Kárar Ferocrivé war ungehalten, als er zum Turnierlager zurück ritt. Sein Besuch in der Burg hatte ihn nicht weiter gebracht. Nun, vielleicht war es ihm gelungen, der yarlaranda von Emberbey zu verstehen zu geben, dass ihr Tun erkannt oder zumindest nicht unbemerkt geblieben war. Natürlich würde sich das Mädchen nicht in die Karten schauen lassen. Und wenn sie im Geheimen handelte, im Auftrag von jemandem, in dessen Interesse es sein mochte, in das Turnier einzugreifen, dann tat sie das wirklich äußerst geschickt. Sie war ihm zwar eher verwirrt als ertappt vorgekommen, aber das war sicher nur Maske und Verstellung. Ahnungslosigkeit, hinter der sie sich verstecken konnte.

Lästig war es gewesen, dass Asgaý von Spagor, der teirand, nicht davon lassen konnte, ihn immer wieder über seine Herkunft ausfragen zu wollen, so oft ihn seine teiranda auch ermahnte. Der Dame war es offenkundig unangenehm geworden, dass ihr hýardor so neugierig war und ihre Tochter, die Hauptperson, um die sich das ganze vasposár drehte, auf sich warten ließ. Asgaý von Spagor war zwar nicht minder beliebt bei seinen Schutzbefohlenen. Doch wo die Leute die Klugheit und Umsicht der teiranda rühmten, schätzte man seine Nahbarkeit und Leutseligkeit. Dass der Mann ein teirand, der Herr über zwei yarlmálon war, erkannte man zuvorderst an der Krone auf seinem Kopf. Weder in Ferocrivé noch in Rodekliv nahmen die yarlay diesen teirand sonderlich ernst, zu klein, zu unbedeutend war sein Reich. Wenn man Virhavét nicht Einhalt gebot, würde das teirandon Spagor früher oder später von der Stadt eingenommen werden. Und die beiden yarlmálon, Emberbey und Althopian … nun, die waren in den vergangenen Wintern längst zu Außenposten geworden, die zu Wijdlant gehören. Noch. Denn mit Alsgör Emberbey ging es zur Neige, wie man von diesem Spion hörte, der dort vor Ort platziert war. Ferocrivé hatte viel von diesem jungen Mann gehört, war ihm aber bislang nie persönlich begegnet.

Während die teirandanja weiterhin mit Abwesenheit glänzte, waren Kárar und den teiranday die Gesprächsthemen ausgegangen. Verlegen hatten sie eine Weile einander zaghafte, oberflächliche Plaudereien zu geworfen. Die gute Organisation und die emsigen Aufbauarbeiten für die Turnierbahn hatte er gelobt und die schöne, wehrhafte Burganlage mitten auf der Ebene, mit dem Wassergraben ringsum und dem hohen Turm, der die Mauern so weit überragte, bei den Mächten, so ein hoher, erhabener Turm! Das fruchtbare Ackerland und die wohlbestellten Dörfer. Die Zuvorkommenheit und Freundlichkeit der Schutzbefohlenen, die ihm und seinem Knappen begegnet waren.

Den augenfälligen Mangel an Wehrmännern, der sogar Rolk aufgefallen und ihn zum Staunen gebracht hatte, hatte Kárar Ferocrivé nicht angesprochen. Dass man die Schlagfertigkeit von Wijdlant nicht unterschätzen durfte, unterstrich ganz beiläufig die Anwesenheit von yarl Moréaval. Der hielt sich im Hintergrund, aber alles an seinem Blick, seiner Haltung und seiner Aufmerksamkeit ließ keinen Zweifel daran, wie ernst er seine Aufgabe nahm. Kárar Ferocrivé hatte sich eingestehen müssen, dass er gezögert hätte, diesen Ritter ohne triftigen Grund herauszufordern.

Vielleicht war es aber auch der Kontrast zu yarl Grootplen, dem mynstir der teiranda, der nach einer Weile aufgetaucht war und die Aufmerksamkeit des teirand erbeten hatte. Grootplen war ganz offensichtlich einmal ein beeindruckender Recke gewesen, aber die Zeit und das gute Essen am Hof, vielleicht auch das Bier, hatten ihn feist und weichlich gemacht. Nun, in wenigen Tagen würde sein Sohn seine Aufgabe in Wijdlant aufnehmen. Sein Schwert würde dann nicht mehr benötigt und er würde seinen Lebensherbst in aller Bequemlichkeit auf seiner eigenen Burg genießen können.

Offenbar brachte Grootplen einen Bericht von den Aufbauarbeiten. Das hatte den teirand mehr interessiert als der Gast, der so wortkarg sein musste, dass keine rechte Unterhaltung möglich war. Höflich hatte er sich entschuldigt, war mit dem alternden Ritter verschwunden und hatte seine hýardora mit ihrem Leibwächter und ihm allein gelassen.

Es folgte peinliches Schweigen.

„Herr Jóndere“, hatte sie yarl Moréaval schließlich angesprochen, „seid Ihr so gut und schaut nach, was meine Tochter so lange aufhält?“

„Majestät“, hatte er höflich eingewandt, „dazu müsste ich den Raum verlassen. Ihr wisst, dass ich das nicht darf, solange ….“

„Es ist gut, Herr Jóndere. Ich bin mir sicher, dass Ihr mich mit unserem Gast unbesorgt eine kurze Weile allein lassen könnt. Oder“, hatte sie sich scherzend an ihn gewandt, „habe ich von Euch etwas zu befürchten?“

Oh, diese Gelegenheit … Kárar Ferocrivés Herz schlug schneller. Wie schade, dass sein Vater nicht zugegen war, um ihm eine Anweisung zu geben! Ebbmo Ferocrivé hätte nicht gezögert, um aus dieser Fügung seinen Nutzen zu ziehen. Das hatte man ihn daheim gelehrt, das schnelle Denken ebenso wie das schnelle Handeln bei günstiger Fügung.

„Nun gut, Majestät. Sicher hat Euer weit gereister Gast wohl keine Bedenken, mir währenddessen sein Schwert und seinen Dolch zu überlassen?“

Kárar Ferocrivé schreckte aus seinen Gedanken auf. „Wie bitte?“

„Vergebt mir, edler Herr.“ Jóndere Moréaval streckte höflich, aber fordernd die Hand aus. „Mein Amt verbietet mir, meine Herrin mit einem Bewaffneten allein in einem Zimmer zu lassen. Es ist eine Formalität, nichts Persönliches.“

Herr Kárar versuchte ein ungezwungenes Lachen. „Misstraut Ihr mir etwa, yarl Moréaval? Nichts liegt mir ferner, als der hochedlen Dame etwas Übles zu wollen!“

„Das ist mir klar. Aber mein bedingungsloses Vertrauen haben nur die Edlen und Schutzbefohlenen dieses Haushalts. Allen anderen habe ich mit Vorsicht zu begegnen.“

„Herr Jóndere“, mahnte die teiranda. „Ihr bringt unseren Gast in Verlegenheit.“

Kárar Ferocrivé bemühte sich um Gleichmut. „Lass ihn nur, Majestät. Die Mächte haben Euch da einen pflichtbewussten Wachhu-“, er räusperte sich, „Wächter an die Seite gestellt.“

„Eure Waffen, bitte.“ Moréaval war ungerührt. Kárar seufzte und schickte sich an, sein Wehrgehänge aufzuschnallen.

Es war die teirandanja gewesen, die die Peinlichkeit unterbrach. Die junge Dame war mit ihrer zwielichtigen Hofdame in das Audienzzimmer eingetreten, hatte sich grüßend ihrer Mutter zugewendet und ihm dann einen fragenden Blick zugeworfen.

„Vergebt mir meine Säumigkeit“, hatte sie dann gesagt, sich an der Seite von Kíaná von Wijdlant auf dem Thronsessel ihres Vaters niedergelassen und yarl Moréaval beiseite gewinkt. „Seid mir herzlich willkommen, Herr …“

„Majestät, bis zum Ende des Turniers mögt Ihr mich als yarl Unbekannt anreden. Mein Wappen bleibt solange verdeckt.“

„Nun gut. Ihr mögt Euren Grund dafür haben. Was bringt Euch so früh am Tag her?“

Früh am Tag? Pataghíus Glanz war ein gutes Stück an den Scheitelpunkt seiner Bahn gestanden. Wie träge musste diese fánjula sein! Wie würde sich das auf ihre Herrschaft auswirken?

„Majestät“, begann er beflissen, „wie ich euren Eltern soeben schon ausführte, war es mir ein Bedürfnis, mich mit größter Demut zu bedanken. Für die Gelegenheit, an Eurem vasposár teilnehmen zu dürfen und Teil dieses glanzvollen und ruhmreichen Festes sein zu dürfen. Es ist mir und meinem Haus eine große, eine unschätzbare Ehre.“

Die teirandanja lächelte ebenso höflich wie offenkundig gelangweilt. „Wir haben Euch zu danken, dass Ihr Euch zu diesem Anlass präsentiert. Mögen Euch die Mächte gewogen sein und Ihr ehrenvoll und geachtet unter allen Wettstreitern aus dem Turnier hervorgehen. Möget Ihr neue Bündnisse und Freundschaften finden, und wer weiß, vielleicht auch eine Euch gemäße hýardora?“

Die teirandanja war eine fánjula von überaus gefälliger Gestalt. Nachdem er das yarlmálon Ferocrivé verlassen und die Sumpflande in weitem Südwärtsbogen umreist hatte, waren ihm unterwegs viele Geschichten über ihren Liebreiz zu Ohren gekommen, sowohl von báchorkoray als auch von Leuten, die sie tatsächlich einmal gesehen oder zumindest von ihr gehört hatten. Kein Wunder, denn das vasposár war seit Langem in aller Munde. Aber er war nicht hier, um sich an Weibern zu ergötzen.

„Ich werde ehrenhaft und ritterlich kämpfen und mich von meiner tugendsamsten Seite zeigen. Ich hoffe, meine Mitstreiter haben denselben Vorsatz. Wie schade wäre es, wenn es auf diesem herrlichen Turnier zu … Unregelmäßigkeiten käme.“

Von der yarlaranda, die ihrem Amt gemäß neben yarl Moréaval hinter den Thronsesseln stand, fing er wieder einen verwirrten Blick auf. Ganz ausgezeichnet mimte das junge Mädchen seine Ahnungslosigkeit.

„Was meint Ihr mit Unregelmäßigkeiten?“ Kíaná von Wijdlant klang aufmerksam, interessiert. Gut so.

„Nun, Majestät, das vasposár ist kein Fest, das nur Kurzweil bringt. Jene Herren, die sich bewähren, erstreiten nicht nur Ruhm für sich selbst. Welchem yarl – oder teirand – würde es nicht gefallen, den streitbarsten und unbezwinglichsten Ritter als erwählten Krieger in seinen Diensten zu haben?“

Die teiranda lachte. Es klang peinlich berührt. „Lieber yarl Unbekannt, warum so verbissen? Natürlich wird jeder teirand sich rühmen, erfolgreiche Streiter in diesem Turnier zu haben. Ich weiß wohl, wie ehrgeizig allein die drei oder vier yarlandoray sind, die für unser teirandon antreten werden. Aber in erster Linie soll es doch ein Anlass zu Freude und Zusammenkunft sein.“

„Was? Bin ich etwa zu einer Spielerei von so weit hergekommen?“

„Keine Sorge, Herr Unbekannt“, schaltete sich yarl Moréaval kühl ein. „Ihr müsst keine Bedenken haben, dass die Darbietung Eurer Waffenkünste zu kurz kommt. Wir haben dennoch kein Interesse daran, dass all die jungen Männer schwer versehrt vom Platz getragen werden.“

„Wir haben zwei der erfahrensten arbidray [≈ Herolde, hier im Sinne von Turnier-Schiedsrichtern] kommen lassen. Der eine, der aus Pianárdent ist sogar schon eingetroffen. Es wird alles nach den Regeln zugehen.“

„Und Eure arbidray können sicherstellen, dass sich alle Teilnehmer an die Regeln halten, Majestät?“

Nun war er zu weit gegangen. Unverhohlener Grimm erschien auf Moréavals Gesicht. Die teiranda wirkte verlegen. Die yarlaranda von Emberbey verdrehte stumm die Augen, glaubte wohl, ihm entginge das. Und die teirandanja

Nun, sie hatte hellblondes Haar und eine helle, der Schale eines zarten Samtapfels ähnelnde  Haut. Doch war das etwa Wangenrot? Oder war ihr das Gespräch unangenehm?

„Ihr könnt sicher sein, dass wir sehr gut auf die Regeln achtgeben werden“, sagte Moréaval. „Aber wenn Ihr Bedenken um Eure Unversehrtheit habt – die Teilnahme an dem Turnier ist gänzlich freiwillig.“

„Ich habe keinen Zweifel daran, dass Ihr alle dafür Sorge tragt“, versuchte Herr Kárar, das Gespräch zu wenden. „Bei dem, was offen auf dem Platz passiert. Woran ich nur dachte, ist dies: Was wenn jemand im Geheimen versuchte, dem Turnier eine Wendung in seinem Sinne zu geben?“

„Ihr sprecht in Rätseln, Herr Unbekannt. Wenn Ihr etwas wisst, was wir wissen sollten …“

„Ich weiß von nichts. Es ist nur … nun, nehmen wir einfach einmal an, es wäre so. Was dann?“

Die Zofe schaute immer noch so einfältig drein, als könne sie kein Wässerchen trüben. Moréaval wartete offensichtlich auf eine Anweisung seiner Herrin. Kíaná von Wijdlant schien tatsächlich nachdenklich zu werden.

Die teirandanja setzte sich mit einem Ruck auf. „Herr Unbekannt, es gibt nichts anzunehmen. Ihr mögt versichert sein, dass auf meinem vasposár alles mit rechten Dingen zugeht. Verderbt mir die Freude daran nicht, indem Ihr Verschwörungen und Zwist herbeiredet. Es sei denn natürlich, ihr hättet handfeste Beweise. Vielleicht sogar einen Namen. Also?“

Kíaná von Wijdlant wandte sich überrascht ihrer Tochter zu. Kárar schaute unverwandt zu der Zofe in dem honigfarbenen Kleid hin. Würde sie nun endlich nervös?

Nein. Sie verzog keine Miene. Sie hatte sich wirklich sehr gut im Griff.

„Nein“, sagte er dann. „Ich redete lediglich über erdenkliche Vorkommnisse. Vergebt. Ich habe wohl zu viele Geschichten von schlechten báchorkoray gehört.“

„Dann seid weiterhin so aufmerksam, Herr Unbekannt.“ Kíaná von Wijdlant erhob sich. „Zu schade, dass wir noch nicht erfahren dürfen, wer Ihr seid. Vielleicht würde das klären, was Euer Misstrauen so nährt. Solltet Ihr tatsächlich von etwas Verdächtigem Kenntnis erhalten, zögert nicht, es an yarl Grootplen heranzutragen. Und nun entschuldigt uns. Yarl Moréaval, begleitet unseren Gast ins Freie. Ihr findet uns anschließend im Garten bei der Laube.“

Die teirandanja schien es besonders eilig zu haben, ihrer Mutter zu folgen. Grüßend nickte sie in seine Richtung, ohne ihn eines aufmerksameren Blickes zu würdigen. Die Zofe sputete sich, ihnen zu folgen. Die drei Damen verließen das Audienzgemach durch eine kleine Seitentür.

„Folgt mir.“ Moréaval deutete auf die Haupttür zum Flur. „Hier geht es heraus.“

„Ich finde schon zurück zu meinem Pferd. Bemüht Euch nicht.“

„Nun, es ist mir keine Mühe. Ich muss ohnehin ins Freie. Also?“

Zwar war es Kárar Ferocrivé ganz und gar nicht recht, so aus der Burg komplementiert zu werden. Trotzdem – sich mit dem persönlichen Wächter der Damen gut zu stellen, das konnte wahrlich nicht schaden.

„Ich bedauere es, die Damen befremdet zu haben. Nichts lag mir ferner, als Dinge leichtfertig zu behaupten. Aber Ihr wisst selbst, wie das bei so vielen Turnieren zugeht, nicht wahr?“

„Natürlich. Ich nehme an, Eure Bedenken rühren von persönlichen Erfahrungen her. Und gerade deshalb wird bei diesem hier so etwas nicht passieren. Die teiranda hat verfügt, dass Zweikämpfe nur mit gestutzten Waffen ausgetragen werden.“

„Tatsächlich?“

„Die teiranday wünschen die jungen Männer am Ende des Turniers fröhlich beim Tanz zu sehen, nicht mit zerschlagenen Gliedern auf einem Krankenlager. Aber selbst daran ist gedacht. Der teirand hat die beste doayra diesseits des Montazíel nebst ihren Gehilfinnen herbefohlen.“

„Interessant.“

Sie hatten den Ausgang auf den Burghof erreicht. Auf Kárars Wink eilte ein Stalljunge fort, um dessen Pferd zu holen. Moréaval machte keine Anstalten, sich zu entfernen. Wahrscheinlich wollte der Ritter sich eigenäugig versichern, dass er sich tatsächlich davon machte.

„Ich würde mich gerne bei der teirandanja für ihre Geduld erkenntlich zeigen. Ich hoffe, mein Geschenk wird ihr gefallen.“

„Was ist es denn?“

„Das … soll ebenso eine Überraschung sein wie mein Name.“

„Bis zum Fest sind es noch einige Tage. Und an dem Abend wird die teirandanja so viele Geschenke erhalten, das sei am Ende nicht mehr weiß, was wessen war. Überlegt Euch etwas Originelles.“

Just in diesem Moment war der Stalljunge mit dem Pferd gekommen. Moréaval hatte höflich und gegrüßt und war er fortgegangen. Wahrscheinlich, um im Garten mit den Damen über ihn zu lästern. Dieser widerwärtige Wichtigtuer!

Kárar Ferocrivé konnte sich gerade noch beherrschen, nicht vor den Augen des Stalljungen abfällig auszuspucken. Er war aufgesessen und hatte sich auf den Rückweg gemacht, wenn auch nicht auf schnurgeradem Wege. Wenn er schon einmal hier war, dann konnte er auch gleich die Gelegenheit nutzen, sich die Dörfer in der Nachbarschaft anzusehen. Auszukundschaften. Wer wusste, wann er das brauchen würde.

Er war nicht der einzige auswärtige Ritter, dem das einfiel. Gleich im ersten Ort traf er auf einen Herrn mit seinem Knappen, der sich mit Vorräten eindeckte. Hier und da hatten Frauen vor ihren Häusern kleine Auslagen mit haltbaren Speisen vorbereitet, die sie feilboten. Offenbar sehr erfolgreich, denn sie sahen aus, als liefen die Geschäfte gut. Er kaufte ihnen etwas Brot, Käse und Nüsse ab und sah sich schaugierig weiter um. Bei einem Weibsbild, das gefüllte Pasteten anbot, kaufte gerade ein Herr ein, der wohl gerade bei der Anreise war, denn im Zeltlager hatte Herr Kárar den noch nicht gesehen. Offenbar kamen der Ritter und seine beiden jungen Begleiter aus der Nähe von Ivaál. Das Wappen auf seinem Schild, golden auf dunklem Grün, zeigte eine Blume, die aus kleineren symmetrischen Elementen zusammengesetzt war. Sein Eisenzeug war nicht weniger mit Gravuren dekoriert. Die groben wollenen Mäntel und Umhänge, die die drei trugen, passen nicht zum Rest der farbenfrohen, goldbestickten Kleidung. Offenbar hatten sie auf der Reise nach Norden die Kälte unterschätzt. Viel Prunk, dachte Kárar. Wahrscheinlich wenig dahinter.

Er beobachtete interessiert, wie einer der Knappen gleich hungrig in eine Pastete biss, kaute, innehielt und seinen Herrn dann mit verzweifelt geweiteten Augen anschaute. Offenbar war ihm ein gänzlich fremdes Gewürz untergekommen. Kárar grinste und beeilte sich, weiter zu kommen, bevor man seine Schadenfreude bemerkte.

Vor der Schmiede war Hochbetrieb. Offenbar nutzten einige Ritter die Gelegenheit, ihr Eisenzeug richten und Rösser neu beschlagen zu lassen. Der Schmied und seine Gehilfen hämmerten, dass die Funken flogen. Etwas abseits, in einem Pferch neben dem Gebäude stand ein Pferd und ließ sich von einigen kleinen Kindern mit duftendem Heu füttern. Kárar wäre fast achtlos daran vorbeigeritten, stutzte dann aber doch. Es war ein ausgesprochen feines Pferd mit sandfarben schimmerndem Fell und weißer Mähne. Zwar kein wuchtiges Streitross, aber kräftiger als ein schneller Renner. Wahrscheinlich floss sogar etwas Feuerblut in seinen Adern. Ein sehr ungewöhnliches Pferd jedenfalls, eine Stute, die sicher nicht zur Schmiede gehörte. Weit besser als das Tier, in dessen Sattel er gerade selbst saß.

„He“, rief er den Kindern zu und zügelte seinen Schimmel. „Wem gehört die?“

Das älteste Bauernbalg, ein etwa acht Sommer altes Mädchen, wusste es. Und es hatte keine Scheu, es ihm, dem fremden Ritter zu verraten.

„Der Herr Merrit holt sie morgen oder übermorgen ab“, erklärte es und lief unerschrocken heran, um auch das weiße Ritterpferd zu streicheln. „Wir passen so lange darauf auf.“

„Merrit? Merrit Althopian?“

Sie nickte aufgeregt. „Der Herr Merrit wird nämlich unser neuer teirand. Mama sagt, die teirandanja wählt ganz bestimmt ihn aus.“

Kárar Ferocrivé saß ab und ging hinüber zum Zaun, um sich das kostbare Pferd aus der Nähe anzuschauen. Ein gutes Auge für Pferde hatte er, der yarlandor von Althopian, selbstverständlich. Ob das für schöne Damen auch zutraf?

„Und der Herr Merrit wäre ein guter teirand, meinst du?“

„Der hat immer süße Früchtewecken“, sagte ein jüngeres Mädchen.

„Die sind gut!“, krähte das jüngste Kind, das vermutlich ein Knabe war. Es steckte in einem Kittelchen und hatte zerzaustes Haar.

„So. Früchtewecken.“

„Immer, wenn Papa etwas für ihn schmiedet, bringt er uns etwas mit“, erklärte die Älteste. „Und einmal durfte ich sogar auf seinem Pferd reiten, auf dem großen braunen Hengst. Das hat Spaß gemacht! Er hat es am Zügel einmal ums Haus geführt.“

Herr Kárar hörte gar nicht richtig zu. Was ging es ihn an, wie dieser hochberühmte Merrit Althopians, Favorit des vasposár, sich bei fremden Bälgern einschmeichelte? Die falbe Stute hier, die war interessant.

Und unerreichbar. Selbst, wenn er es mit Edelsteinen bezahlen würde, wenn das Tier für Althopian bestimmt war und das sogar die Kinder wussten, dann wusste es auch das ganze Dorf. Der Schmied konnte es nicht verkaufen. Er würde es nicht wagen, nicht einmal für den doppelten Wert.

Ob es sich lohnte, Rolk des Nachts herzuschicken und es anders zu lösen? Kárar verwarf den Gedanken mit Bedauern. Nein, das ging auch nicht. Dieses Ross war viel zu auffällig. Jeder würde es erkennen.

Er betrachtete den schönen Falben noch einen Moment bedauernd, ließ die Kinder dann stehen und ritt weiter, zurück zum Zeltlager.

Zwischenzeitlich war es Nachmittag geworden. Rolk würde ihn langsam vermissen und womöglich auf dumme Gedanken kommen.

Auf dem Weg zurück traf er auf dem Weg nahe des Waldstücks auf einen Mann zu Fuß, der offenbar dasselbe Ziel hatte. Beim Näherkommen stelle sich heraus, dass es sich um einen Ritter in Eisenzeug handelte, samt Schwert und einem wappenlosen Schild, den er auf seinem Rücken trug. Kárar musterte den jungen Mann abschätzig. Sein Rumpfzeug klapperte, war nur nachlässig verschnallt. Den Helm trug der Bursche unter dem Arm. Die Ausrüstung des Ritters war ähnlich veraltet wie die, mit der man ihn selbst losgeschickt hatte. Das amüsierte Kárar Ferocrivé. Immerhin ging es ihm noch besser.

„He! Ihr da unten!“, rief er und trabte heran. „Was scheppert Ihr hier zu Fuß einher?“

Der junge Ritter blickte auf. Er hatte merkwürdig zerzaustes, goldblondes Haar und Kratzer an Kinn und Wangen. Entweder hatte er mit mangelndem Geschick versucht, sich zu rasieren, oder war mit dem Gesicht voran in ein Distelgesträuch gestürzt. Seine Augen waren von einem sonderbaren Blau. Hübsch war er, ausgesprochen gefällig. Leicht zu beeindruckende fánjulaé würden sicher Gefallen an ihm finden.

„Ich hab kein Pferd.“

„Das sehe ich. Wer seid Ihr?“

„Ich bin … versteckt unterwegs. Und Ihr?“

Kárar klopfte an seinen blanken Schild. „Was für ein Zufall. Wir haben denselben Namen. Geht’s zum Lager? Zum vasposár?“

„Zum Lager will ich, in der Tat. Und später auch zum vasposár.“

„Da kommt ihr aber nicht weit. Was ist mit Eurem Ross geschehen? Mit Euren Begleitern? Und Eurem Gesicht?“

Der junge Mann brauchte einen Moment zum Antworten, so peinlich war ihm wohl die Sache. „Mein Ross … das musste ich zurücklassen. Es … war zum Turnier nicht mehr zu gebrauchen. Und meine Begleitung, nun … weggelaufen und verschwunden. Aber sie kann noch nicht weit fort sein! Und wenn ich sie finde, dann …“

Er sprach nicht weiter. Vermutlich, weil er selbst überlegen musste, wie er mit seinen untreuen Knappen umspringen sollte, die ihn im Stich gelassen hatten, nachdem sein Ross verunglückt war. Fast konnte der arme Kerl einem leidtun.

„Wenn Ihr Hilfe benötigt“, erklärte er dem jämmerlichen Fußkämpfer, „solltet Ihr zur Burg gehen. Das ist in der anderen Richtung. Yarl Moréaval wird es ein Vergnügen sein, Euch zu helfen.“

„Ich brauche keine Hilfe“, gab der junge Mann zurück. „Ich brauche nur ein Pferd.“

„Das ist Euer wichtigstes Anliegen?“

„Wie Ihr selbst sagtet, ohne ein Ross komme ich nicht weit. Ich hoffe, im Lager hätte jemand vielleicht ein überzähliges Tier zum Verkauf. Oder als Leihgabe.“

„Habt Ihr denn Geld?“

„Mehr als genug, denke ich.“

Interessant.

„Hört zu, junger Freund. Mag sein, dass im Lager jemand ein Pferd übrig hat und es Euch verkaufen würde. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit.“

„Ja?“

„Ich weiß, wo ein gutes Pferd zu haben ist. Aber es ist nicht so einfach, heranzukommen.“

„Was heißt das?“

„Ihr werdet darum handeln müssen.“

„Das ist kein Problem. Für gewöhnlich bekomme ich stets das, was ich will.“

Kárar Ferocrivé frohlockte. Wie er es erwartet hatte: ein naiver Trottel. Wahrscheinlich trat er wappenlos an, weil seine Familie sich nicht mit ihm blamieren wollte.

„Dann folgt mir. Seid mein Gast. Ich habe nur ein bescheidenes Zelt, aber ein gutes Bier und eine einfache Mahlzeit habe ich anzubieten.“

„Ich danke Euch. Aber ich werde Eure Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Lasst mich im Zeltlager schauen, ob ich ein Ross finde, und wenn nicht, erzählt mir von dem euren. Aber zunächst muss ich nach meiner Begleitung Ausschau halten. Nicht unwahrscheinlich, dass auch sie auf den Gedanken kam, bei den edlen Herren Rat und Hilfe zu suchen.“

Er schritt ausdauernd neben dem Pferd her. Kárar Ferocrivé versuchte, den seltsamen Kerl auszuhorchen. Aber mehr, als dass er weit aus dem Süden kam, brachte er nicht aus ihm heraus. Immerhin, der junge Mann kannte sich aus und wusste, mit wem sie es beim vasposár zu tun bekamen.

Im Zeltlager angekommen, trennten sich ihre Wege. Kárar gab sein Pferd in die Obhut der Pferdeknechte, die bei den Pferchen für Ordnung sorgten. Dann beschrieb dem rosslosen Ritter noch, woran er sein Zelt erkannte. Der Blonde blieb bei einem Grüppchen bestens gelaunter Ritter und minderem Volk stehen, die sich köstlich über ein windschiefes Prachtzelt amüsierten und über das Geschrei, das ein hochedler Herr mit hochrotem Kopf über zwei verschüchterte Knappen einprasseln lief. Kárar sah gerade noch, wie der junge Mann das Schauspiel einen Augenblick verwirrt betrachtete und dann sehr höflich den yarl von Ycelia ansprach.

Als er sich dem Zelt näherte, hörte er Rolk drin leise fluchen und dann laut aufschreien. Ein absonderliches Kreischen und Quietschen übertönte das Wehklagen des Knappen.

Kárar Ferocrivé schob mit einem Stoßseufzer das Tuch beiseite, das den Zelteingang verschloss.

„Was ist hier los, Kerl?“, fragte er unheildrohend und wollte gerade lospoltern, unterbrach sich aber verblüfft.

Rolk saß breitbeinig am Boden und hielt dazwischen den Helm festgeklammert. Das Visier hatte er aufgeklappt. Offenbar versuchte er, etwas zu packen, das unter dem Helm saß und sich heftig zur Wehr setzte. Der Junge war nassgeschwitzt und sah aus, als habe er vor Schmerz sogar ein paar Tränen vergossen.

Rolk zog die Hand aus dem Helm und klappte hastig das Visier zurück.  Tatsächlich, seine Finger waren zerschrammt und blutig. Unter dem Metall quietschte es dumpf. „Ich … hab was gefangen, Herr!“, berichtete er aufgeregt.

„Klingt nach einer Ratte.“

„Nein, Herr, viel besser! Es wird Euch gefallen. Ich bekomme es nur nicht raus. Es beißt!“

Kárar Ferocrivé setzte sich auf sein Bett und schüttelte tadelnd den Kopf. Dann zog er sich seine eisenbeschlagenen Handschuhe aus und warf dem Jungen einen davon zu. „Versuchs hiermit. Nun bin ich neugierig.“

Rolk streifte sich den Waffenhandschuh über und klappte das Visier ganz vorsichtig beiseite. Nun glückte es. Strahlend vor Stolz zog der Knappe ein strampelndes, empört keckerndes Tier hervor. Es versuchte, seine spitzen Zähne in dem Handschuh zu versehen, aber das Eisen tat seinen Dienst.

„Was ist das?“, fragte Kárar Ferocrivé. „Ein Eichhörnchen?“

„Ich weiß nicht, Herr. Denke schon.“

„Und was willst du damit?“

„Ich hab es für Euch gefangen, Herr!“

„Und was soll ich damit?“

„Ich wollte Euch damit überraschen. Wir könnten ihm das Fell abziehen, ausstopfen und einen  Helmschmuck daraus machen.“

Das schwarze Tierchen kreischte erzürnt. Es war wohl nicht mit Rolks Plan einverstanden.

„Wann“, fragte Herr Kárar und fragte sich, warum er ausgerechnet diesen Kerl als Gehilfen hatte zugeteilt bekommen, „hast du zum letzten Mal einen Ritter mit einem räudigen Nagetier auf dem Helm gesehen?“

„Es ist so flauschig! Sein Schwanz ist wie ein Federbusch.“

„Ja, für einen Puppenhelm! Bei den Mächten, Kerl, wie viel Zeit hast du für diese Narretei verschwendet?“

Rolk schien ernsthaft enttäuscht. „Dann wollt ihr es nicht? Was soll ich denn jetzt damit machen?“

„Mir egal. Lass es frei oder schlag es tot, aber lass mich in Frieden mit diesem Unfug. Nachher kommt ein …“ Er unterbrach sich und runzelte die Stirn. Eine gute Idee kam ihm in den Sinn. Nein: eine ausgezeichnete Idee. „Warte. Halt es fest und lass es am Leben. Ich bin sofort wieder zurück.“

Kárar Ferocrivé schaute sich bei yarl Ycelia nach etwas Brauchbarem um. Das bunte Prachtzelt stand offen und war verwaist. Wahrscheinlich war zwischenzeitlich die ganze Schar der Wettkämpfer nebst Gefolge um die Gauklernummer mit dem schiefen Zelt weiter vorn versammelt. In einer Ecke hatten der yarl und seine Leute einige bauchige Krüge aus dickem, klaren Glas aufgestellt, gefüllt mit dem starken Bier, das sie daheim gegen die Kälte tranken. Einer der Krüge war fast leer, sicher seit der Nacht zuvor. Kárar nahm sich den Krug und brachte ihn behutsam hinüber in sein eigenes Zelt.

„Hier.“ Er schüttete den Rest des edlen Starkbiers in einen der eigenen Krüge und stellte den gestohlenen vor Rolk ab. „Rein mit dem Vieh.“

„In den edlen Krug? Habt Ihr den … erbeutet?“

Ausgeliehen hab ich ihn. Einen leeren Krug vermissen die Tölpel hoffentlich nicht so schnell. Mach schon!“

Rolk setzte das Eichhörnchen auf den Boden des Kruges. Kaum hatte er es losgelassen, begann es, darin herumzuwirbeln, zu springen und zu kratzen. Einen Moment lang beobachteten sie, wie das Tier sich abmühte und dann aufgab. Das glatte Glas war unüberwindbar und der sich verjüngende Hals des Gefäßes machte es unmöglich, einfach herauszuspringen.

„Es ist wirklich niedlich, nicht wahr, Herr?“, fragte Rolk nach einer Weile. „Meine kleine Schwester hatte auch mal eines. Es war fast zahm.“

„Ja. Sehr niedlich. Genauso possierlich, wie junge Damen es lieben. Gut gemacht, Rolk.“

„Tatsächlich, Herr?“ Rolk sah nahezu fassungslos aus. So selten wurde er gelobt.

„Das löst mir in der Tat ein Problem. Du hast dir eine Belohnung verdient. Aber vorher machst du noch etwas anderes.“

„Ja?“

„Du gehst zurück ins Dorf und versuchst, dort einen kleinen Käfig aufzutreiben. Komm nicht zurück, bis du einen gefunden hast. Kannst du dir das merken?“

„Natürlich, Herr. Ich bin schon unterwegs!“

„Brav.“ Kárar Ferocrivé streckte sich auf seiner Liegestatt aus. „Dann los. Und noch etwas. Im Dorf wirst du ein ungewöhnlich edles Pferd vorfinden. Merke dir gut, wo es sich befindet.“