Vielleicht träumte sie etwas Wunderschönes.

„Ja“, wisperte er.

„Sehr schön. Wollt Ihr mehr davon?“

Venghiár nickte. „Ja.“

„Wunderbar. Dann verliert jetzt keine Zeit. Wir brechen bald auf.“

Mit diesen Worten trat der Magier auf das offene Fenster zu, stieg hindurch und ließ sich in die Tiefe fallen. Venghiár machte sich nicht die Mühe, nachzuschauen, ob er sich dabei zu Tode stürzte. Darauf brauchte er nicht zu hoffen. Und draußen erhob sich ein großer Rabe in die Luft und schwang sich in den Himmel hinauf. Die kreischenden Möwen stoben vor ihm davon.