
Pataghíus Glanz erhob sich sacht im Süden. Als es endlich hell genug war, um den Weg zu erkennen, löschten sie die kleinen Reiselaternen, die sie aus der Herberge mitgenommen hatten. Das darin verbliebene Dornbeerenöl würde noch für die kommende Nacht ausreichen müssen.
Der Mann, der sich Výnrath nannte und den Tíjnje als geheimen Boten angeworben hatte, ritt dicht an ihrer Seite. Zu dicht, als dass Merrit und Osse sich hätten unterhalten können, ohne dass er es mitgehört hätte.
Osse schaute sich um. Das Morgengrauen offenbarte ihm nichts anderes als der Tag zuvor: Abgeerntete Äcker, wohin man schaute. Ab und zu in der Ferne, abseits der der Straße, ein größeres Gehöft, von dem aus die umliegenden Äcker bestellt wurden. Das nächste Dorf, das verriet ihnen ein Wegestein, den sie passierten, war noch ein gutes Wegstück entfernt und abseits ihrer Wegrichtung.
Schweigsam war der Bote gewesen. Merrit hatte anfangs beharrlich versucht, ihn auszufragen, aber er hatte sich wortkarg gegeben und sie unentwegt zur Eile ermahnt. Immerhin: Er schien in der Tat pflichtbewusst und gewissenhaft zu sein. Keinen Schritt wich er von der Straße ab. Seine Kapuze hatte er tief in die Stirn gezogen.
Osse schaute zu Merrit hinüber. Nun, da es nicht mehr finster war, konnten sie einander mit Blicken verständigen.
„He!“, sagte Merrit. „Wo kommst Du eigentlich her?“
„Ich? Aus einem Dorf westlich von Grootplen.“
„Versiehst du oft Botendienste für die yarlaranda?“
„Ab und zu“, kam es knapp von dem Mann.
„Was ist dein Handwerk? Bist du ein maedlor?“
„Nein, Herr. Ich bin ein Kurier. Ich komme weit herum.“
„Und was ist dein nächster Botengang?“
Der Mann drehte sich dem Ritter zu. „Wie meint Ihr das, Herr?“
„Wenn du ein Kurier der eld-yarlara bist, erwartet sie dich nicht zurück?“
„Nein, Herr.“
Osse wechselte einen Blick mit Merrit. Der junge Ritter zuckte die Achseln.
„Wir danken dir für deine Dienste“, sagte Osse. „Aber du musst dich nicht noch weiter abmühen. Wir finden den Weg nach Wijdlant nun auch ohne dich. Wenn du etwas zu tun hast …“
„Habe ich nicht, Herr Osse.“
„Wie“, fragte Merrit. „Keine hýardora, keine Kinder, zu denen es dich zurückzieht? Nun, da du deinen Auftrag erfüllt, nichts weiter zu tun hast und wir deine Mühen nicht mehr benötigen?“
„Nein, Herr. Frau Tíjnje wünscht, dass ich Euch begleite.“
„Aber warum denn?“
„Nun, Herr … wenn die Verfolger Euch auflauern, die Spione und folgen … es ist meine Pflicht, Euch zur Hand zu gehen, wenn es zum Äußersten kommt.“
„Výnrath“, gab Osse zu bedenken, „in Begleitung von Herrn Merrit bin ich sicherer, als wenn mich ein ganzes Heer begleiten würde.“
Merrit grinste geschmeichelt. Aber beschwichtigen ließ er sich nicht. „Verfolgt hat uns keiner, so viel steht fest. Und anschleichen kann sich auch niemand, auf diesem platten Land.“
„Wir kommen bald in bewaldete Gegenden.“
„Bei den Mächten, man müsste ja fast fürchten, dass hinter jedem Baum ein Meuchelmörder versteckt ist.“
„Vielleicht solltest du ein Stück vorausreiten“, schlug Merrit vor. „Als unser Späher.“
Výnrath schaute sich verwirrt um.
„Wir bleiben brav auf dem Weg. Schließlich haben wir dasselbe Ziel. Aber ich würde es schätzen, wenn ich einen Moment mit Herrn Merrit allein reden könnte.“
„Yarl Emberbey, ich …“
„Es ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt“, sagte Osse streng. „Es sind Dinge, die nur ihn, mich und die teirandanja betreffen und die geklärt sein müssen, bevor wir in Wijdlandt eintreffen.“
„Aber Herr …“
„Im Wald brauchen wir dich an unserer Seite. Also?“
„Herr, ich bin verschwiegen.“
„Und ich bin der künftige mynstir. Selbst yarl Grootplen wäre mir unterwiesen. Also?“
Výnrath neigte gehorsam den Kopf. „Wie Ihr wünscht, Herr. Aber nur, solange wir in offenem Gelände sind.“ Dann ließ er sein Pferd antraben und brachte etwas Entfernung zwischen sich und die beiden jungen Männer.
Merrit zügelte seinerseits seinen Braunen, bis der nur noch trottete. Osses Maultier hielt Schritt mit dem wuchtigen Hengst.
„Mit dem Kerl stimmt etwas nicht“, sagte Merrit und beobachtete den Begleiter skeptisch.
„Der Kerl ist nicht echt“, stimmte Osse zu. „Ich bin fast gänzlich sicher.“
„Wieso?“
„Überlegt doch nur. Würde Tíjnje einen Boten wählen, der ihrer Großmutter wohlbekannt ist? Wieso sollte ein Dienstmann aus Grootplen uns einen Brief aus Wijdlant bringen?“
„Überhaupt nicht. Du hast recht.“
„Es hätte nur dumm laufen müssen, sodass die eld-yarlara ihn zu Gesicht bekommen hätte. Der ganze Plan wäre dahin gewesen.“
„Also lügt er?“
„Ich bin nicht sicher. Immerhin hat er den Brief bei sich gehabt, und der war unzweifelhaft echt.“
„Das passt nicht zusammen.“ Merrit ließ die Zügel los und verschränkte die Arme. Sein Ross stapfte noch ein paar Schritte geradeaus und schwenkte dann an den Ackerrand. Dort plätscherte ein Rinnsal in einem Bewässerungsgraben. Das Pferd begann, zu saufen. „Und warum ist er so erpicht darauf, mit uns zu reiten?“
„Vielleicht hat Tíjnje einfach den nächstbesten Dienstmann beauftragt, der ihr über den Weg lief? Vielleicht will er die Gelegenheit nutzen, dem vasposár beizuwohnen.“
„Nein. Unmöglich. Wir reden von Tíjnje. Ein so großer Fehler oder Leichtsinn wäre ihr nie untergekommen.“
„Merrit,da ist noch etwas.“
„Ja?“
„Ich kann mir nicht helfen. Aber irgendwie kommt der Bursche mir bekannt vor.“
„Was sagst du da?“
„Ich bin nicht ganz sicher. Heute Nacht, im Dunklen, mit seinem Mantel … aber wenn ich ihn so bei Tageslicht vor mir sehe, wie er da im Sattel sitzt, bin ich mir fast sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben. Aber ich bringe ihn nirgends unter.“
Výnrath hatte bemerkt, dass die beiden jungen Männer angehalten hatten. Er hielt an und drehte sich im Sattel um. Aber solange das Pferd und das Maultier tranken und Gras aus dem Graben zupften, hatten sie Zeit.
„Die Botschaft“, sagte Merrit, „passt nicht zum Boten.“
„Aber du hast den Brief gesehen. Es war Manjévs Handschrift und das Siegel der teiranday. Was gesehen sollte, ist geschehen: Jándris und Láas werden der eld-yarlara den Brief zeigen, der uns entschuldigt. Genau, wie es geplant war.“
„Trotzdem. Je länger ich darüber nachsinne, desto lieber wäre ich unseren neuen Freund los. Und weißt du was?“
„Sag es mir.“
„Ich denke auch schon eine Weile, dass ich ihn irgendwo schon einmal unter den Augen hatte. Der junge Ritter lachte unfroh. „Vielleicht werden wir tatsächlich verfolgt, oder zumindest beobachtet.“
„Und nun? Ist das die schnellste Straße nach Wijdlant?“, erkundigte Osse sich. „Könnten wir ihn irgendwie abhängen, den Verfolger?“
„Es ist der direkte, sicherste Weg. Wir könnten allenfalls den Wald umgehen, indem wir hier querfeldein nach Osten abkürzen.“
„Über die Äcker?“
„Ja, genau. Aber das täte ich ungern. Äcker sind unantastbar.“
„Ich weiß. Aber es ist geerntet und noch nicht neu gesät. Wir würden kein Getreide umtreten.“
„Das schon. Aber ich kann es mir nicht erlauben, wenn mein Pferd sich in einer Furche oder einem Mausebau vertritt. Und dein Maultier ist sicher auch nicht der schnellste Renner.“
Das war ein berechtigter Einwand. Osse schaute sich zu Výnrath um. Der wartete gehorsam, aber es war nicht zu übersehen, wie ungeduldig er wurde.
„Und wenn er mit den Schurken und Spionen, die er sich einbildet, unter einer Decke steckt?“
Die beiden Freunde schwiegen einen Augenblick lang ratlos. Dann spornte Merrit seinen Braunen wieder an. Das Maultier zuckelte hinterdrein, noch bevor Osse etwas tun musste.
„Habt Ihr Eure Unterredung beendet, edle Herren?“, fragte Výnrath höflich.
„Wir sind uns etwas uneins, Výnrath“, sagte Merrit leutselig. „Weißt du, dieses vasposár, das geht uns allen im Kopf um und um und herum. Ich selbst bin so aufgeregt, dass ich an gar nichts anderes denken kann.“
„Das kann ich mir gut denken, edler Herr. Gerade nach dem, was Euch nach Eurem Triumph beim Turnier als süßer Lohn erwarten wird.“
„Vorsicht!“ Merrit hob warnend den Finger. „Gratuliere mir nicht zu früh. Es treten die besten yarlandoray von nah und fern an. Es ist lange nicht gesagt, dass ich aufrecht den Platz verlassen werde.“
„Aber Herr! Euer Ruhm eilt euch voraus, bis in die hintersten Winkel von…“
„Ja? Bis wohin“
„Ich meine … selbst in Aurópéa hat man schon von Euch gehört.“
„So. Ich sollte aufhören, so viel Geld für Lobhudeleien an báchorkoray zu verschwenden. Die Kerle neigen allzu sehr zur Übertreibung. Einer erfindet zum nächsten etwas hinzu, und am Ende staunt man über die eigenen Ruhmestaten.“
Osse verkniff sich ein Grinsen. Výnrath schien verunsichert.
„Herr … was habe ich damit zu tun?“, fragte er vorsichtig.
„Nun, wir fragten uns, welche der hochedlen Damen am Hof der teirandanja wohl die meisten Herzen der yarlandoray zum erglühen bringt.“
Osse hob überrascht die Brauen, aber Merrit redete schneller weiter, als dass er etwas einwenden konnte.
„Nun, ich sprach gerade mit Herrn Osse darüber, welche der Damen wohl liebreizender ist. Die hochedle Truda Emberbey oder die nicht minder edle Tíjnje Moréaval.“
Výnrath blinzelte verdutzt. „Wie bitte?“
„Nun, Herr Osse, wie würdet Ihr zwischen den beiden entscheiden?“
„Es erscheint mit unschicklich, den Liebreiz der Damen zu vergleichen wie … wie Zierrat“, sagte Osse befremdet. Merrit hatte etwas vor, das war klar. Aber wie kam er auf solche dreiste und anzügliche Rede?
„Verzeiht mir, Herr Osse. Selbstverständlich werdet Ihr im Geheimen selbst im Vergleich mit der teirandanja die Tugend und Schönheit Eurer eigenen Schwester am höchsten halten. Nun ja. Vielleicht wird Frau Tíjnje nichtsdestoweniger einen jungen Herrn entzücken. Es wäre ihr zu wünschen. Sie ist ja allzu leicht zu übersehen unter den blumenschönen Damen, mit ihren braven blonden Zöpfen. Findest du nicht auch, Osse?“
„Natürlich. Sehr brav und sittsam ist sie. Denn was ist die Schönheit auch für ein vergängliches Gut gegen ein lauteres Herz.“
„Aber Ihr müsst zugeben, eine Stimme hat sie, wie eine erkältete Krähe. Es schrillt in den Ohren, wenn sie lacht.“ Merrit verzog das Gesicht und schüttelte sich. „Wie gut, dass ich mir darum keine Gedanken machen muss.“
Osse dankte den Mächten, dass Tíjnje nicht anwesend war.
„Wie kommst du damit zurecht, Výnrath?“
„Ich … achte nicht darauf und lasse es mir nicht anmerken.“
„Das ist löblich. Dann können wir nun ja weiter.“
„Das wäre mir sehr recht, Herr.“
Merrit trabte an, aber nur ein paar Pferdelängen voraus. Dann blieb er schon wieder stehen. „Ach, wie ärgerlich!“
„Was gibt es, Herr?“
„Ich glaube, an meinem Lederzeug ist etwas verrutscht. Ich höre einen Riemen knarren. Würdest du nachschauen?“
„Herr …“
„Ich würde Herrn Osse fragen. Aber der kennt sich wohl nicht aus mit einem solchen komplizierten Sattel. Aber er hält sicher gern dein Ross derweil. Nicht wahr?“
Výnrath zögerte. Aber der junge Ritter schaute ihm so erwartungsvoll entgegen, dass er keine Wahl hatte. Er saß ab, reichte Osse die Zügel an und ging hinüber zu Merrits braunem Streitross.
„Wo knarrt es, Herr?“
„An der Kruppe. Vielleicht hat sich etwas am Hintergurt verheddert.“
Der Mann begutachtete das Lederzeug. Merrit nutzte die Gelegenheit, sein Schwert zu ziehen und die Spitze Výnrath zwischen die Schultern zu drücken. Der erstarrte.
„Kommt mit dem Pferd her, Herr Osse. Hier, an meine rechte Seite. Und du, Bursche, von dir wüsste ich gern, wie es sein kann, dass du getreuer Knecht den Liebreiz deiner Gebieterin nicht gegen meine frechen Worte verteidigt hast.“
„Herr“, brachte Výnrath gepresst vor. „Ich weiß nicht, wovon ihr redet! Was soll das?“
„Du willst es mir nicht sagen? Dann sagt Herr Osse es dir umso lieber.“
„Man kommt nicht umhin, dass du die Dame, die dich mit dem Brief zu uns schickte, wohl nie von Angesicht gesehen hat. Du warst etwas wenig überrascht über Herrn Merrits Lästereien.“
„Herr, es steht mir doch nicht an, das Urteil eines yarls anzuzweifeln, so unsittlich es ist!“
„Das ändert nichts daran, dass Tíjnje Moréaval braungelocktes Haar hat und eine Stimme, lieblich wie ein zwitscherndes Vöglein. Wer bist du, Kerl, wenn du ganz offensichtlich nicht Frau Tíjnje Diener bist?“
Výnrath schnaubte.
„Heraus damit. Wer bist du? Und wie bist du an den Brief gekommen?“
„Meinen Namen hab ich gesagt. Der ist echt.“
„Und der Brief? Wo ist der wirkliche Bote, der ihn überbringen sollte?“
„Sprich. Wir wollen uns nicht lange mit Ratespielen aufhalten.“ Merrit gab seinen Worten mit dem Schwert Nachdruck. „Das hier ist frisch geschliffen.“
„Bei den Mächten, lasst es gut sein. Ja, ich hab dem Boten den Brief gestohlen, mitsamt seiner Tasche. Einen halben Tagesritt von Grootplen entfernt. In so einer kleinen Dorfschankstube.“
„Und wo ist der Bote?“
„Woher soll ich das wissen? Denkt ihr, ich hab danebengestanden und gewartet, bis der mich ertappt? Abgehauen bin ich, mit Brief und den paar Münzen, die er im Beutel hatte.“
„Dann bist du also ein ganz gewöhnlicher Beutelschneider?“
„Soll ich es leugnen?“
„Na wunderbar, “ seufzte Merrit. „Das wird den alten Herrn Daap aber gar nicht freuen, nun doch echtes Raubgesindel in seinem yarlmálon zu haben! Und wo kommst du her?“
„Aus dem Norden.“
„Aus dem Norden?“ Osse spähte an Merrit vorbei auf den zerknirscht dreinblickenden Mann hinab.
„Hab ich doch gesagt! Bin am Meer geboren.“
„Geht es etwas genauer?“
„Aus Rodekliv. Bin weggelaufen. Kein gutes Leben da für einen wie mich. Sind schnell mit dem Strick bei der Hand.“
„Hat dich jemand geschickt?“
„Was meint Ihr, Herr?“
„Du bist nicht etwa im Auftrag meines Weitvetters hier?“
„Welcher Weitvetter? Auf dem Weg zum vasposár bin ich. Aber nicht wegen der Weiber. Sollen viele reiche Leute dort sein, sagt man sich.“
„Und was machst du dann hier mit uns und nicht längst auf dem Weg zum Fest?“
„Ich war neugierig. Hab den Brief gelesen und gesehen, was drin stand. Und dann dachte ich …“ Er zögerte, ganz kurz, bedächtig, bevor er weiter sprach. „Ich dachte, was für ein unverschämtes Glück! Wenn ich mit den edlen Herren zusammen reise, da guckt mir doch keiner in den Geldbeutel.“
„Zeig her.“
„Was?“
„Zeig her. Ich will sehen, was du an Reichtümern mit dir führst.“
Výnrath nestelte seinen Geldbeutel auf und schüttete einige Münzen in seine Hand. Vorsichtig drehte er sich zu Merrit um und hielt ihm das Geld entgegen. Ein bisschen Kupferklein und zwei Silbermünzen waren dabei. Und vier aus blankem Gold. Viel zu viel, um zur Barschaft eines einfachen Gauners zu gehören. Geprägt waren drei davon in Virhavét und eine in Aurópéa.
„Hab Glück gehabt“, erklärte Výnrath eilig. „Reiche vendyray.“
„So. Du raubst rechtschaffene Handelsleute und geheime Boten aus und glaubst, unter unseren Fittichen den nächsten Beutezug beginnen zu können? Schämst du dich nicht, vor dir und den Mächten? Und schau mir ins Gesicht, wenn du deine Taten bekennst!“
Er zog die Klinge hoch und der scharfe Stahl zerschnitt die Wollkapuze, so geschickt, dass Výnrath weder Haut noch Haar geritzt wurde. Aber der Schreck lähmte den Mann. Er erstarrte und wich dann hastig einen Schritt zurück, aus Merrits Reichweite.
Und so, als wolle er es daselbst enthüllen, stieg just in diesem Moment das erste Leuchten von Pataghíus Glanz im Norden über den Grat des Montazíel und die Morgendämmerung erhellte sich, als fiele ein Schleier nieder.
„Ich erkenne dich!“, rief Osse bestürzt aus. „Der Reisende aus Hethrom!“
„Was?“
„Er hatte ein anderes Pferd und sich den Bart wegrasiert und einen Teil der Haare! Aber ich erkenne ihn! Dann war also tatsächlich etwas verdächtig an ihm.“
Výnrath ging weitere zwei, drei Schritte rückwärts.
„Nun, da Ihr es sagt, Herr Osse … ja, ich erinnere mich. Der Hitzkopf, der sich mit der berüchtigten maskierten Räuberbande anlegen wollte, ist also selbst ein solcher. Wie kurios!“
„Was ist daran kurios?“, schnaubte Výnrath. „In so einer Reiseschar ist gutes Geld zu machen. Bis zum Ziel wäre ich reich gewesen!“
„Und wie lange hättest du dieses Spielchen hier noch fortgeführt? Früher oder später hätte Herr Osse dich bei aller Maskerade erkannt!“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht“, entgegnete der enttarnte Bote.
„Und was sollte dieses Gefasel von den versteckten Spionen?“
„Dringlich wollte ich es machen. Und nun? Ich habe wohl mein Glück überstrapaziert. Und jetzt? Was wollt ihr tun? Mir den Kopf abschlagen mit Eurem feinen Turnierschwert? Für ein paar lächerliche Münzen und eine kleine Dreistigkeit mit Eurem Brief?“
„Wir befinden uns noch auf den Ländereien von yarl Grootplen“, sagte Osse. „Über diese Dinge hat er zu entscheiden.“
„Und ich habe keine Lust, mir mein Schwert an einem wie dir zu besudeln.“ Merrit steckte die Klinge ein. „Dafür ist es nicht bestimmt. Yarl Emberbey, was denkt Ihr hierzu?“
Osse lenkte sein Maultier um das Pferd herum und streckte die Hand hinab. „Das Geld. Gib mir das Gold und Silber. Ich nehme es in Verwahrung. Sobald das vasposár vorbei ist und ich die Zeit dazu habe, werde ich versuchen herauszubekommen, wem du es gestohlen hast. Ich kenne die Namen einiger Leute aus der Reiseschar, die es bezeugen können sollten.“
Výnrath stutzte. Dann gab er dem jungen Mann die sechs Münzen.
„Und wir nehmen dein Pferd mit“, fuhr Osse fort. „Auch das ist nicht das, mit dem du gekommen bist. Hast du es aus dem Stall der Herberge?“
Der Dieb zuckte die Achseln. Das sollte wohl eine Antwort sein. Osse gab sich damit zufrieden. „Auch das schicken wir mit der nächsten Reiseschar, die uns begegnet, zurück.“
„Und was geschieht mit mir?“
„Lauf“, antwortete Merrit. „Wir haben nicht die Muße, uns nun mit einem Halunken wie dir abzugeben. Preise die Mächte, dass wir uns so viel angenehmeren Dingen zuwenden wollen, sobald wir in Wijdlant sind. Schau, wie schnell du zu Fuß hier aus dieser Gegend kommst. Was sage ich, aus der Gegend – in keinem yarlmálon von Wijdlant solltest du dich mehr sehen lassen, wenn du einer gerechten Strafe entgehen willst!“
Nun war Výnrath sprachlos.
„Ihr lasst mich laufen? Einfach so?“
„Wir lassen dich nicht laufen – wir verstoßen dich aus dem Reich unserer teirandanja. Hier soll es keinen Betrug und keine Diebereien geben! Die paar Münzen – mögest du dich besinnen und fortan ehrlich und tugendsam sein. Hättest du ein Menschenleben dafür genommen, wäre es dir weniger gut bekommen.“
„Dann hätten wir uns die Zeit genommen, dich nach Wijdlant mitzuschleppen. Du hast Glück, Výnrath – falls du wirklich so heißt – dass wir hier auf offenem Feld wirklich nichts mit dir anfangen können.“
Výnrath starrte zu den beiden auf, vom einen zum anderen. Dann besann er sich, fiel auf die Knie und begann, vor Dankbarkeit zu schluchzen.
„Dank!“, rief er aus. „Mögen die Mächte Euch für Eure Gnade belohnen! Mögen Pataghíu und Noktáma Euer Amt und Euer Glück festigen, und mögen die schönsten fánjulaé Euch geneigt sein! Mögen …“
„Kommt, Herr Merrit! Das wird mir zu peinlich“, sagte Osse und spornte sein Maultier an. Das Pferd des enttarnten Gauners trabte ihm brav nach.
Merrit grinste. „Und du“, wandte er sich dann unheilvoll an Výnrath, „wenn du Osse Emberbey noch einmal auf Sicht nahekommst …“
„Sicher nicht, Herr! Ganz bestimmt nicht! Möge die teirandanja Euer Werben erhören! Möget Ihr der mächtigste teirand aller Zeiten werden! Möge …“
Merrit wendete und galoppierte südwärts, seinem Freund nach.
Výnrath erhob sich und klopfte sich den Straßenstaub ab.
„Mögen Euch die Chaosgeister holen“, zischte er verärgert. „Alle beide!“
***
Farbenspiel war neugierig. Die Einhörner kamen in Aurópéa immer nur aus der Entfernung in Kontakt zu gewöhnlichen Pferden, und meist waren die Pferde wenig begeistert davon. Doch Einhörner waren ihnen ähnlich genug, sodass sie nicht in nicht mehr zu bändigende Panik gerieten. Üblicherweise reagierten Pferde ohne jedes Imponiergehabe mit dem Klügsten, was sie tun konnten: Sie unterwarfen sich und versuchten, den großen Gefügelten nicht zu nahe zu kommen.
Die Stute war nicht verängstigt, aber sehr vorsichtig. Sie hatte die Ohren aufmerksam aufgestellt, stand stocksteif und hatte den Hals hochgereckt. Ihre Nüstern bebten. Farbenspiel zeigte sich von seiner manierlichsten Seite. Seine Flügel hatte er fest angelegt und sah in der Morgendämmerung für flüchtige Blicke nun aus wie ein etwas unförmiges, übergroßes Pferd. Wie bunt er war und wie Furcht einflößend seine Zähne und Klauen waren, verdeckte das graue, morgendliche Dämmerlicht noch. Er schnaubte der Stute freundlich und sehr interessiert entgegen.
„Freundet euch nicht zu sehr an“, mahnte Advon und wandte sich seinem neuen Ross zu. „Ich denke, ich bringe dich zu den anderen Pferden im Ritterlager. Da wirst du besser versorgt und bewacht als hier im Wald. Ich versuche, Sattelzeug für dich aufzutreiben. Vielleicht kann unser neuer Bekannter uns auch dabei behilflich sein.“
Der Hengst brummte, klang fast enttäuscht.
„Du bewachst weiterhin meine Sachen. Es ist mir nicht recht, dass ich alles hier ablegen muss.“ Advon klopfte Farbenspiel den Hals. „Und du, mein Guter, wie ich dich längere Zeit verstecken kann, das weiß ich auch nicht. Bei den Mächten, wenn doch nur diese Geheimniskrämerei nicht nötig wäre. Noch so einen Vorfall wie den heute Nacht im Garten brauche ich nicht noch einmal. Warte hier auf mich. Bis zum Mittag bin ich wieder bei dir.“
Advon schwang sich auf den Rücken der Stute. Aus dem Halfter und Führstrick hatte er einen provisorischen Zaum geknüpft, der für seine Zwecke ausreichend war. Das Pferd war gefügig und setzte sich brav in Bewegung. Farbenspiel schaute ihnen nach, schnaubte bedauernd und trottete dann in das Wäldchen zurück.
Der junge Ritter genoss, dass es endlich wieder hell wurde. Mit der Sonne würde nun auch wieder etwas Herbstwärme kommen. Im Cielástel, am Rand der Wüste, wurde es niemals wirklich kalt. Schnee hatte der junge Mann erstmals gesehen, als er die Schattensänger im Boscargén besucht hatte. Wie es wohl in Ghelazia oder Ycelia sein mochte, wo der Sommer zu kurz war, um Obst zum Reifen zu bringen?
Eine gewisse Eile war dabei. Wenn der namenlose Ritter ihm mit dem Pferd helfen sollte, musste er das tun, bevor er selbst zur Burg aufbrach. Mochten die Mächte geben, dass Dýamirée derweil nicht irgendein Missgeschick widerfuhr. Auf diese Wiese ganz ohne Heimlichkeiten in Manjévs Nähe zu gelangen, das war gut. Aber dass so viele ahnungslose Unkundige an der Sache beteiligt waren – das gefiel Advon nicht.
Auf dem Weg zum Lager kam Advon ein Reiter entgegen, ausgerechnet jener, zu dem er auf dem Weg war.
„Guten Morgen!“, rief der unbekannte Ritter ihm entgegen. „Ich sehe, Ihr habt einen guten Handel gemacht!“
Advon ritt heran und brachte die Stute dann neben dem Schimmel des Ritters zum Stehen. „Guten Morgen. Ja, wahrhaftig. Ein prächtiges Tier. Ihr habt nicht übertrieben. Allerdings …“
„Was? Ist etwas nicht zu Eurer Zufriedenheit?“
„Die Umstände des Handels kamen mir ausgesprochen seltsam vor. Der Schmied hat seinen jungen Sohn vorgeschickt, das Geschäft zu machen. Angeblich war sein Vater anderenorts beschäftigt.“
„Was ist daran ungewöhnlich? Schmiede, Lederer und Schneider haben gerade alle Hände voll zu tun. So viel kann beschädigt werden, auf diesen langen Reisewegen.“
„Mitten in der Nacht?“
„Ausruhen kann er sich nach dem vasposár noch lange genug. Wohin des Weges mit dem feinen Pferdchen?“
„Zum Lager zurück. Ich will es dort in Verwahrung geben. Und Ihr? Das ist doch nicht der Weg zur Burg? Wolltet Ihr nicht die teirandanja mit dem kleinen Eichhörnchen erfreuen?“
„Das hat sich erledigt.“
Advons Herz setzte einen Schlag aus vor Schreck. „Wie bitte? Ich meine … warum?“
„Ich habe einen guten Tausch gemacht. Mit yarl Ycelia.“
„Was hat der yarl mit dem Tier vor?“
„Was werdet Ihr plötzlich so kreidebleich im Gesicht?“
„Nun. Es interessiert mich.“
Der namenlose Ritter grinste. „Als ich ihn vorhin sah, war er im Begriff, in großem Prunk und mit Gefolge zur Burg aufzubrechen. Mit dem Eichhörnchen in einem geschmückten Körbchen.“
Advon atmete auf. Dann schien sich wohl am ursprünglichen Plan nicht viel geändert zu haben. Aber was machte der fremde Ritter dann jetzt und hier?
„Wohin führt Euch der Weg so früh? Habt Ihr im Dorf zu tun?“
„Nein. Um ehrlich zu sein, ich wollte nach Euch sehen. Ich vermutete, dass Ihr mit Eurem neuen Schatz hier entlang kommen würdet.“
„Dafür steht Ihr vor dem Morgengrauen auf? Ihr hattet das Pferd doch bereits gesehen.“
„Das stimmt. Eine Überraschung ist es nicht. Aber …“ Der Ritter schaute sich verschwörerisch um. „Es kann sicherlich nicht schaden, wenn Ihr mit dem Prunkross nicht allein bleibt.“
„Besteht die Gefahr, dass jemand es stehlen will?“
„Man munkelt so einiges im Lager. Dinge verschwinden spurlos. Gestern ein Krug Bier, heute ein Pferd? Je näher das vasposár rückt, desto begehrlicher könnten Halunken werden. Und ich fühle mich für Euch verantwortlich, nachdem ich Euch auf dieses Geschäft gebracht habe. Kommt mit mir!“
Advon hatte keine Veranlassung, das freundliche Angebot abzulehnen. Die beiden Männer trabten auf das Zeltlager zu, wo noch kaum jemand auf den Beinen zu sein schien. Vor dem prunkvollen Zelt des yarl Ycelia waren zwei sehr junge Knaben damit beschäftigt, das Zeug aufzuräumen, das ihr Herr mit seinem Gefolge bei seinem Aufbruch hinterlassen hatte. Den beiden Reitern schenkten sie keine Beachtung.
Der Ritter schwang sich aus dem Sattel. „Rolk! Rolk, du Faulpelz! Steh auf!“, rief er und lüftete die Zeltplane ein Stück. „Du wirst gebraucht.“ Und zu Advon gewandt, erkundigte er sich: „Ich darf Euch doch auf einen Becher mit Bittersamensud und ein Stück Zwiebelbrot einladen? Die teiranday haben eine hervorragende Versorgung für uns sichergestellt.“
„Bittersamensud?“
„Ein sehr vornehmes und anregendes Getränk, wie es in Ivaál beliebt ist. Ihr seht aus, als hättet ihr eine ganze Weile noch nichts zu Euch genommen.“
„Ich will Eure Geduld und Großzügigkeit nicht überbeanspruchen.“
„Nein, nicht doch. Ich freue mich doch, wenn das vasposár mir nicht nur Ruhm und Ehre, sondern auch freundliche Bekanntschaften bringt.“ Er lachte. „Nicht, dass mich das daran hindern würde, Euch im Turnier in den Staub zu werfen.“
Advon nickte höflich. Derweil kam Rolk, der Knappe des großzügigen Ritters aus dem Zelt hervor. Wie sein Herr trug er Gewänder ohne ein Wappen oder auffällige Farben. Advon schätzte ihn auf vierzehn, fünfzehn Sommer. Sein sandbraunes Haar war zerrauft und seine Augen müde. Unverhohlen gähnte der Junge. Wahrscheinlich war er spät zum Schlaf gekommen und nun viel zu rasch wieder geweckt worden. Artig, aber etwas nachlässig verneigte er sich vor Advon.
„Hier. Nimm die Pferde und versorg sie. Und bring auf dem Rückweg ein gutes Frühstück mit.“
„Sofort, Herr Ká… Herr.“
„Und gib gut acht, dass du es richtig machst.“
„Ich bin schon unterwegs, Herr.“ Rolk wartete, bis Advon abgesessen war.
„Kommt in mein Zelt, junger Freund!“ Der Ritter schob einladend die Plane beiseite. „Rolk versteht sich ausgezeichnet auf Pferde. Das Eure ist bei ihm in besten Händen. Ach, Rolk?“
Der Junge war mit den Pferden schon losgegangen, blieb aber noch einmal stehen. Sein Herr warf ihm einen kleinen Beutel aus bunt besticktem Stoff zu. Rolk hob ihn auf, errötete und führte den Schimmel und die Stute fort.
Advon schaute ihm nach und schlüpfte dann ins Zelt. Rolks Bettstatt war unordentlich. Ein grober Wollumhang, den der Junge wohl als Decke nutzte, lag zusammengeknüllt halb auf dem Boden, neben der großen, nun leeren Glaskanne. Er setzte sich.
„Wann werdet Ihr der teirandanja einen Besuch abstatten?“, erkundigte er sich.
„Ich denke, sobald es ganz hell geworden ist und yarl Ycelia wieder zurückgekehrt ist. Ich möchte nicht, dass sein Auftritt durch mein Hinzukommen geschmälert wird. Würdet Ihr mir derweil eine Freude und Ehre bereiten? Als kleine Geste zum Pferdekauf?“
„Womit kann ich Euch dienen?“
Der fremde Ritter hob den Helm auf, der neben seinem Bett am Boden stand. Er war ähnlich altmodisch wie der, den Advon sich aus dem Ausschusslager der Burg mitgenommen hatte.
„Was haltet Ihr von einem kleinen Waffengang, sobald wir unser Frühstück zu uns genommen haben? Nur zur Übung. Damit wir beide nicht einrosten wie unser Eisenzeug und uns beim Turnier sogleich zu Narren machen.“
Advon stutzte. Mit so einer Bitte hatte er nicht gerechnet. Aber die Anfrage war legitim. Immerhin waren sie alle hier, um sich in einigen Tagen vor Manjév im Kampf zu messen. Und es konnte nicht schaden, sich mit der Art vertraut zu machen, mit der die unkundigen Ritter kämpften.
„Mit großem Vergnügen“, sagte er. „Ich bin dabei.“
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