„Wo warst du so lange?“

„Herr … was Ihr haben wolltet, ist gar nicht so einfach zu bekommen. Aber ich habe etwas mitgebracht!“

Dýamirée setzte sich auf. Es war zwischenzeitlich dunkel und der namenlose Ritter immer nervöser geworden. Aus seinem unterdrückten Fluchen und Schimpfen zu urteilen reute es ihn, seinen Knappen losgeschickt zu haben. Offenbar gab es viel Wichtigeres zu tun.

Aufschlussreich war es nicht gewesen, ihm zuzuhören. Warum auch sollte er den Zeltwänden mehr über das preisgeben, was er plante? Aber auch wenn das Gedankenhören nicht funktionierte, war Dýamirée sich sicher, dass der Mann etwas Ungutes im Schilde führte. Nachdem Advon das Zelt verlassen hatte, sichtlich beschwingt und voller Tatendrang, war der Ritter eine Weile ausgezeichneter Laune gewesen. Nach und nach hatte sich das gelegt. Dýamirée hatte sich in ihrem Krug zusammengerollt und still verhalten. Wenn der Ritter gereizt war, musste sie nicht unbedingt seine Aufmerksamkeit auf sich leiten. Der Ritter hatte mit einer Laterne für bescheidene Beleuchtung gesorgt. Besonders hell wurde es dadurch nicht.

Auch die Besitzer der Zelte ringsum begaben sich nun hinein. Offenbar waren die Ritter und ihre Knappen zufrieden mit dem Tag und den Speisen, die die teiranday den früh angereisten Gästen anboten.

Im Nachbarzelt war Stimmengewirr. Das hörte sich nicht ganz so gesellig an.

„Das wurde aber auch höchste Zeit.“ Nun, da Rolk zurückgekehrt war, fiel dem Ritter ein Stein vom Herzen. „Zeig schon her!“

Rolk präsentierte stolz seine Beute. Ein kleiner Kasten war es, bei dem eine Seitenwand mit einem Drahtgeflecht ersetzt war. Der Deckel war mit einem Haken zu verschließen. Dýamirée seufzte. Nun, das sah bequemer und luftiger aus als dieser enge, stickige Krug, und ähnlich ausbruchssicher.

„Tauglich“, sagte der Ritter. „Wo hast du das her?“

„Im Dorf war ich. Ich dachte mir, ein Weidenkäfig ist nicht sicher genug. Wegen der scharfen Zähne.“ Rolk zeigte mitleidheischend seine wunde Hand. „Und dann dachte ich, der Schmied hat vielleicht was mit Metallstäben.“

„Hast du die prächtige Stute bemerkt?“

„Stute?“ Rolk schien ernsthaft verwirrt und runzelte die Stirn. Dann erhellte sich sein Blick. „Ja, Herr. Ein schöner blonder Falbe, den meint Ihr doch?“

Der Ritter öffnete den Käfig und setzte ihn hochkant auf die Erde. „Komm. Setz das Pelzvieh rasch hier hinein. Ich hab einen wichtigen Auftrag für dich.“

Rolk seufzte. „Gleich schon wieder? Ich bin doch gerade erst zurück!“

„Ist es meine Schuld, wenn du so trödelst? Los, beeil dich mit dem Viech.“

Der Knappe griff nach dem Krug. Ehe Dýamirée sich versah, hatte der Junge sie in den Käfig geschüttelt. Der Ritter schlug das Türchen zu und schloss den Haken.

Im selben Moment tauchte jemand am Zelteingang auf.

„He!“, rief ein Mann. „Seid Ihr da drin?“

„Verflucht“, seufzte der Ritter. „Schau, wer das ist.“

Rolk stellte den Krug ab und machte einen Schritt auf die Stimme zu. Aber der Ankömmling schien nicht gewillt, sich zu gedulden. Mit einem Ruck strich er die Vorhangplane beiseite, schubste Rolk beiseite und stand dann in seiner ganzen beeindruckenden, glänzenden Präsenz im Zelt. Ein wenig bücken musste yarl Madrýc Ycelia dazu.

Dem namenlosen Ritter gelang es in einer geistesgegenwärtigen Bewegung, den Krug mit einem sachten Tritt unter sein Bett zu befördern.

„Yarl Ycelia“, rief er aus. „Welch eine Ehre! Was führt Euch in mein bescheidenes Zelt?“

„Das kommt darauf an!“ Der reiche yarl schaute sich um, fand keine Sitzgelegenheit und ließ sich unaufgefordert auf dem Bett des Knappen nieder. „Lasst es eine Warnung sein, so oder so. Es geht Diebsgesindel um im Lager.“

„Diebsgesindel?“, fragte Rolk staunend.

„Ja, Junge! Sobald es hell wird, werde ich beim maedlor Anzeige erstatten. Nicht nur, dass ein  Unhold mein Zelt angeschissen hat – nun wurde mir auch noch frech etwas daraus gestohlen.“

„Ach? Darf ich fragen, was Euch abhandenkam?“

„Doch nicht etwa etwas von Eurem herrlichen Eisenzeug?“, fragte Rolk aufgeregt. „Das wäre ja dreist!“

Madrýc Ycelia wandte sich dem Knappen zu. „Nein, Junge. So keck war der Dieb dann doch nicht. Nein, eine Kleinigkeit nur. Ein Krug aus Kaltkristall. Fünf Humpen hätten hineingepasst!“

„Ui“, machte Rolk. „Da hatte aber jemand Durst …“

„Halt den Mund, Rolk!“, knirschte der namenlose Ritter.

„Wenn es nur das wäre! Fast leer war das Gefäß. Aber das ist es ja! Wer würde einen leeren Krug aus einem geschlossenen Zelt stehlen?“

„War der Krug wertvoll?“

„Beste Qualität. Fast unzerbrechlich und dabei leicht wie Ton. Dennoch, kaum so wertvoll, dass es einen Dieb reizen könnte. Um ehrlich zu sein – bei mir daheim nutzen wir das wie die Leute anderswo Tontöpfe.“

„Nun“, sagte der Ritter, „sicherlich wollte jemand Euch einen Streich spielen.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Der Krug ist auffällig. So feines Zeug haben sie hier in Wijdlant nicht. Ich werde eine Belohnung auf die Wiederbeschaffung aussetzen. Und auf den Kopf des dreisten Diebes.“

„Natürlich.“

„Euch ist hier in Eurem Zelt nichts abhanden gekommen?“

„Nein. Nicht, dass ich etwas bemerkt hätte.“

„Eine Belohnung?“, fragte Rolk interessiert.

„Hast du nicht zu tun, Bursche?“, fragte der namenlose Ritter barsch.

„Ihr habt mir noch nicht gesagt, was Ihr von mir verlangt, Herr!“

Der Ritter seufzte ungehalten. Zwischenzeitlich hatten sich die Augen von yarl Ycelia an die funzelige Beleuchtung des schlichten Zeltes gewöhnt.

„Was habt Ihr da in dem Käfig?“, fragte er interessiert.

Der Ritter hob den Käfig an und hielt ihm dem yarl entgegen. „Ein Geschenk für die teirandanja.“

„Ein Eichhörnchen?“

„Und ein seltenes noch dazu. Habt ihr je eines mit so feinem schwarzen Fell gesehen? Wie man hört“, plauderte der Ritter, „ist die teirandanja ganz besessen von possierlichen Tierchen.“

„Wie niedlich“, sagte der yarl interessiert. Seine gerade noch so polternde Stimme klang plötzlich ganz weich. Furchtlos steckte er seinen Finger durch den Draht.

„Vorsicht!“, rief Rolk hastig aus. „Es beißt!“

Dýamirée entschloss sich zu einem Schabernack. Sie fasste mit ihren Pfoten den Finger des yarl und ließ sich von ihm am Ohr kraulen.

„Meine kleinen Nichten,“ verriet der yarl, dessen kampfgehärtete Hände ganz erstaunlich vorsichtig waren, „haben daheim auch kleine Tierchen zur Gesellschaft.“ Er blickte nachdenklich auf. „Meint Ihr, ich sollte der teirandanja meinerseits auch ein Tier darbringen, als Gastgeschenk?“

„Sicher“, sagte der Ritter. „Obwohl Ihr hier im Wald kaum etwas vergleichbar Drolliges finden werdet. Zumindest nicht auf die Schnelle.“

„Würdet Ihr tauschen?“, fragte der yarl von Ycelia.

„Tauschen? Wogegen?“

„Ich will Euch nicht zu nahe treten. Aber ich denke, es stünde mir besser an, mit einem originellen Geschenk anzukommen – und Euch mit etwas Kostbarem. Schließlich ist in Wijdlant weit bekannt, dass Ycelia wohlhabend und großzügig ist. Bei Euch ist das alles im Augenblick ja etwas schwierig zu benennen.“

„Ihr würdet mein Gastgeschenk für die teirandanja mit mir gegen das tauschen, was Ihr hergebracht habt?“

Dýamirée spitzte die Ohren. Was ging hier vor sich? Das großzügige Angebot des reichen yarl war eine Wendung, sie ihr ganz und gar nicht gefiel.

„Käme Euch das entgegen?“

„Was wäre es denn?“

Yarl Ycelia lachte nachsichtig. „Schönheitskram“, sagte er dann mit großer Geste. „Salben. Seifen. Haarfarben. Alles, was ein eitles Mädchenherz sich wünschen könnte.“

Der Ritter wirkte ernüchtert. Allerdings nur für einen Moment. „Haarfarben?“

„Ihr ahnt es nicht, wie unzufrieden die Damen allzu oft mit dem sind, was die Mächte ihnen gegeben haben.“

Der Ritter überlegte nicht lange. Dann streckte er dem yarl die Hand entgegen. „Abgemacht. Nehmt Ihr das Pelztier und gebt mir dafür den eitlen Puderkram.“

Madrýc Ycelia nahm den Käfig an sich, noch bevor Dýamirée ihn verärgert hätte beißen können. „Abgemacht. Ich schicke meinen Knappen, um Euch die Schatulle zu bringen.“ Er nahm den Käfig unter den Arm, erhob sich und verneigte sich knapp vor dem namenlosen Ritter.

„Lass Euch Zeit. Keine Eile“, sagte der Ritter. „Ich habe mit meinem Knappen noch zu reden. Über das Turnier. Morgen bin ich zu Euren Diensten.“

***

Advon vermutete dass er zwar nicht betrunken, aber doch nicht so nüchtern war, wie es die Situation erforderte. Seltsam leicht und wattig erschien ihm die Nacht ringsum, so als läge ein ganz hauchfeiner Dunst darüber. Bei den Mächten, so viel hatte er doch gar nicht getrunken! In dem Krug war doch kaum noch mehr als ein Humpen drin gewesen, und den hatte er noch mit dem ungenannten Ritter geteilt.

Aber davon durfte er sich nun nicht beirren lassen. Es waren viel wichtigere Dinge zu tun.

„Dýamirée wollte nicht mit mir kommen“, berichtete er Farbenspiel. „Sie will Manjév überraschen, indem sie sich von diesem seltsamen Kerl verschenken lässt.“

Farbenspiels gelbe Augen phosphoreszierten im Halbdunkel. Advon beschwor ein kleines Licht und schaute sich um. Seine eigene Rüstung lag nach wie vor gut geschützt im Versteck, gut getarnt mit starker Magie und unter dichtem Gesträuch. Das hatte Dýamirée beschworen und versichert, dass kein unkundiges Auge es dort finden würde. Der Hengst reckte den Kopf vor und beschnüffelte seinen Herrn mit bebenden Nüstern. Dann zog er seine samtige Oberlippe hoch und flehmte. Seine Fangzähne glänzten weiß und scharf im Dunklen.

„Ja“, sagte Advon ungeduldig. „Ich weiß. Ich habe Bier getrunken. Aber hätte ich es ablehnen sollen? Es kann doch nur gut sein, wenn ich mich mit den unkundigen Rittern gut stelle.“

Farbenspiel schnaubte missbilligend, trat aber gehorsam aus dem nächtlichen Wäldchen hervor. Advon tastete nach dem Steigbügel, bekam ihn aber erst beim zweiten Versuch zu packen. Schwerfällig erklomm der junge Magier den Sattel und ärgerte sich. Der Einhornhengst war natürlich weit größer als ein Pferd. Aber dass er sich so mühsam auf seinen Rücken hangeln musste, das war beschämend.

„Bring mich zur Burg“, gebot er resigniert. „Ich muss mit Manjév reden. Anschließend gehe ich ins Dorf. Da steht ein Pferd, das ich kaufen werde.“

Farbenspiel prustete. Advon bildete sich ein, dass das ziemlich verächtlich klang.

„Bei Pataghíu! Ich kann bei dem Turnier nicht mit dir antreten. Sogar, wenn wir dein Horn und die Flügel unsichtbar machen und dir ein einfarbiges Fell verpassen könnten. Und du weißt, dass das nicht meine Idee war.“

Farbenspiel trabte los. Sie verließen das Wäldchen in Richtung Burg. In einiger Entfernung lag zwischen den Bäumen das Zeltlager der Ritter, das im Laufe des Tages noch um einige Zelte angewachsen war. Einige hatten kleine Lagerfeuer entzündet, größere Zelte waren innen hell von Laternen erleuchtet. Ab und zu trug der Wind Fetzen von Gelächter heran. Es war ein friedlicher Anblick unter Noktámas dunkelblauem, glitzerndem Schleier. Das Einhorn flog lautlos wie eine Eule. Wer nicht zufällig in den Himmel blickte, würde es nicht bemerken.

Kaum waren keine Baumkronen mehr im Weg, galoppierte Farbenspiel an und schwang sich mit zwei, drei kräftigen Flügelschlägen in die Höhe. Advon atmete auf. Erleichtert erlaubte er sich, einen Moment die Augen zu schließen. Aber der Flug war nur kurz. Schon ein paar Hundert Herzschläge später waren sie im Anflug auf die Burg. Farbenspiel buckelte in der Luft, um die Aufmerksamkeit seines Herrn zu erregen.

„Du wartest im Garten auf mich. Und es wäre gut, wenn du diesmal die Beete verschonen würdest. Nicht, dass am Ende die Gäste der teiranday deinetwegen darben müssen. Du findest anderswo genug. Hast du verstanden?“

Farbenspiel schnaubte. Aber anstatt geradewegs in der Vorburg niederzugehen, schwenkte Farbenspiel zur Seite und galoppierte unterhalb der Mauerkrone die Außenmauer entlang. Advon stutze kurz über dieses Verhalten, begriff dann und schalt sich für seine Unkonzentriertheit. Bei den Mächten, es konnte doch nicht sein, dass Farbenspiel aufmerksamer war als er selbst! Fast hätte er den Bann vergessen!

„Ich will“, murmelte er und sandte subtile Magie in Richtung der Burg, „dass uns niemand sieht. Schaut einfach woanders hin! Es ist alles in Ordnung. Keine Gefahr! Nichts zu sehen!“

Farbenspiel segelte an den Mauern vorbei, hielt sich auf Höhe der Schießscharten unterhalb der Zinnen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Advon dort oben Nachtwächter ihre Runden laufen, pflichtbewusst, aber nicht allzu alarmiert. Sein Wille, wenn auch nicht so konzentriert wie üblich, schien wie gewünscht den ihren zu überlagern. Die Unkundigen ignorierten das riesige, fliegende Tier und seinen Reiter.

Zwei, drei Runden drehten sie um die Burg. Dann erschien die Luft rein genug und Advon übernahm die Kontrolle über Farbenspiels Flug. Sie setzten über die hintere, niedrigere Mauer und landeten im Gemüsegarten.

Farbenspiel kam in seinem geliebten Kohlbeet zum Stillstand, sacht und vorsichtig, ohne auch nur eine Pflanze zu beschädigen. Advon atmete auf.

Und dann geschah etwas, was nie zuvor passiert war. Mit lautstarkem Gebell und scharfen Zähnen schossen aus dem Schutz der Gemüsebeete mehrere Hunde auf das Einhorn zu.

Farbenspiel brüllte. Seine messerscharfen, gespaltenen Klauen wirbelten durch die Luft und fuhren unmittelbar vor den Hunden in die weiche Erde. Der linke Vorderfuß des Einhorns zerschmetterte einen Süßkohl zu grob geriebenem Kraut.

Die Hunde wichen winselnd zurück, aber nur knapp aus der Reichweite des geflügelten Ungetüms. Dort geiferten und kläfften sie Farbenspiel weiter an. Der Hengst schnaufte und trampelte. Ein zweiter Kohlkopf wurde dabei zu Krautsalat. Die Hunde sahen das, wahrten den Abstand, aber sie wichen nicht. Farbenspiel trampelte und schlug mit seinen riesigen Schwingen. Die Hunde stemmten sich gegen den Luftzug wie gegen eine Sturmbö, umringten das Einhorn, furchtlos. Farbenspiel buckelte, schwang sein Horn gegen die muskulösen, pflichtbewussten Wachhunde. Die zeigten die Zähne, knurrten und kläfften, entblößten ihre Zähne.

Advon hielt sich mit Mühe im Sattel. Er hatte nicht geahnt, dass es in der Burg von Wijdlant solche Ungetüme gab, schon gar nicht, nachts im Gemüsegarten! Bei Pataghíu, was nun? Den Willen von Menschen, den konnte er bezwingen, aber nicht den von unbestechlichen Tieren. Was würde geschehen, wenn Farbenspiel nun unter den Hunden ein Gemetzel anrichtete?

„Brave Hunde!“, rief er aus. „Ganz brav! Und nun lasst uns! Kuscht euch! Macht Platz!“

Aber die Hunde hörten nicht auf ihn. Warum auch? Der Anführer des Rudels, groß wie ein kleiner Widder, mit schwarzem Fell und schaumigen Lefzen, spannte seinen Körper an und würde im nächsten Moment auf Farbenspiel losspringen. Farbenspiel würde ihn aufspießen, erschlagen oder mit seinen Klauen in Stücke fetzen. Wenn ein Einhorn angegriffen wurde, dann kam ihm keine Flucht in den Sinn. Dann verteidigte es sich. Genau diese Wehrhaftigkeit war es, die die geflügelten Tiere ausmachte.

„Nicht! Farbenspiel! Auf! Auf! Lass die Hunde!“, rief Advon aus und versuchte, die Kontrolle wieder zu übernehmen. Vergebens. Sein Wille prallte wirkungslos von Farbenspiels Instinkten ab. „Flieg! Weg von hier!“

„He!“, rief da von irgendwo jemand. Der Lärm der Hunde rief Unkundige auf den Plan. „He, herbei! Da ist etwas im Garten!“

Farbenspiel prustete und ignorierte Advons Bemühungen, ihn zu lenken. Ein Hund jaulte auf,  ein dumpfes Geräusch, ein Aufschlag. Offenbar hatte der Hengst das Tier weggekeilt, als es ihn von hinten ansprang.

„Farbenspiel! Bei den Mächten! Auf! Flieg! Flieg doch einfach weg!“

„Wer ist da?“ Ein Mensch rannte vom Torbogen heran, der von der Innenburg in den Garten führte. „He! Was… bei den Mächten!“

Für einen Wimpernschlag sah Advon den Unkundigen, vielleicht den Zwingerwärter, wer wusste das schon. Der Mann trug eine Laterne, sah im nächtlichen Garten vielleicht etwas, hoffentlich nicht zu viel!

„Ich will!“, zauberte Advon kopflos. „Ich will, dass du mich nicht erkennst!

Der Mann erstarrte. Dicht war er bei seinen Hunden, zu nahe! Farbenspiel wich zurück. Seine riesigen Schwingen fegten herbeistürzende Hunde beiseite und schlugen sie nieder, dass sie winselnd in alle Richtungen davon sprengten.

„Bei den Mächten!“, rief der Mann entsetzt. „Chaosgeist!“

„Pferd!“, zauberte Advon und hatte Mühe, seine maghiscal zu kontrollieren und sich dabei im Sattel zu halten. Farbenspiel geiferte, klapste mit den Flügeln und seine scharfen Klauen zischten durch die Luft. Um ein Haar hätte er mit seinen Fangzähnen einen der schweren Bluthunde erwischt. „Großes, verfressenes Pferd! Ritterpferd! Da ist es, was du siehst!“

Der Unkundige schrie in blankem Entsetzen.

„Zurück! Ruf die Hunde zurück! Schnell! Bevor etwas passiert!“

„He!“, kreischte der Mann, allerdings nicht an die Hunde gerichtet. „Zu Hilfe! Zu Hilfe! Hierher!“

Advon zerrte an den Zügeln. Unter Farbenspiels Klauen kläffte etwas und jaulte dann erbarmenswert auf. „Auf! Auf! Schnell weg von hier!“

Endlich drang Advon zu Farbenspiel vor. Der Hengst fegte noch einen Hund beiseite und galoppierte an, direkt auf den Menschen zu. Der Unkundige tat einen entsetzten Notschrei und warf sich zur Seite.

Advon gewahrte einen Wirbel aus zerfetzendem Laub und hochgewirbelter Erde um sich herum. Die Burgmauer raste heran. Und weitere Menschen kamen durch das Tor herbeigerannt.

„Pataghíu“, murmelte der Regenbogenritter,. „steh uns bei!“

Im letzten Moment, knapp vor der Mauer, flatterte das Einhorn in die Höhe, unbeholfen wie ein in die Ecke getriebenes Huhn. Advon wusste nicht, wie ihm geschah, als Farbenspiel mit einem lächerlichen, strampelnden Hopser die Burgmauer überwand und kläffende Hunde und schreiende Menschen endlich hinter sich zurückließ.

Bei den Mächten, was für eine Katastrophe. Advons Herz raste. Er ballte seine maghiscal zusammen wie einen feurigen Schneeball, tränkte sie mit seinem Willen und schleuderte seinen Bann mitten hinein in den Garten, wo er zerbarst und alle Unkundigen, die Zeugen des Verfalls geworden war, schwindelig und für einen Lidschlag völlig blank im Geist machte.

Advon ließ sich auf Farbenspiels Hals zusammensacken und seufzte abgrundtief. Die Burg von Wijdlant verschwand unter und hinter ihnen. Farbenspiel schraubte sich in den Nachthimmel empor. Weit im Süden wurden die Berggrate des Montazíel sichtbar.

Der ganze Vorfall war Advon endlos vorgekommen. In Wahrheit waren nur ein paar Dutzend Herzschläge vergangen.

Farbenspiels Atem pumpte, aber er wirkte nicht mehr panisch. Ruhig strebte er dem Gebirge zu. Advon aber brauchte eine kleine Weile, um zu sich zu finden.

„Kehr um“, bat der junge Ritter nach einer Weile. „Zurück zum Zeltlager. Zurück zum Dorf. Das Pferd … das Pferd wartet nicht auf mich.“

Farbenspiel wendete gehorsam. Advon beschwor erneut das Licht, ließ es um das Einhorn herum schweben. War Farbenspiel verletzt? War es einem der Hunde gelungen, sein Reittier zu verletzen?

Advon war vollkommen ernüchtert. Besorgt versuchte er, aus dem Sattel heraus Farbenspiels Zustand zu begutachten. Das war Blut, beunruhigend viel Blut und den Hinterläufen und am rechten Flügel. Farbenspiel aber flog, ohne zu zucken. Hundeblut musste das sein.

Ihr Mächte, dachte Advon bedrückt. Das habe ich nicht gewollt.

Warum waren überhaupt Hunde im Garten gewesen?

Unter diesen Umständen war es unmöglich, einen zweiten Versuch zu wagen, mit Manjév Kontakt aufzunehmen. Diese Gelegenheit war vergangen. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht auch für immer.

Sie flogen schweigend. Advon drückte sein Gewissen. Der Hengst flog seinen Weg hin zu dem Dorf bei der Burg, ohne noch einmal mit den Ohren zu zucken oder sich zu Advon umzudrehen.

Das Hauptdorf, unweit der Burg, lag in tiefem Schlummer. Die Nacht hatte ihren Mittelpunkt längst erreicht. Hier schliefen die Leute tief und fest und schöpfte Kraft für den nächsten Tag. Nun – wenn man dem namenlosen Ritter glaube, alle bis auf den Schmied, der des Nachts seinen diskreten Pferdehandel eröffnete und auf Kunden wartete.

Advon ließ Farbenspiel am Dorfrand landen und untersuchte gewissenhaft die Glieder seines Reittiers. Zu seiner großen Erleichterung hatte das Einhorn tatsächlich nur fremdes Blut an sich. Mochten die Mächte geben, dass es keinen der pflichtbewussten Hunde getötet hatte.

„Flieg zurück, Farbenspiel. Dorthin, wo meine Rüstung liegt. Ich werde nun ins Dorf gehen und dieses Pferd kaufen. Vor dir würde es sich erschrecken. Und ich kann nicht noch einmal riskieren, dass Unkundige dich sehen. Ich hab meine maghiscal fast aufgebraucht. Noch mehr Täuschung ist heute Nacht nicht mehr drin.“

Farbenspiel schnaubte. Seine gefiederten Ohren zuckten vor und zurück.

„Es tut mir leid, mein Guter. Aber wer kann auch ahnen, dass sie ihr Gemüse mit scharfen Hunden verteidigen?“

Der Hengst stand einen Moment still und starr. Dann reckte er seinen großen Kopf vor und legte ihn Advon sacht auf dessen Schulterberge. Einen Moment lang verharrten sie Seite an Seite, Fell an Haut. Dann trabte Farbenspiel ohne Eile zurück in Richtung Zeltlager.

Advon wartete einen Augenblick, bis er weit genug entfernt war. Dann wandte er sich um und lief ins Dorf hinein, lautlos, um die Schlafenden in ihren adretten, ordentlichen Häuschen nicht zu stören.

Die Schmiede war schnell gefunden. Etwas abseits von den anderen Häusern lag das Häuschen, klug so gebaut, dass Feuer von der nun kalten Esse nicht so einfach überspringen konnte.

Hinter dem Haus war ein Pferch. Und tatsächlich, so wie der namenlose Ritter es berichtet hatte, stand dort eine Stute, die in der Tat eines Ritters mehr als würdig war. Das Tier hatte gedöst, bemerkte aber den Menschen, der sich ihm näherte. Es hob den Kopf und schaute sich um.

„Hallo“, sagte Advon und streckte seine Hand nach dem Ross aus, ließ es daran schnuppern. „Hast du Lust, mich zu tragen?“

Er erspürte das Pferd. Das Tier war neugierig auf ihn. Es schien zu fühlen, dass er mit guten Absichten kam. Wie hübsch es war mit seinem hellen Fell und der weißen Mähne.

„Herr“, sprach ihn jemand aus der Dunkelheit an. „Gefällt Euch das Pferd?“

Advon schaute sich um. Aus dem Schatten eines benachbarten Gebäudes näherte sich jemand in einem unauffälligen Wollumhang.

„Bist du der Besitzer?“, fragte Advon verblüfft. „Du klingst sehr jung.“

„Es gehört dem Schm… meinem Vater.“

„Bin ich recht informiert, dass es zum Verkauf steht?“

„Ja, ganz recht.“

„Hast du auf mich gewartet? Bin ich der Erste, der auf dieses Tier bietet?“

„Nein, Herr. Viele vor Euch schon. Ach, ganz viele. In den Nächten haben sie hier schon Schlange gestanden für das Pferd. Aber es hat seinen Preis.“

„Und wie viel?“

„Unter dreißig Goldstücken darf ich es nicht weggeben, sagt … mein Vater.“

Advon stutzte. Was für ein Zufall.

„Und woher hat dein Vater ein so feines Tier?“

„Ich … äh … es ist alles mit rechten Dingen zugegangen, Herr. Bei den Mächten, ganz bestimmt!“

„Und du bist dir sicher, dass du es verkaufen sollst? Das ist mit deinem Vater so abgesprochen?“

„Natürlich, Herr. Gebt mir nur die dreißig Goldstücke, und das Stütchen ist Euers.“

„Ohne dir zu misstrauen – es wäre mir wohler, wenn ich mit deinem Vater verhandeln könnte.“

„Der ist gerade … nicht da.“

„Nicht da?“ Advon streichelte das Pferd. Das Tier schien ihn zu mögen und ließ sich gar nicht durch den Geruch irritieren, der ihm von Farbenspiel anhaften durfte.

„Er hat zu tun. Er repariert einem hochedlen Herrn das Eisenzeug.“

„Euer Feuer ist aus. Und ich höre ihn nicht hämmern.“

„Doch nicht hier, Herr. Auf der Burg.“

„Nachts?“

„Es war so dringend! Und mein Vater ist so gut … einen anderen lassen die an die feinen Platten und Nieten gar nicht dran. Den ganzen Tag ist er schon dort!“

Advon überlegte. So seltsam ihm die Sache vorkam, so harmlos mochte sie sein. Unkundige, das hatte er immer wieder zu hören bekommen, waren zuweilen äußerst wunderlich. Wenn einem der yarlay oder gar dem teirand zur Unzeit etwas an seiner Rüstung entzweigegangen war, musste das gerichtet werden. Er versuchte, sich zu erinnern. Hatte er bei seinem erfolglosen Ausflug zu Manjév Feuer gesehen, Metall gehört? Er entsann sich nicht. Nur für die Hunde hatte er Augen gehabt.

„Ich weiß nicht recht“, sagte Advon. „Und wenn morgen ein yarl kommt und noch ein Goldstück darauflegt?“

Der junge Mann schwieg einen Moment. Dann haspelte er: „Das ist zu unsicher. Nun oder nie. Was sagt Ihr? Dreißig Goldstücke – oder lasst Ihr es bleiben?“

Advon dachte nach. Ein Pferd, das brauchte er. Ohne würde er am Turnier nicht teilnehmen können. Und die Stute war wirklich prächtig.

„In Ordnung“, sagte der Magier. „Das Geschäft ist gemacht.“