Pataghíus Glanz war schon so weit im Norden den Himmel hinab gesunken, dass es draußen langsam dunkel wurde. Als Manjév endlich die Laube verlassen konnte, waren sogar schon ein oder zwei der besonders hellen von Noktámas Juwelen zwischen den losen Wolkenschleiern hervor geblitzt.

Manjév ging hinüber zum Wohngebäude. Kíaná von Wijdlant folgte ihr nicht. Sicher wollte die teiranda nicht den Anschein erwecken, ihrer Tochter nachzulaufen, auf die sie so lange vergebens eingeredet hatte. Mit sanften, freundlichen und doch versteckt so mahnenden Worten, dass Manjév nun ein schweres Gewissen hatte.

Bei den Mächten, sie alle meinten es so gut mit ihr. Wenn sie doch nur reden, alles erklären könnte! Aber eben das war unmöglich. Sie wusste doch selbst nicht, was sie erzählen sollte. Sie hatte selbst keine Ahnung, warum sie alle ringsum, die eigenen Eltern und vielleicht auch eine Anzahl mächtiger Leute in fernen teirandon so in Ratlosigkeit und Unruhe stürzte.

Auf dem Innenhof war es schon kühl. Hier und da hatten die Eltern Feuerschalen aufstellen lassen, in denen es allerdings noch nicht glomm. Kalt waren die Abende und Nächte, und es waren bereits Gäste in der Burg, hochrangige Herren und Damen, denen man den mangelnden Komfort eines Zeltlagers nicht zumuten konnte. In der Burg war viel Platz. In der Schankstube in einem der Nebengebäude hörte Manjév Stimmengewirr und Gelächter. Offenbar hatten sich dort schon vor dem Abendessen Menschen zusammengefunden.

Die teirandanja warf einen Blick zum Turm empor und schauderte. Das Abenteuer, das sie dort erlebt hatten, sie, Tíjnje und die Knaben, nun alle stolze junge Ritter, war mit den Wintern in ihrer Erinnerung immer und immer mehr verschwommen, verfilzt und verworren in einen diffusen Schlier. Manchmal lichtete der sich in ihren Träumen, und dann wachte sie schweißgebadet und erschrocken auf. Manchmal hörte sie Tíjnje in ihrem Bett nebenan wimmern und stöhnen. Ob sie dieselben Träume hatten? Ob die Jünglinge, ob die Eltern auch noch davon heimgesucht wurden, was damals geschehen war? Und … ja … was war es eigentlich gewesen? Manjév hatte den Verdacht, dass sie alle sich fragten, ob dieses unkenntliche Traumgewebe sie alle miteinander verband. Aber niemand wagte, den anderen darauf anzusprechen.

Einige Monde nach der Sache im Turm, da war sie mit ihren und Tíjnjes Eltern, der opayra und einigen anderen Damen auf einem Ausritt gewesen. Die erwachenden Obstgärten hatten sie besichtigen wollen. Natürlich waren auch einige Wachleute dabei gewesen. Als die Schar am Mittag unter Bäumen gerastet hatte, auf denen weiße und rosa Blüten prangten wie Seifenschaum, war es den Kindern gelungen, sich heimlich fortzustehlen. Die Gespräche der Erwachsenen waren langweilig gewesen, und sogar der báchorkor, den sie bei sich gehabt hatten, hatte nur hohe Poesie vorgetragen, mit vielen Worten, die nicht einmal Láas, der älteste unter ihnen, begriffen hatte.

Manjév blieb stehen und schaute empor. Den oberen Teil des Turmes betrat niemand mehr. Das Dach war repariert worden. Das Gemach ganz oben im Turm auszuräumen, das hatte niemand gewagt. Alles, was dort an Möbeln und Kram gestanden hatte, war unangetastet. Asgaý von Spagor hatte lediglich verfügt, die Tür auszuhängen. Sicherheitshalber war sie verbrannt worden. An den Fensterscharten hatte man nun jedoch die Banner der yarlay des teirandon Wijdlant aufgehängt, und die der Gäste, die bereits eingetroffen waren. Manjév kniff die Augen zusammen und versuchte, sich an die Erläuterungen des mestar zu erinnern, der ihnen die Familienzeichen hatte erklären wollen. Viel davon gemerkt hatte Manjév sich nicht. Wozu gab es Osse? Ab übermorgen würde Osse Emberbey ihr nicht mehr von der Seite weichen. Er würde ihr alles erläutern, was sie wissen musste, und ihr Rat geben, wenn sie ihn fragte. Das Banner von Emberbey prangte bereits am Turm. Die drei Fische auf Honiggelb hingen Seite an Seite mit dem silbernen Pferd auf leuchtendem Blau.

An jenem Tag im Obstwald war es auch Osse gewesen, der die anderen drei gewissenhaft ermahnt hatte, nicht einfach davonzulaufen, ohne nicht wenigstens jemandem Bescheid zu geben. Osse ging bereits in Virhavét zur Schule. Dass er mit seinem Vater einige Tage in Wijdlant war, kam viel zu selten vor.

Ob er denn unbedingt wolle, dass die opayra ihnen mitgeschickt würde?, hatte Jándris gefragt. Man könne der hochedlen Dame doch nun wirklich nicht zumuten, ihnen auf den Bäumen hinterdrein zu klettern. Oder über die Wassergräben zwischen den Gärten zu hüpfen.

Bevor Osse darauf etwas Vernunftvolles hatte entgegnen können, hatten die Jungs sich schon davongemacht, die kleine Tíjnje jauchzend hinterher. Truda war damals noch nicht bei ihnen gewesen.

Manjév musste unwillkürlich lächeln, als sie sich daran erinnerte. Sie hatte kurz gezweifelt, was richtig und vernünftig zu tun sei, und einen fragenden Blick mit Osse gewechselt. Wie deutlich erinnerte sie sich an seine ernsten Augen hinter den runden Brillengläsern. Sie hatte einander angeschaut, zugenickt und waren dann den wilden Knaben gemeinsam nachgerannt.

Natürlich waren sie alle am Ende von den Erwachsenen getadelt und ausgeschimpft worden, denn natürlich hatte man ihr Verschwinden schnell bemerkt, gerade als sie alle die Zerisienbäume erklommen hatten, um dich die schönen duftenden Blüten aus der Nähe anzuschauen. Yarl Altabete hatte Jándris schwere Vorwürfe gemacht. Natürlich nahm man bei allem Unfug, an, Jándris sei der Anstifter. In den allermeisten Fällen traf das zu.

Was ihm denn eingefallen wäre, die teirandanja in Gefahr zu bringen? Was, wenn seine junge Herrin in einen Graben oder vom Baum gestürzt wäre?

Und er, Osse Emberbey, hatte Herr Alsgör mit großer Enttäuschung den eigenen Sohn gefragt. Ob er diesen gefährlichen Ausflug denn nicht besser bedacht hätte.

Osse wollte uns aufhalten, hatte Jándris den jüngeren Knaben in Schutz genommen. Er könne nichts dazu und verdiene keine Strafe.

Doch, die verdiene er, hatte Osse widersprochen. Schließlich sei er mitgelaufen.

Es hatte damit geendet, dass Jándris und Merrit sich einige Tage in den Pferdeställen hatten schwer abrackern müssen, Wasser geschleppt, ausgemistet und Lederzeug gereinigt. Láas, der Älteste und Stärkste, hatte dem Schmied und Osse dem mestar zur Hand gehen und einige wichtige Unterlagen kopieren müssen, in Schönschrift. Tíjnje hatte darauf beharrt, auch ihre Unbedacht abzugelten. Kíaná von Wijdlant hatte dem kleinen Mädchen schließlich nachgegeben und den Gärtner angewiesen, sie Unkraut rupfen zu lassen.

Und sie, Manjév von Wijdlant und Spagor?

Ich bin auch mitgegangen, hatte sie zu ihren Eltern gesagt, als die anderen und ihre Eltern fort waren.

Du hättest sie aufhalten müssen, hatte Asgaý von Spagor gemahnt. Du bist die teirandanja. Du kannst ihnen befehlen. Sie müssen dir gehorchen.

Wir wollten nur die schönen Blumen sehen, hatte Manjév leise zugegeben. Wir wollten nichts Gefährliches tun.

Kind, hatte Kíaná von Wijdlant gesagt, noch sind die vier nicht so weit, dass sie dich beschützen können.

Beschützen? Aber vor wem denn?

Darauf hatte sie keine Antwort bekommen, den rätselhaften Blick aber wohl bemerkt, den Vater und Mutter ausgetauscht hatten. Und dann war sie in die Kleiderkammer gegangen, hatte sich dort von einer erstaunten Magd ein Arbeitskittelchen geben lassen. Damit angetan war sie am folgenden Tag in die Küche hinabgestiegen und hatte der nicht minder verwirrten Küchenmeisterin befohlen, ihr eine Aufgabe zu erteilen, die sie erledigen konnte, solange ihre Getreuen anderswo in der Burg beschäftigt waren.

Und so hatte Manjév in der Küche gesessen, zwischen geschäftig umherlaufenden Schutzbefohlenen, zwischen brodelnden Kesseln und zischenden Pfannen, und hatte mit großem Ernst Gemüse geschnitten, Nüsse geknackt und Teig geknetet. Sehr zum Befremden und zur anfänglich mühsam verborgenen Belustigung der Kinder, die in der Küche beschäftigt waren.

Die Eltern hatten es nie ausgesprochen. Doch Manjév war sehr stolz darauf gewesen, wie beeindruckt die Erwachsenen von der Loyalität schienen, die die fünf Kinder untereinander verband.

„Majestät?“

Es war yarl Grootplen, der die teirandanja aus ihren Gedanken riss. Der beleibte Ritter war seit den letzten Wintern immer häufiger nur noch im Wappenrock gekleidet. Tíjnje flüsterte, dass ihr Großvater nicht mehr in sein Eisenzeug passte, seit ihn das Alter langsam vom Pferd in die Amtsstube zog.

„Herr Daap? Wie schön, Euch zu sehen. Ist alles nach Plan bei den Vorbereitungen?“

„Ich unterrede mich gerade mit dem arbidror aus Pianárdent. Ein beeindruckender Mann und Kenner der Wettstreiter. Ihr solltet ihn zu einem Gespräch empfangen. Ich sah Euch hier stehen und fragte mich …“

„Macht einen Termin morgen dafür und lasst es mich durch Truda oder Herrn Jóndere wissen, später nach dem Essen. Ist alles beim Rechten auf bei unseren Gästen im Lager?“

„Nichts, was Anlass zur Sorge böte, Majestät. Der maedlor berichtet nur von den kleinsten Ärgernissen.“

„Ärgernisse?“

„Offenbar hat jemand das Zelt des yarl von Ycelia besudelt. Ich gehe von einem unglücklichen Missgeschick aus.“ Daap Grootplen lächelte. Augenscheinlich wurde in der Schankstube schon etwas Kräftigeres gereicht. „Nachts, im Dunklen, und wenn es eilt … nun. Das ist nichts für die Ohren einer Dame.“

Manjév lächelte. Sie mochte den Ritter mit dem eisgrauen Schnauzbart sehr. Um den Hals trug er stolz die Amtskette, anhand derer ihn auch Leute als mynstir der teiranda erkannten, die ihn noch nicht von Angesicht kannten. „Ist das Bett für Eure hýardora schon in Euer Gemach gestellt worden?“

„Heute früh wurde es gebracht. Ich danke Euch, Majestät.“

„Ich freue mich, Eure hýardora wieder einmal zu Gesicht zu bekommen. Es ist viel zu lange her.“

„Was, wenn nicht Euer vasposár, wäre eine passende Gelegenheit für eine solche Reise.“ Er verneigte sich und fügte hinzu: „Ich wäre so überglücklich, wenn Láas zu diesem Anlass sein Glück fände.“

„Oh.“ Manjév zuckte zusammen. Dass Láas bereits eine fánjula gefunden hatte, deren Herz im Takt mit dem seinen pochte, hatte sich bis zu seinen Eltern noch nicht herumgesprochen. Manjév und ihre Hofdamen wussten natürlich davon. Aber vor dem vasposár sollte niemand davon erfahren. Das hatten sie alle dem hünenhaften Jungritter versprochen, zumal es sich bei der jungen Frau nicht um eine yarlara handelte. „Mögen die Mächte geben, dass mein Fest viele Menschen glücklich zusammenbringt. Bitte, entbietet dem arbidror meine Grüße. Ich habe es nun eilig. Ich muss mich noch umziehen. Bis später zum Essen, Herr Daap.“

Sie nickte ihm zu und ließ ihn stehen, bevor er sie noch in ein tieferes Gespräch verwickeln konnte. Den Weg zurück in ihr Gemach legte sie so schnell zurück, dass sie gerade eben nicht lief, aber doch keine Zeit verlor, bevor sie noch yarl Moréaval oder sonst jemanden in den Weg geriet.

In der Burg wurde noch gearbeitet. Gesinde schleppte Stoffe, Matten, Bretter und Leisten umher. Alle geeigneten Zimmer abseits der herrschaftlichen Räume sollten als Gästegemächer für jene genutzt werden, denen ein Zelt nicht mehr zuzumuten war. Man bemühte sich, größere Zimmer zu unterteilen, sodass man mehrere Personen unterbringen konnte. Aber die Geschäftigkeit kam langsam zum Erliegen. Es wurde zu dunkel.

Manjév schritt mit einem kurzen Gruß an den Wachen vorbei, die den Korridor zu ihrem Gemach beaufsichtigten. Als sie in die Kemenate schlüpfte, fand sie Truda wieder am Fenster vor. Das Mädchen nutzte das letzte Tageslicht für seine Lektüre.

„Du wirst Dir noch die Augen verderben. Dann brauchst du eine Brille, wie dein Bruder.“

„Es ist grade so spannend! Ich will doch unbedingt wissen, ob die Rosendame den Smaragdritter erhört oder ob er voller Liebesgram in die Fremde zieht.“

Manjév ließ sich auf Ihrem Bett nieder. „In den Romanen ist das alles zu einfach.“

Truda legte das Bändchen zwischen die Seiten und klappte ihr Buch zu. „War es schlimm?“

„Das Übliche. Merrit hier, Merrit da. Sie verstehen einfach nicht, dass… Ach. Auch wir müssen nicht immerfort darüber reden.“

„Es will einfach niemandem in den Kopf, warum das für dich so eine schwere Sache ist.“

„Man sollte meinen, ich hätte bei meinem eigenen vasposár die freie Auswahl“, grollte Manjév. Dasselbe, nur in sehr viel verbrämteren und vorsichtigeren Worten hatte sie die Mutter in der Laube wissen lassen.

„Wenn er wüsste, dass du so redest“, sagte Truda und stellte ihr Buch zurück in das Regal über ihrem Bett, „dann würde er sich wohl mit dem Smaragdritter zusammentun und in die Ferne ziehen.“

„Wie bitte?“

Truda schüttelte den Kopf. „Na, Dummheiten, wie die Männer sie anfangen, wenn sie etwas anderes verwundet hat als die Klinge eines Feindes. Der Smaragdritter zum Beispiel würde vor Liebesweh ausziehen, um gefährliche Drachen zu jagen.“

„Es gibt keine Drachen.“

„Aber es gibt Gefahren. Erst kürzlich habe ich gehört, wie Herr Andriér sich mit deinem Vater unterhalten hat. Es sind wohl Werber unterwegs, die junge Männer beschwatzen für eine Reise in die Eislande. Und das alles nur, weil sie nach einem anderen Herrn geschaut hat.“

„Truda, du redest wirr. Wen meinst du?“

„Die Rosendame.“

Manjév seufzte. Offenbar vermengte sich in Trudas jungem Kopf gerade das echte Weltenspiel mit einer uralten Erzählung. Aber irgendetwas sprengte sich von Trudas Worten an und blieb an Manjévs Gemüt haften, wie eine Staubfluse. Eine von der Art, die man lange Zeit unbemerkt am Rücken auf dem Mantel trägt.

Das jüngere Mädchen zögerte einen Moment. Dann ging sie hinüber zu Tíjnjes Kleidertruhe und hob den Deckel an.

„Was willst du an Tíjnjes Sachen? Das gehört sich nicht!“

„Ich will dir nur was zeigen. Und das auch nur, weil sie gerade nicht da ist, um es selbst zu tun. Schau!“

Truda nahm ein flauschiges, kunterbuntes Ding aus der Truhe und gab es Manjév in die Hand. Es war ein Strauß aus schillernden Prachtvogelfedern, lang wie Manjévs Unterarm mitsamt Hand. Im unteren Bereich, über einer metallenen Fassung, waren die Federfasern sorgfältig zerzaust und mit goldenen und silbernen Fäden und kleinen schimmernden Metallplättchen durchwirkt.

„Ist das eine Helmzier für Jándris?“, fragte Manjév beeindruckt, denn der Schmuck war wirklich sehr gut gelungen. Wenn er auch ein wenig zu sehr nach Tíjnjes Geschmack glitzerte, als es zu dem feschen jungen Ritter passte.

Truda nickte.

„Wo hat sie die Fassung her? Und wann – oder besser: Wo hat sie das gemacht, ohne dass es jemand bemerkt hat?“

„Die Fassung hat ihr Merrit besorgt. Und gebastelt hat sie in seiner Stube. In der Truhe liegt es jetzt nur, weil unten in den Kammern zu viele Leute herumkramen.“

Manjév ließ den Federbusch in ihren Schoß sinken. „Warum zeigst du mir das, Truda?“

„Ich dachte, du solltest wissen, dass Merrit weiß, dass einige von uns sich sehr sorgfältig für das Turnier interessieren. Ich würde mich nicht wundern, wenn sogar dieses Schankmädchen von Láas ein Geschenk für ihn hätte.“

„Du meinst, wenn ich nichts bringe, was Merrit sich an den Helm stecken kann, werden Leute tuscheln?“

Truda seufzte und ließ sich neben Manjév nieder.

„Willst Du wirklich, dass er mit nacktem Helm in das Turnier zieht?“

„Truda, du kennst seinen Turnierhelm. Der hat einen Helmschmuck, in silber und blau. Wie es sich gehört.“

Truda nahm ihrer Herrin den glitzernden Federschmuck wieder ab und legte ihn zurück in die Truhe. Gerade noch rechtzeitig, denn es klopfte. Asgaý von Spagor begehrte höflich Einlass. In der Hand trug er ein kleines Paket, eingeschlagen in weißes Tuch. Er war in Begleitung eines Mannes in schlichten Gewändern aus teurem Tuch. Der verneigte sich tief, blieb aber auf dem Flur stehen.

„Papa?“, fragte Manjév erstaunt. Dass der teirand so kurz vor dem Abendessen noch ins Zimmer der Mädchen kam, war ungewöhnlich.

„Ich habe etwas für dich, Kind. Eigentlich solltest du es noch nicht sehen, aber deine Mutter meinte, es ist vernünftiger, wenn du es kurz anprobierst.“

„Jetzt?“

„Es wurde gerade eben gebracht.“ Der teirand reichte ihr das Päckchen und nickte in Richtung des Mannes auf dem Flur. Der hielt seine Mütze in Händen und schaute Manjév erwartungsvoll an.

„Ein Geschenk?“, fragte die teirandanja. „Von wem?“

„Von uns. Von Kíaná und mir.“

Manjév betastete das Tuch. Etwas Massives, Schmales was darin. Etwas Ringförmiges.

„Ist das etwa …“

„Mach es auf.“

Manjév wickelte den Stoff auf und hielt den Kronreif ehrfürchtig in die Höhe. Breit wie zwei Finger war er und gefertigt aus einem dünnen Band Gold. Das Licht reichte nicht aus, dass Manjév jedes Detail erkennen konnte. Die vordere Hälfte war mit Perlmutt und feinen Perlen besetzt. Die andere Hälfte des Rings verjüngte sich und war mit feinen silbernen aufgelegten Drähten verziert.

Vorn an der Stirn prangte ein einzelner Edelstein. Ein Opal, der in allen Farben schimmerte, als Manjév ihn gegen die letzten Sonnenstrahlen hielt. Die teirandanja erschauerte. Diesen Stein kannte sie.

Asgaý von Spagor erahnte ihre unausgesprochene Frage.

„Du sollst ihn haben, den angeglichen Zauberstein“, sagte er. „Er hat zwar nicht bewirkt, was versprochen war. Aber hübsch und wertvoll ist er allemal.“

„Wie schön!“, freute Truda sich. „Setz es auf, Manjév! Mach schon!“

„Wenn sie nicht passen sollte, nimmt der Goldschmied sie wieder mit und passt sie an. Setz sie auf und schau, wie sie dir steht.“

Manjév erhob sich und ging zu ihrem Spiegel. Die Krone passte wie angegossen.

Staunend betrachtete sie ihr Abbild. Wie fremd sah sie aus! Wie schön glänzten die Perlen im Gold auf ihrem blonden Haar. Wie seltsam schimmerte der Stein auf ihrer Stirn. Wie schwer war das Metall.

„Das hast du hervorragend gearbeitet“, lobte sie den Goldschmied. „Sie passt wie angegossen.“

Der Mann er errötete vor Stolz und Freude. Tief verbeugte er sich.

Sie schaute sich anl. War sie das wirklich? War sie das, mit dem Zeichen ihrer Macht?

„Manjév?“

Sie schrak auf. Wie lange hatte sie in den Spiegel gestarrt? Ihr Vater stand neben ihr.

„Gib sie mir zurück. Noch ist es nicht so weit. Offiziell bekommst du sie nach dem vasposár.“

„Natürlich.“ Manjév nahm die Krone bedauernd ab und gab sie ihm in die Hand. „Danke, Papa.“

„Wir hoffen, dass sie dir und dem teirandon Glück bringen wird.“ Asgaý von Spagor packte die Krone wieder ein. „Wie erwachsen du geworden bist, Kind. Eine große und gerechte Herrscherin sollst du sein.“

Manjév nickte. Asgaý von Spagor neigte sich vor und berührte ihre Stirn mit der seinen. Manjév erwiderte die Zärtlichkeit.

Ob der Goldschmied wohl schon eine Krone in Arbeit hatte, die auf Merrits Kopf passte?