
Tatsächlich löste das kleine Wäldchen ihre dringlichsten Probleme. Sie stießen dort auf ein kristallklares Bächlein, an dem das Pferd saufen und sie ihren Durst stillen konnten. Am Ufer wuchs allerlei grünes Bachkraut, das zwar im Herbst lange nicht mehr so gut schmeckte wie frisch im Frühling, aber zumindest den groben Hunger stillte. Die Mächte hatten sogar einige Nüsse und Eckern tragende Bäume am Rand ihres Weges wachsen lassen. Galéon zeigte Raýneta, wie man die Holzfrüchte geschickt aus ihren stacheligen Hüllen holte und trug ihr auf, reichlich davon zusammenzutragen. Die konnten sie sich später über einem Feuer rösten und einen Vorrat mit sich nehmen. Raýneta stellte sich geschickt an und war bald emsig bei der Sache und von ihrer Traurigkeit abgelenkt. Galéon machte sich auf die Suche nach essbaren Pilzen, fand aber nur wenige. Am Fuß einer mächtigen Nadeltanne stieß er auf eine Stelle, wo ein größeres Pilzbeet jüngst abgeerntet worden war. Galéon hob den Kopf und lauschte, streckte seine Sinne nach allen Seiten aus. Es schien sich niemand in unmittelbarer Nähe aufzuhalten. Kein Grund zu übertriebener Eile also. Aber auch nicht zu Sorglosigkeit.
Als er zu Raýneta zurückkehrte, präsentierte sie ihm stolz ihre zerstochenen Fingerchen und eine beachtliche Menge Nussfrüchte, die sie in dem Samtblütentuch zusammengeklaubt hatte. „Reicht das?“, fragte sie und wartete offensichtlich auf Lob.
„Hervorragend. Gib mir deine Hände. Und hör mir jetzt gut zu. Wir müssen, so schnell es geht weiter.“
„So schnell?“, fragte sie bekümmert. „Ich bin müde!“
„Wir sind immer noch auf der Flucht.“
„Ja, aber …“, sie druckste herum und brachte dann hervor: „Ich sitze schon ganz wund vom Sattel. Ich bin noch nie so lange geritten.“
„Ich bedauere, dass ich dir diese Strapazen nicht ersparen kann.“ Er ließ ihre Hände los und füllte die Nüsse in seinen Beutel. „Denk immer an das schöne weiche Bett mit den sauberen Decken, das in Althopian auf dich wartet.“
Sie hörte ihm nur halb zu, zu sehr war sie damit beschäftigt, ihre nun wieder makellosen Finger zu bestaunen. Der báchorkor ging zum Pferd. Der Hengst kaute noch gierig an einem Büschel Bachfarnwedeln und wollte davon nicht eher lassen, bis ihn Galéon mahnend an den Zügeln vorwärts zog.
Raýnetas Hunger war die eine Sache, das Pferd ein viel größeres Problem. Ein so großes Tier konnte nicht tagelang allein von dem zehren, was es im Vorbeigehen am Wegesrand erhaschte. Damit der Hengst durchhielt, hätte er genug Zeit zum Grasen benötigt, und die hatten sie nicht. Irgendwo mussten sie Futter beschaffen. Das benötigte das Pferd dringender als er und das Kind Galéon führte das Tier zu Raýneta hinüber und hob das Kind wieder in den Sattel.
Als sie aus dem Waldstück hinaus ritten, lagen vor ihnen weitere bereits abgeerntete Äcker und Brachwiesen. Das Gelände stieg sacht an, möglicherweise bereits ein kleiner Vorgeschmack auf das Hochland, auf das sie sich in dieser Richtung zubewegten. Hier und da erhoben sich einzeln oder in kleinen Gruppen stehende, vom Wind verwachsene Bäume und Inseln aus zähem Gesträuch. Das Gras beiderseits des Weges war verhältnismäßig kurz. Wahrscheinlich war hier erst von einigen Tagen eine Schafherde vorbeigezogen. Ein Wegestein, auf den sie nach einiger Zeit stießen, wies den Weg querfeldein zu einem Dorf und der ersten Herberge auf der Strecke zwischen Emberbey und Althopian. Der Weg dorthin sollte sich bis zum Abend bewältigen lassen.
Raýneta war es auf dem Pferd unbehaglich. Der Sattel war dazu bestimmt, einem Mann in Eisenzeug Halt zu geben. Wahrscheinlich war sie es gewohnt, einen weich gepolsterten Damensattel zu haben, der ihrer Größe entsprach, und einen weichgängigen Zelter darunter. Aber sie jammerte nur ganz wenig und so, dass sie vermutlich glaubte, er würde es nicht bemerken.
Die Straße führte schnurgrade durch weite Salzwiesen. Die Sandpfade wandelten sich zu einem über viele Generationen festgetretenen Erdweg, den die Menschen im yarlmálon Emberbey sorgsam in Ordnung hielten. Galéon hing seinen Gedanken nach. Dass sie seit Tagesanbruch und bis zu ihrer ersten Rast niemandem begegnet waren, mochte in der dünn besiedelten Gegend nicht viel heißen. Die Dörfer, über die Alsgör Emberbey gewacht hatte, befanden sich eher westlich und östlich in Richtung der Küste und beherbergten vornehmlich Fischer. Auf den Salzwiesen zogen die Hirten mit ihren Tieren hin und her und wenige Feldbauern kümmerten sich um die Flecken Acker, wo die Erde urbar genug war, um etwas anzubauen. Aber hier, hinter dem zweiten Waldring, würde es wesentlich schwieriger werden, sich ungesehen zu bewegen. Hier begann der tatsächlich fruchtbare Grund des yarlmálon, wo es sich lohnte, Ackerbau zu treiben. Hier gab es Dörfer, mehr Menschen, die ihren Geschäften nachgingen.
Sie passierten gerade einige Pferdeäpfel, die noch nicht allzu lange mitten auf der Straße liegen konnten, als Raýneta die Hand hob und auf die Brachwiese zu ihrer Linken deutete. „Da sitzt was.“
„Ein Tier?“
Sie nickte und spähte interessiert. „Das hat da was.“
Galéon blieb stehen. Er konnte es nicht so gut erkennen wie Raýneta von ihrem erhöhten Sitz, aber das von ihr entdeckte Tier hatte bemerkt, dass es die Aufmerksamkeit von Beobachtern weckte. Es flatterte auf und flappte mit kraftvollen Flügelschlägen zu einem fast kahlen Baum. Dabei wirbelte es ein Gestöber von Federchen aus dem hohen Gras auf. Mit scharfem Blick spähte der Vogel unwillig zu ihnen hin. Sein Gefieder war graublau, seine Brust hell und Krallen und Schnabel blutig.
„Ein Falke“, erklärte Galéon. „Hast du schon einmal einen aus der Nähe gesehen? Manche yarlay richten sie zur Jagd ab.“
„Nein“, sagte Raýneta beeindruckt. „Noch nie von so nahe.“
„Lass uns weitergehen. Wir haben ihn bei seiner Mahlzeit gestört.“
Der Falke lüpfte die Flügel und schüttelte sich. Er schien einen Augenblick lang zu überlegen. Dann stieß er sich ab und flog auf, schraubte sich hinauf in den blauen Herbsthimmel.
„Der hat keinen Hunger mehr“, sagte Raýneta und schaute ihm nachdenklich hinterher.
Galéon zögerte. Nun, es war lächerlich und würde sicherlich kaum ausreichen. Aber es wäre Verschwendung, nicht nachzusehen. Der báchorkor ließ den Grauen los und ging einige Schritte ins Gestrüpp hinein.
Es lohnte sich tatsächlich nicht. Der Falke hatte von seiner Beute kaum mehr übrig gelassen als ein paar Knochen, Federn und den Kopf. Und ein Stückchen Papier, das mit einer Schnur aus Pferdeschweifhaar an einem der Füßchen befestigt war. Ein winzig kleines Wachsplättchen, nicht größer als ein Apfelblütenblatt hielt das Röllchen geschlossen. Drei Fische zeigte das Siegel.
Galéon runzelte beunruhigt die Stirn. Dann löste er den Brief und bettete die Überreste der Taube wieder ins Laub. Mochten sie Ameisen und Schnecken nähren.
„Was hast du da?“, fragte Raýneta neugierig, als er wieder auf dem Weg bei ihr war.
„Eine geflügelte Botschaft aus Emberbey. Allzu veraltet kann sie nicht sein.“
„Dann muss Venghiár die Tauben ausgeschickt haben. Weißt du, alle paar Tage bringen sie uns aus unseren Dörfern und von weiter her neue Täublein. Die dürfen nicht zu lange in der Fremde sein. Und weißt du, warum?“
„Erklär es mir.“
„Sie vergessen, wo sie hingehören. Sobald neue ankommen, lassen sie die alten heimfliegen.“ Sie schaute neugierig auf das Papier in seiner Hand. „Armes Täublein. Ich bin gern auf dem Turm und bringe ihnen Erbsen und Hafer.“
„Ist eine darunter, die bis nach Althopian zurückkehrt?“
„Ja, immer. Das ist die, die am weitesten fliegt. Wenn es sein muss, schickt Herr Waýreth dann seine eigenen Tauben mit der Nachricht weiter nach Süden. Vielleicht ist dieser Brief ja auch für Herrn Waýreth bestimmt. Dann können wir ihm den mitnehmen.“
„Lass uns sehen.“ Galéon brach das Siegel mit dem Fingernagel auf und breitete den schmalen Papierstreifen aus. Was darauf in feiner, schmuckvoller Schrift begonnen war, hatte jemand hastig in nicht ganz so zierlichen Lettern, eng gedrängt und mit einer andersfarbigen Tinte auf dem verbliebenen Platz ergänzt. Der Inhalt erwies sich als ebenso wenig überraschend wie besorgniserregend.
„Du kannst lesen?“, staunte Raýneta. Das schien sie mehr zu verblüffen als die Magie.
„Natürlich.“
„Und was steht da?“
„Nichts, was du nicht selbst schon weißt. Euer maedlor verkündet dem, der es liest, dass dein Vater den Weg hinter die Träume beschritten hat.“
Das Mädchen schluckte tapfer, bevor der Jammer wieder jäh aus ihr herausbrechen konnte. Sie setzte einige Male an und brachte schließlich bemerkenswert gefasst hervor: „Ich glaube, diese Briefe waren schon lange fertig vorbereitet.“
„Und dann steht hier noch“, fuhr er fort, „dass ein niederträchtiger báchorkor der Mordstecher sei und ein gewisses kleines Mägdelein geraubt habe. Man möge den Kerl fangen und, nach Möglichkeit lebendig, zum Verhör nach Emberbey bringen. – Wir stecken in Schwierigkeiten, Vögelchen. Nun haben wir Häscher nicht nur hinter uns, sondern werden gleichsam schon erwartet.“
Raýneta gab einen ungewissen Laut von sich, ein Mittelding aus einem resignierten Seufzer und trotzigem Schnaufen. Galéon steckte die Botschaft ein und führte das Pferd weiter. „Schade, dass wir nicht wissen, wo genau die traurige Kunde dank eines hungrigen Jägers nicht angekommen ist. Seien wir den Mächten dankbar, dass der unglückliche Botenvogel und wir uns dieselbe Straße entlang bewegt haben. Mit etwas Glück schlüpfen wir gerade durch eine Lücke von Ahnungslosen. “
Sie gingen weiter. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder etwas sagte. „Kannst du sie nicht besiegen, wenn jemand uns fassen will?“
„Besiegen?“
„Mit deinem Schwert? Kannst du nicht kämpfen, wenn dich jemand angreift?“
Das war eine so entzückend unschuldige Frage, dass er darüber lächeln musste. „Nein, Vögelchen. Das kann ich nicht. Und hast du nicht selbst gesagt, báchorkoray dürften keine Waffen tragen?“
„Und nun? Wohin gehen wir?“
„Zur Herberge.“
„Da fangen sie dich!“
„Wir haben keine andere Wahl.“ Er klopfte dem Pferd den Hals. „Er hier braucht Futter. Sonst bricht er uns zusammen, ehe wir in Althopian ankommen.“
„Aber du kannst nicht einfach in der Herberge um Futter bitten“, widersprach sie. „Du musst denen zumindest Geschichten dafür erzählen. Und das geht doch jetzt nicht mehr! Ich will nicht, dass sie dich zu Venghiár bringen.“
„Ich habe nicht vor, dort für sein Futter zu sorgen, Vögelchen“, sagte Galéon. „Das musst du tun.“
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