Venghiár hatte zwar angenommen, mit Hevstrid ein leichtes Spiel zu haben. Aber er wurde darüber hinaus angenehm überrascht. Das Mädchen war nicht dumm. Nicht gerissen und weitdenkend genug, dass er sie als seiner ebenbürtig angesehen hätte. Doch sobald das zuvor so verängstigte Mädchen begriffen hatte, dass er sie nicht für ein kurzes Vergnügen, sondern für etwas Größeres brauchte, war es zusehends selbstsicher geworden. Bis zu einem Punkt, an dem es versucht hatte, mit ihm zu handeln.

Für einen Moment war er darüber fast erbost gewesen, aber er hatte sich lang genug beherrschen können, um einzusehen, wie nützlich ihm selbst das sein würde. Nun, bei näherem Nachdenken, imponierte es ihm beinahe. Er ließ ihr ihren Willen, sie war ihm zu Willen. Hervorragend.

Er hatte ihr von Cró und Ungro berichtet, die spätestens am übernächsten Tag mit den restlichen Pferden auftauchen würden. Er hatte ihr erklärt, dass die beiden brauchbare und treue Knechte seinen, denen er aber doch die Burg nicht gänzlich überlassen wollte. Solange er sich in Wijdlant um das Überbringen der traurigen Botschaft und die Regelung der Familienangelegenheiten kümmere, brauche er Hilfe. Hilfe von jemand Klugem und Loyalen, der für ihn ein Auge auf seine Gehilfen hielt und sie an ihre Pflichten erinnerte.

Er könne sich auf sie verlassen, hatte sie ihm geschworen, fast etwas zu wenig überrascht über sein Ansinnen. Aber dafür müsse er ihr entgegenkommen.

Was sie sich erlaube?, hatte er gefragt, halb zornig, halb amüsiert.

Es sei sehr einfach, sich Feinde im eigenen Haus zu machen, hatte sie nur geantwortet. Ob er denn nicht wisse, wie man ihn in der Burg Emberbey fürchtete, aber sicher nicht auf die Weise, die einem hochedlen Herrn gut anstünde.

Venghiár hatte ihr mehr von dem Met aus des Großonkels so wert gehaltener Flasche gegeben. Ein seltsames Zeug war das. Es schmeckte köstlich, aber obwohl es so schwer, fast etwas ölig auf der Zunge blieb, brachte es nicht das Gefühl, dass er von Met gewohnt war. Nun, vielleicht war mit der langen Zeit der Geist verflogen. Umso besser. Nicht, dass ihm beim Schuss nachher die Hand zitterte.

Ob sie denn nicht fürchte, für solche Anmaßung an Leib und Leben bezahlen zu müssen?

Schon, hatte sie gesagt. Aber es würde ihm schon schwerfallen, zu erklären, wie ihr Blut an seine Hände gelangt sein sollte. Schließlich sei er vor Zeugen mit ihr fortgegangen.

Bei den Mächten, wie verschwendet war dieses Mädchen an den Dienst an Küche und Waschbottich!

Als die Flasche schließlich ausgetrunken und die Dinge besprochen waren, war die Sonne im Meer versunken. Das Schauspiel des goldenen Wassers war vorüber, ohne dass einer von ihnen Notiz davon genommen hatte.

Venghiár begleitete das Mädchen zur Klippe, nachdem er sich den Langbogen aus seinem Gemach geholt hatte. Sie hatte nicht versucht, die Gelegenheit zur Flucht zu nutzen und brav auf ihn gewartet. Sehr gut.

Unten am Strand standen sie bereits mit lodernden Fackeln und umringten das Floß. Nun, ohne ihn würde das Spektakel ohnehin nicht anfangen, also hatte er Zeit. Als sie am Rosenbogen ankamen, war der altgediente Wächter mit seiner Glefe nicht mehr allein. Der Waffenknecht aus Rodekliv hatte sich mit einer eigenen Fackel hinzugesellt. Als er Venghiár bemerkte, nahm er lässig Haltung an. Sein Kamerad schaute mit blankem Blick und versteinertem Gesicht.

Hevstrids Mutter saß erschöpft und verheult nahe der Klippe im Gras, den Besen fest umklammert. Die Möwen hatten nun Ruhe gegeben, aber der Tag war ihr wohl lang geworden. Dass sie dadurch daran gehindert worden war, ihrer Tochter beizustehen, hatte sie wohl verwirrt und verzweifelt. Vom maedlor war kein Geschrei mehr zu hören.

Venghiár amüsierte sich. Er griff nach Hevstrids Hand und führte sie so galant, wie er es bei einer edlen Dame getan hätte. Das Mädchen stutzte und ließ sich das kurz gefallen, aber der verständnislose Blick der Frau brachte es zur Besinnung.

„Kind!“, rief das Weib aus, rappelte sich auf, der Besen entglitt wunden Händen. Hevstrid ließ ihn stehen und fiel der Mutter um den Hals. Die Frau heulte erneut, wie ein Wasserfall, und umschlang die Tochter innig und so fest, als fiele eine Last von ihr ab. „Kind! Kind!“

„Beruhige dich, Mama“, wehrte sie die ältere Frau sanft ab. „Herr Venghiár ist gut zu uns!“

„Holt den Kerl herauf“, befahl Venghiár und spähte an den Strand hinunter. Über das Klatschen und Brodeln der Wellen in der Tiefe meinte er, vom Strand Weinen und Jammern emporklingen zu hören, ganz leise. Waren diese Leute tatsächlich so getroffen vom Ende des Alten? Waren sie dem freudlosen, verbitterten Greis wirklich so zugetan gewesen? Weinten sie um ihn oder über die Dinge, die sich hier bald ändern würden?

Die Waffenknechte zogen den maedlor am Strick hinauf auf die Klippe. Venghiár kam mit seiner Fackel näher heran, um besser sehen zu können. Der Mann lebte, sah aber arg geschunden aus. Er hatte blutige Schrammen überall dort, wo die Möwen ihn mit Schnäbeln und Krallen erwischt hatten und der Wind ihn gegen die Felsen gestoßen hatte. Seine Hose war feucht und er starrte mit weit aufgerissenen Augen hinauf zu Noktámas juwelenbesetztem Schleier, sicherlich ohne etwas zu sehen. Stumm zitterten seine Lippen.

Die Frau ließ ihre Tochter los und schluchzte über der Brust ihres hýardor weiter.

Venghiár ließ das einen Moment zu. Dann trat den maedlor sacht in die Rippen. „Kannst du mich hören?“

Der Blick des Mannes zuckte zu ihm hin. Sein Gesicht verzerrte sich, als sähe er einen Chaosgeist vor sich. Er hauchte, stotterte etwas. Unverständlich.

„Vater“, sagte Hevstrid und kniete neben ihm nieder. „Vater, alles ist gut. Alles ist vorbei. Du bist in Sicherheit.“

„Macht ihn los“, befahl Venghiár den Männern. „Und du,“ wandte er sich an den Waffenknecht aus Rodekliv, „du sorgst mir dafür, dass mir die beiden augenblicklich aus den Augen kommen. Ich will sie auf Lebzeiten in Emberbey nicht mehr sehen.“

„Herr!“, begehrte die Mutter auf, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Du hast Zeit, solange alle anderen unten am Strand Herrn Alsgör betrauern, aus euren Gemächern zu holen, was euch gehört und du mit zwei Händen tragen kannst. Pack ein, was du für wichtig hältst. Er hier“, er deutete auf den rodeklivschen Wachmann, „wird aufpassen, dass dir nicht noch andere Sachen einfallen. Ist das klar?“

Sie nickte hastig. „Ja. Ja, Herr.“

„Besitzt er ein eigenes Pferd?“

„Der eld-yarl, möge er hinter den Träumen in Frieden sein, hatte ihm ein Maultier geschenkt. Für seine immer treuen Dienste … Herr.“

„Das kann ich nicht brauchen. Nehmt es mit. Es passt mir nicht, aber ich sehe ein, dass dein hýardor die nächste Zeit auf eigenen Beinen nicht so schnell laufen könnte, wie es nötig ist. Ich verbanne euch aus Emberbey.“

Die Mutter schaute verblüfft erst auf ihn, dann zweifelnd zu Hevstrid.

„Kind“, wisperte sie.

„Ich bleibe hier, Mutter. Herr Venghiár wird zufrieden mit mir sein.“

„Aber … Hevstrid!“

„Du hast es in der Hand, Weib“, sagte Venghiár. „Entweder, du nimmst deinen hýardor, deinen Kram und dein Leben, oder ich überdenke die Sache. Das wäre lästig.“

„Hevstrid“, brachte der maedlor krächzend hervor. „Mein Kind …“

„Es ist alles in Ordnung, Vater.“

„Aber Herr“, begehrte die Mutter auf, „wohin sollen wir denn gehen?“

„Wie es der Zufall so will“, fuhr Venghiár fort, „weiß ich, dass am Hof von yarl Ferocrivé schreibkundige und demütige Knechte gefragt sind. Wenn Ihr Herrn Ebbmo sagt, dass ich euch geschickt habe, werdet ihr ein Auskommen finden.“

„Nach Ferocrivé?“, ächzte der maedlor.

„Das ist ein großzügiges Angebot von mir. Und es ist mein Einziges.“

„Ich werde morgen bei Tagesanbruch erneut Reiter ausschicken, um nach Raýneta zu suchen. Und wenn einer von denen euch in Richtung Althopian oder Virhavét aufgreifen sollte, dann wird euer braves Töchterlein es zu schmecken bekommen.“

„Tut, was Herr Venghiár sagt“, bat Hevstrid und schaute zu Boden. „Nehmt das Maultier und das Nötigste. Ich komme zurecht.“

Die Mutter griff nach dem Gesicht des Mädchens und schaute sie flehend an. „Kind! Kind!“

Venghiár seufzte und wandte sich an den Waffenknecht mit der Glefe. Der war ihm hier oben zu gefährlich, zu unberechenbar. „Komm du mit mir. Das hier wird mir zu rührselig. Unten warten sie. Hevstrid – was immer ihr noch zu reden habt – denk daran: Es wäre ungeheuerlich, wenn du dich nicht ebenfalls von meinem Großonkel verabschieden würdest. Reiz meine Langmut nicht aus. Und du“, er richtete die Spitze seines Bogens auf den Mann aus Rodekliv, „sorg dafür, dass ich nicht zu lange auf sie warten muss.“

Er gab dem immer wortlosen Wächter die Fackel in die Hand. Einen viel zu langen Moment zögerte der Mann. Dann neigte er sich herab und umarmte den maedlor, seinen Freund, zum Abschied.

„Mögen die Mächte mit euch beiden sein“, hörte Venghiár ihn wispern. „Bitte, verzeih mir.“

Der maedlor antwortete nicht, war auch viel zu steif, um seine Arme zu heben. Das Weib richtete ihn auf. Die drei berührten einander kurz mit den Stirnen.

„Ich spute mich, Herr“, versprach Hevstrid.

Dann ging der Wächter rasch voran, bevor Venghiár ihn noch einmal ermahnen konnte.

Er dirigierte ihn mit dem Bogen weiter, in Richtung der in den Stein gehauenen Treppe, die die Klippe hinab an den Strandstreifen führte. Schweigend gingen die beiden die groben Stufen in die Tiefe, die vor Urzeiten einer der Vorfahren des hoch berühmten Herrn Thorgar Emberbey in den Stein hatte hauen lassen. Ein Handlauf aus einem dicken, salzverkrusteten Seil bot ein wenig Sicherheit.

Der Streifen Kiesstrand an der Ostseite der Bucht war nicht besonders breit, aber doch so erhaben, dass die heranrollenden Wellen ihn nicht überspülten. Da standen die Schutzbefohlenen von Emberbey im Halbkreis um das Floß. Von zwei Ruderbooten würde es an die Mündung der Bucht gezogen werden. Sie hatten einige Fackeln ringsum gesteckt und am Rand der Bahre einige kleine tönerne Lichter befestigt, die später das Ziel markieren sollten. Als die Leute sein Kommen bemerkten, wandten sie sich ihm zu. Schweigsam waren sie. Keiner wagte ein Wort. Hier und da schluchzte jemand auf. Aber die meisten Gesichter waren starr und voller beherrschter Feindseligkeit.

Venghiár trat an die Bahre auf dem Floß heran. Das Fass mit dem Dornbeerenöl stand bereit. Die Mägde, die den alten Alsgör hergerichtet hatten, waren sehr kunstreich gewesen. Das Gesicht des Toten schien edel, milde, erhaben, weit mehr, als es zu Lebzeiten gewesen war. Seinen alten Wappenrock hatten sie ihm angezogen, den, mit dem er vor vielen Wintern ins Turnier geritten sein mochte. Den mochte er mitnehmen. Das Schwert in seinen Händen nicht. Verärgert zog Venghiár es weg.

„Herr!“, protestierte eine der Frauen aus den Reihen der Burgbewohner. Er meinte, die Stimme der opayra zu erkennen, konnte es aber nicht zweifelsfrei sagen.

„Was? Das ist gutes Eisen! Keine Verschwendung! Er wird es nicht mehr brauchen!“

„Es ist kein Sohn da, der es erben würde“, sagte jemand anderes.

„Das ist trotzdem kein Grund, es zu verschwenden. Ist es meine Schuld, dass mein Weitvetter niemals eine Waffe führen wird? Was ist das für ein albernes Tuch über seiner Schulter?“

„Der Schleier seiner hýardora“, sagte jemand anderes, mit eisiger Stimme.

Einen kurzen Moment fühlte Venghiár sich versucht, auch das bestickte zarte Gewebe fortzunehmen, einfach nur, weil er es gekonnt hätte. Im letzten Moment besann er sich. Eine hýardora … nun, nach allem, was er wusste, war die Geschichte des alten Alsgör und seiner hýardora alles andere als leidenschaftlich gewesen. Eine viel jüngere Dame hatte er sich geholt, um einen Erben zu zeugen. Immerhin, drei Bälger hatten sie hinbekommen, der alte Mann und die unglückliche Dame aus Ovéstola. Und wäre die Dame nicht über die Geburt der kleinen Kröte verreckt, vielleicht hätten sie es weiter versucht. Und dann stünde nun vielleicht ein Knabe hier an seiner Stelle und würde den greisen Vater betrauern. Und er, Venghiár, der letzte männliche Spross der Emberbeys, er wäre in Rodekliv versauert. Nun, so weit war es nicht gekommen. Die Mächte mochten dafür gepriesen sein.

Ach, was sollte es. Mochte der Alte den Schleier mit sich ins Feuer nehmen. Venghiár nahm Schwert und Bogen in eine Hand und schöpfte mit der anderen ein Schalchen Dornbeerenöl aus dem Fass. Schweigend schüttete er über den Leichnam, trat zurück und drückte dem Waffenknecht das Gefäß in die Hand.

„Lasst uns das rasch hinter uns bringen“, sagte er. „Es ist spät, und der Tag wird anstrengend.“

Sie reihten sich auf, einer nach dem anderen. Der Wachmann schöpfte Öl, trat an die Bahre heran, goss es aus und murmelte den Totengruß für seinen Herrn. Dann übergab er die Schale dem nächsten in der Reihe und trat zurück.

So nahm einer nach dem andern Abschied von Alsgör Emberbey. Venghiár achtete nicht darauf. Er griff nach den bereitliegenden Pfeilen, alle sorgfältig präpariert. Fünf Stück hatten sie vorbereitet. Lächerlich. Als ob er nicht schon mit dem ersten Schuss treffen würde.

Hevstrid stieg die Treppe hinunter und reihte sich schweigend ein. Auch sie benetzte den Leichnam mit Öl. Dann trat sie, wie zufällig, an seine Seite und nickte ihm zu. Es war etwas in ihrem Blick, das Venghiár beunruhigend und erregend zugleich erschien.

Die Männer griffen zu, um das Floß ins Wasser zu schieben. Wenige Augenblicke später wiegten die Wellen Alsgör Emberbeys Leichnam. Die Ruderer zogen es in Richtung Meer, auf die von Noktámas Juwel versilberten Wellen.

Niemand sprach ein Wort. Die Leute rückten zu einer stummen, schweigenden Menge zusammen.

Venghiár gab sich einen Ruck. Das ganze Gewese ging ihm schon zu lang. Beiläufig entzündete er einen Pfeil an einer der Fackeln, legte an, zielte und schoss.

Natürlich gelang es auf Anhieb. Das Dornbeerenöl ließ die Flammen auflodern, regelrecht explodieren und machte das Totenfloß binnen weniger Herzschläge zu einer lichterlohen Fackel.

Was für ein Meisterschuss!

Venghiár fühlte ein merkwürdiges Glücksgefühl in sich aufwallen. Einen Lidschlag lang war das kein Totenfloß mehr. Das war ein lichterloh brennendes Schiff, und das Meer stand in Flammen! So musste Thorgar Emberbey, der legendäre Ahnherr, sich gefühlt haben, als er die Schiffe des teirand versenkte!

Als er den Bogen sinken ließ, fing er Hevstrids Blick auf. Während alle anderen gebannt beobachteten, wie Feuer und Meer den Körper des alten Alsgör Emberbey in Empfang nahmen, hatte sie nur Augen für ihn, seltsam fiebrige Augen. Und ihm wallte etwas durch die Adern, als hätte das Feuer noch etwas ganz anderes in ihm entflammt.

Er blickte aufs Meer, auf die Ruderboote, die zurück zur Bucht fuhren.

„Ich habe meinen Teil erfüllt“, flüsterte er ihr zu. „Wie steht es mit dir?“

Sie schaute zu ihm auf und lächelte auf eine ganz und gar befremdliche Weise. „Du sollst zufrieden mit mir sein.“