Wir begegnen Yalomiro Lagoscyre irgendwo auf halber Strecke zwischen den teirandon  [~ Königreichen] Wijdlant und Spagor.  Er scheint es sehr eilig zu haben. Allerdings übt er selbst aus der Entfernung eine so unwiderstehliche Anziehungskraft auf uns aus, dass wir ihn unbedingt interviewen müssen.  Zum Glück ist er ein überaus höflicher und geduldiegr Mensch , also nimmt er sich die Zeit für uns, besteht allerdings darauf, dass wir ihn auf gar keinen Fall in die Augen schauen. Sicherheitshalber, sagt er und zieht sich seinerseits in den Schatten eines nahestehenden Baumes zurück. Er ist zwar noch da, aber irgendwie schwer auszumachen, ungefähr so, als habe er einen  Schleier über sich geworfen.

Ist das nicht ein wenig übertrieben, dass du dich gleich irgendwie  unsichtbar machst? Ich will doch nur mit dir reden!

Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Ich habe leider keinen Einfluss darauf, wie verhängnisvoll mein Anblick auf unkundige Menschen sein kann.

Siehst du denn so schrecklich aus, dass man sich vor dir erschreckt?

Nein. Eher … das Gegenteil. Aber ich bin ein wenig in Eile. Also, was willst du von mir wissen?

Woher stammst du?

Ich habe keine Ahnung. Ich erinnere mich nicht, und es gibt niemanden mehr, den ich danach fragen könnte. Einige Leute vermuten, vermutlich wegen meiner dunklen Haare, dass ich in einem südlichen teirandon geboren wurde.

Wo und wie lebst du jetzt – und warum?

Bis vor ein paar Wochen habe ich südlich des Montazíel im Boscargén gelebt, in der Weihestätte von Noktáma, der Lebendigen Nacht. Ich war der Schüler des Großmeisters. Es hat Vorteile, an der Stätte seiner Arbeit zu wohnen. Aber der Boscargén, der Silberne Wald, ist verdorrt. Ich kann vorerst nicht dorthin zurück.

Welchem Geschlecht fühlst du dich zugehörig und welche sind deine Pronomen?

Ich verstehe die Frage nicht. Was sind Pronomen? (er wirkt ernsthaft verwirrt) Ich denke, alles spricht dafür, dass ich ein Mann bin.

Wie würdest du dich einer blinden Person beschreiben?

Warum sollte ich das tun?

Gut, anders gefragt – da du gerade mit dem Schatten dieses Baumes verschmolzen bist, ist nicht ganz klar, wie du aussiehst.

Na ja … ich bin groß, aber nicht so groß, dass man das bemerkenswert finden würde. Ich bin schlank, aber nicht so muskulös wie ein Ritter oder jemand, der schwere körperliche Arbeit verrichtet. Meine Haut ist dunkler als die der Leute aus dem Norden. Ich habe schulterlange schwarze Haare und neuerdings einen Bart. Ich bin mir noch nicht sicher, ob mir das gefällt, aber ich habe gerade nicht die Muße, darüber nachzudenken. Und deine Augen?

Die sind braun-silbern.

Silbern?

Unsere Augen unterschieden sich von denen der Unkundigen. Abhängig davon, wie stark unsere maghiscal fließt, sind sie mehr oder weniger silbern und leuchten.

Was ist eine maghiscal?

Das lässt sich einem Unkundigen nur schwer erklären. Kannst du dir die Flamme einer Kerze vorstellen? Das Feuer und die Hitze ist unsere Magie. Wir selbst sind der Docht. Die Magie ist immer um uns herum, sie kann hell aufflammen oder nahezu verglühen.

Hast du körperliche Beeinträchtigungen? Wenn ja, welche und wie bist du dazu gekommen?

Körperlich … nein. Nein, den Mächten sei Dank, ist mit meinem Körper alles, wie es sein soll.

Bist du ein Mensch?

Meistens. (Er kommt aus dem Schatten heraus und morpht kurzzeitig vom Menschen in ein Pferd, in eine Katze, in einen  Raben, in einen DRACHEN??? und … einen Schmetterling, der in den Schatten zurückflattert.)

Wie ist dein Verhältnis zu deiner Familie?

Sie ist fort, verschwunden aus meiner Erinnerung. (Er zögert.) Vielleicht haben sie sich aber noch eine Weile an mich erinnert. Und sehr wahrscheinlich waren sie erleichtert, nachdem ich  fort war.

Bist du von zuhause weggelaufen oder wurdet ihr durch ein Unglück getrennt, oder …

Nein. Mein Meister hat mich in Noktámas Heiligtum geholt. Alles, was davor war, ist aus meiner Seele ausgelöscht. Es ist unnötig, weiter danach zu fragen. Ich kann dir nicht antworten.

Aber wie willst du dann wissen, dass deine Eltern erleichtert waren, weil …

Ich habe dir gerade von der maghiscal erzählt. Es macht einen Unterschied, ob Magie, um beim Feuer zu bleiben, kontrolliert eine Kerze entflammt oder ohne Unterschied alles um sich versengt. Meinesgleichen hat mich gelehrt, ein Kerzendocht zu sein.

Das klingt, als wären Schattensänger gefährlich …

(Man hört ihn leise im Schatten lachen.) Oh ja. Das sind wir.

Wo hast du als Kind gern gespielt?

Als meine Erinnerung einsetzt, bin ich ein Knabe von etwa sieben Sommern. Ich hatte einen ganzen magischen Wald für mich, mit hohen Bäumen und tausend Verstecken. Aber am liebsten war ich am See. Mitten in unserem Wald ist … war ein See, ein bodenloser, stiller See. Ich liebte es, umherzulaufen, die Natur zu erkunden, die Tiere zu beobachten und mit den Pflanzen zu reden.  Allerdings war ich lange Zeit der jüngste unter den Schattensängern. Der nächstältere hatte schon bald keine Lust, sich mit mir abzugeben. Erst einige Sommer später kam endlich ein anderes Kind in den Wald zu uns. Arámaú war damals zwar halb so alt wie ich, aber … aber ich schweife ab.

Ist Arámaú deine Freundin?

Ja.

Weißt du, wo sie jetzt ist?

Ja.

Magst du mehr über euch erzählen?

Nein. Es könnte sie in Gefahr bringen.

(Das muss man natürlich akzeptieren. Man kommt aber nicht umhin zu bemerken, dass von der unscharfen Gestalt im Baumschatten plötzlich eine gewisse Traurigkeit ausgeht.)

Wann hat deine Kindheit geendet?

Ich denke, an dem Tag, an dem Gor Lucegath in den Boscargén kam. Gut, da war ich schon mehr als dreißig Sommer alt, aber Meister Gíonar hatte mir noch wenige Tage zuvor gesagt, er hielte es für ratsam, dass ich endlich erwachsen werde. Vielleicht hat er Recht gehabt. Im Nachhinein betrachtet, haben Arámaú und ich tatsächlich eine Menge kindisches Zeug angestellt. Aber warum auch nicht? Wir waren in Sicherheit und unbekümmert, bevor … Können wir das Thema wechseln?

Wie du willst. Welche Tradition magst du gern und ist dir wichtig?

Traditionen … ich glaube, davon gibt es bei den Schattensängern nur wenige. Es gibt ein paar Rituale zu Noktámas Ehren, die regelmäßig im Heiligtum durchgeführt werden, aber wir begehen keine Feste oder dergleichen. Wenn etwas wirklich Wichtiges passiert, wenn ein neues Kind in den Kreis aufgenommen wird oder ein  Großmeister hinter die Träume geht und sein Nachfolger seinen Platz einnimmt, dann ist alles ein bisschen ernster und festlicher. Aber das geschieht so selten, dass man kaum von Traditionen sprechen kann.

Welche ist deine glücklichste Erinnerung?

Hm. Glück … ich glaube, Glück ist etwas, das ich nicht richtig begreifen oder an einem bestimmten Ereignis festmachen kann. Ich hatte im Boscargén eine behütete, friedliche Zeit, während der ich mich niemals wirklich unglücklich gefühlt habe. Aber das war kein Glück, eher eine Selbstverständlichkeit. Das alles war auf einen Schlag fort, nachdem Gor Lucegath aufgetaucht ist.

Und danach gab es keinen Moment, in dem du dich über etwas so richtig gefreut hast?

Doch, aber ich fürchte, dass du nicht verstehen kannst, was daran so wunderbar für mich war.

Ich kann es versuchen.

Ich habe Magie mit einem unkundigen Wesen getauscht. Wir haben miteinander getanzt, und anschließend sind wir gemeinsam durch den Schatten gelaufen. Sie ist mir freiwillig in die Dunkelheit gefolgt.

Das klingt … äh … ungewöhnlich. Nein, es klingt … beunruhigend.

Es ist etwas, das mich nach wie vor verwirrt. Ich glaube, ich verstehe es selbst noch nicht wirklich. Dazu ist es noch zu früh.

Welche ist deine schmerzhafteste Erinnerung?

Bei den Mächten, davon gab es in den vergangenen zwei Monden so viel, dass ich es gar nicht aufzählen kann. Aber ich glaube, der größte Schock von allen war, als ich die Tür des Heiligtums aufstieß und der Wald … tot war. Meine Bäume, der See … alles ausgelaugt, verhungert und verschwunden. Alles, was ich an Schönheit, an Frieden und Lebendigkeit kannte, war von einem Moment zum nächsten einfach weg. Meine Vergangenheit war ausgelöscht. Alles, was danach an Schmerz dazu kam, hängt in der einen oder anderen Weise mit dem zusammen, was geschehen ist, was ich nicht aufhalten konnte. (Seine Stimme wird entschlossener). Und was ich in Ordnung bringen werde. Ich muss wirklich weiter. Ich ….

Worauf achtest du als erstes bei einer anderen Person?

?! Auf die Seele natürlich.

Wie bitte?

(er scheint sich zu amüsieren) Menschen haben etwas an sich, das unserer maghiscal gleicht, aber aus ihrer Seele nach außen strahlt. Um diesen Widerschein sehen und spüren zu können, benötigt man ein besonderes Einfühlungsvermögen.  Es gibt auch Unkundige, die dafür ein gutes Gespür haben, aber für einen Magier ist diese Aura nahezu sichtbar. Deshalb ist es für nichtmagische Menschen geradezu unmöglich, einen Magier zu betrügen oder in die Irre zu führen. Vielen Leuten ist das unheimlich. Sie denken, es sei Zauberei. Ist es aber nicht. Es ist einfach nur eine besonders scharfe Beobachtungsgabe und Empfindsamkeit.

Kannst du meine … Aura auch sehen?

Selbstverständlich. Sie ist … kurios.

… Welche Rolle nimmst du in einer Gruppendiskussion oder einer Gruppenarbeit ein?

Wenn Schattensänger etwas in einer Gruppe tun, entscheidet letztlich immer der Meister oder älteste in der Gruppe, was getan wird. Im Gegenzug muss derjenige jeden in der Gruppe anhören und darf kein Argument für und wider eine Sache geringschätzen. Da ich bislang kein Meister bin und immer Ältere als ich da waren, habe ich folglich immer nur meine Meinung und Ansichten eingebracht und den Entscheid akzeptiert. Oder ich habe allein etwas unternommen, ohne andere hinzuzuziehen. (er denkt nach). In der letzten Zeit war das manchmal schwierig. Mein Meister Askýn … nun, das Alter trübte seinen Verstand ein. – Sollte meine Geschichte weitergehen und ich meine Mission erfüllen, denke ich, dass ich nach Möglichkeit Gruppen vermeiden werde. Sie sind zu anstrengend. Wer darauf Wert legt, kann um meinen Rat bitten, aber ich werde mich hüten, mich zu sehr in Belange von Unkundigen einzumischen. Das geht nicht gut.

Bist du Feigling, Draufgänger  oder Mitläufer – und was muss passieren, damit sich das ändert?

Dass ich kein Feigling bin, hat mir vor einiger Zeit mein ärgster Widersacher bestätigt. Ich nehme das als bitteres Kompliment. Meister Gíonar wiederum sagte immer, ich sei leichtsinnig bis zur Unvernunft und Noktáma habe sicher einen Grund dafür gehabt, die Gemeinschaft der Schattensänger mit meinem Eigensinn zu strafen. Vielleicht hatte er damit sogar recht. Sagen wir, ich bin jemand, der durchaus Grenzen austestet – allerdings nur dann, wenn eine Sache nur mich allein betrifft. Sobald ich jemanden mit meinem Handeln gefährden könnte, kann ich mich durchaus selbst disziplinieren.

Was kannst du besonders gut?

Ich weiß, dass ich ein talentierter Magier bin, aber ich denke, so etwas meinst du nicht. Lass mich nachdenken. Ich bin musikalisch, kreativ und habe ein gewisses Geschick im Umgang mit Pflanzen.

Was kannst du überhaupt nicht?

Wahrscheinlich eine ganze Menge. Es gibt so vieles, was ich noch nie ausprobiert habe. Ordnung zu halten ist zum Beispiel etwas, das mir tatsächlich schwerfällt. Arámaú hat sich immer darüber lustig gemacht, dass es in meiner Stube aussähe, als sei gerade ein Orkan hindurch gezogen. Und ich habe kein Talent für feine Handarbeiten.

Handarbeiten?

(er kommt wieder einen  Schritt aus dem Schatten heraus, kehrt mir aber den Rücken zu) Willst du wissen, wie lange ich gebraucht habe, um diesen Mantel zu besticken? Und das nicht einmal besonders gekonnt. Die Stiche sehen aus wie die Fährten betrunkener Ameisen.

Hat das auch Arámaú gesagt?

Ja. Arámaú kann zuweilen etwas pedantisch sein. Sie ist Meister Gíonars Schülerin, das färbt ab. Aber ich mag nicht über Arámaú reden. Man weiß nie, wer einem zuhört.

Nun gut. Was würdest du gerne können?

Ich würde gerne Liebe empfinden können.

Das ist ein ziemlich sonderbarer Wunsch …

Du hast danach gefragt. Wahrscheinlich  hätte ich vor ein paar Monden so etwas gar nicht geäußert. Schattensänger können nicht lieben. Zuneigung, Freundschaften, solche Dinge … das schon. Aber tiefe, wahre Liebe … das darf nicht sein. Es ist zu gefährlich. Es ist verboten.

Aber wie kommst du dann jetzt dazu?

Weil … (er denkt lange nach. Offenbar fehlen ihm die Worte). Jemand hat aufrichtig begonnen, mich zu lieben. Ich will darauf antworten können.  Ich will es erwidern. Ich … nein. Es sind so viele wirre Gefühle in meinem Herzen, unordentlich wie meine Wohnstube und scheu wie die Tiere des Waldes. Ich will das alles aufrichtig verstehen.

Das ist also dein innigster Wunsch?

Ja. Ich will, dass wir füreinander sind. Ich weiß, dass wir nach allem, was geschehen ist und geschehen wird, keine Zukunft haben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie verlieren werde, sehr hoch ist. Aber trotzdem ist es dieser Wunsch, der mich im Augenblick antreibt, meine Mission zu erfüllen.

Woran glaubst du aus tiefster Überzeugung?

Bist du bereit für noch eine Antwort, die du wahrscheinlich nicht verstehst?

Ich glaube, ich habe verstanden, dass du gern in Rätseln sprichst.

Ich glaube, dass Noktáma im Weltenspiel mogelt.

Ist Noktáma nicht die Gottheit, der die Schattensänger huldigen?

Gottheit? Huldigen? Ich glaube, unsere Begriffe für manche Dinge passen nicht zusammen. Noktáma ist eine der drei Mächte, die der Dunkelheit. Sie hat die Schattensänger im Weltenspiel zu ihren exklusiven Spielfiguren gemacht. Genauso wie Pataghíu die Regenbogenritter und das Licht die Rotgewandeten, zumindest damals, bevor … ich schweife wieder ab. Die Mächte spielen. Nur dadurch ist Wandel, Wachsen, Werden und Weichen in der Welt. Aber irgendwie ist das Weltenspiel in Unordnung geraten. Und nun hat Nóktama begonnen, zu schummeln.

Aber vielleicht ist das Weltenspiel gestört, weil sie mogelt?

Nein, im Gegenteil. Ich glaube, dass sie die Regeln ein klein wenig verbiegt, damit das Spiel wieder ins Lot kommt. Das Weltenspiel darf niemals enden. Keine der Mächte darf gewinnen. Sie dürfen das Spiel aber auch nicht aufgeben und beenden, weil es unspielbar wird, weil jemand es … stört. Ich glaube zu wissen, an welcher Stelle … jemand … am Spielbrett rüttelt. Ich bin unterwegs, um zu verhindern, dass etwas umstürzt.

Wovor hast du am meisten Angst?

Wenn ich versage, etwas falsch mache und leichtsinnige Entscheidungen treffe, bin ich möglicherweise selbst derjenige, der das Weltenspielbrett verheert. Ich bin auf der Suche nach etwas, das mich möglicherweise unfassbar mächtig werden lässt. Ich habe Angst, dass ich nicht stark genug bin, um dieser Macht zu widerstehen.

Was schenkt dir innere Ruhe?

Zu Einen die Nacht. Ich liebe es, einfach nur dazusitzen und den Mond und die Sterne anzuschauen. Ich mag die Dunkelheit und die Stille. Zum Anderen die Pflanzen. Zu meinen besonderen magischen Talenten zählt, dass ich Pflanzen beschwören und Verbindung zu ihnen aufnehmen kann. Das klingt vielleicht nicht besonders aufregend, aber es ist ungemein beruhigend, sich mit einem uralten Baum auszutauschen.

 

Worüber freust du dich?

Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, daran zu denken, solange die Gefahr nicht ausgestanden ist. Freude ist im Moment so weit weg von mir. Ich muss weiter. Bist du bald fertig mit deinen Fragen?

Wofür bist du dankbar?

(Er lacht auf) Die ujora – die unkundige fánjula [~ junge Frau] aus dem fremden Weltenspiel hat schließlich begriffen, dass ich keine Traumgestalt bin und Magie existiert. Es war so anstrengend, solange sie alles, was sie gesehen hat oder ich ihr erklären wollte, irgendwie mit wirren Traumgesichten wegerklären wollte. Wir haben so viel Zeit dadurch verloren, und ich glaube, ich habe sie derweil zuweilen unnötig erschreckt und misstrauisch gemacht.

Was findest du unheimlich?

Es gibt nicht viel, was einen Magier verängstigen kann. Selbst die Chaosgeister lassen sich rational erklären. Beunruhigend ist jedoch, wenn etwas so beschaffen ist, dass ich es nicht verstehe. Nicht in dem Sinne, dass mir Wissen oder Fertigkeiten fehlen würden, sondern dass ich Unstimmigkeiten, Brüche und Zerrbilder in der Wirklichkeit wahrnehmen kann. Nehmen wir die Domäne des Rotgewandeten, Pianmurít. Wie bei allen Mächten hat er es vollbracht,  mit Magie Nichts zu erschaffen?

Ich verstehe nicht …

Eben. Ich auch nicht. Und das ist … gruselig. Selbst für einen Magier wie mich.

Was findest du erotisch?

Wie bitte?

Na ja … gibt es etwas bestimmtes, das du … als Mann … bei einer Frau erregend finden würdest?

Ich verstehe immer noch nicht.

Sollte für dich eine Frau eine bestimmte Figur haben, zum Beispiel viel Oberweite, oder …

Spielt das für Unkundige etwa eine Rolle?

Was?

Schattensänger haben keine körperlichen Bedürfnisse. Wir empfinden weder Hunger noch Durst noch den Drang, irgendwelche fleischlichen Triebe auszuleben. Es ist nicht wichtig, wie jemand aussieht. Es kommt darauf an, wie jemand sich anfühlt. Und damit meine ich nicht den Körper.

Du weißt aber, dass Menschen Schattensänger ihrerseits unwiderstehlich finden, und …

Was glaubst du, warum ich hier im Schatten stehe und mich verberge? Natürlich weiß ich das. Und glaube mir,  meinesgleichen ist nicht besonders glücklich darüber. Es macht den Umgang mit Unkundigen unnötig kompliziert.

Aber wie kannst du unter solchen Umständen mit der Frau aus der anderen Welt zusammen sein?

 Ich weiß nicht. Aber ich bin überzeugt davon, dass Noktáma es so gefügt hat.

(Das Gespräch führt hier ins Leere. Also wechseln wir das Thema) Kannst du gut stillsitzen oder brauchst du immer etwas zu tun?

(Er lacht sarkastisch) Du redest mit jemandem, der fünfzig Winter versteinert herumgesessen hat. Ich denke, mit Stillsitzen habe  ich jede Menge Erfahrung.

Wann warst du das letzte Mal so richtig wütend – und warum?

Vor etwa sechs Tagen. Mein Widersacher hat eines meiner Werkzeuge benutzt, um der ujora Schmerzen zuzufügen. Mir ist klar, dass er mich damit provozieren wollte. Aber ich habe die Situation … regeln können.

Wann hast du das letzte Mal geweint – und warum?

Schattensänger können nicht weinen, zumindest nicht aus Trauer oder Wut. Manche Unkundige halten uns für gefühlskalt deswegen, aber das stimmt nicht. Wenn wir traurig sind, dann sind die Emotionen ganz tief in uns verborgen. Man sieht es uns nicht an. Ich weiß beispielsweise nicht, ob die ujora bemerkt hat, wie unglücklich ich war, solange ich annehmen musste, dass Arámaú tot ist.

Worüber hast du dich das letzte Mal so richtig gefreut?

Hattest du das nicht vorhin schon einmal gefragt? Der letzte glückliche Moment war der, an dem ich mit der ujora an der Hand einfach nur durch den Schatten gerannt bin. Das war ein Augenblick, an dem ich ein Füreinander nicht für unmöglich gehalten habe. Leider war dieser Augenblick sehr schnell vorbei.

Wann musstest du das letzte Mal richtig lachen – und warum?

Das war in derselben Situation. Es war ein Zusammentreffen von Freude, Erleichterung und kindlichem Übermut. Sie hat schließlich auch gelacht. (er denkt nach) Offenbar habe ich eine Begabung dafür, Mädchen zum Lachen zu bringen, wenn sie sich vor etwas fürchten. Mit Arámaú war es ähnlich. Bei den Mächten, wir haben so viel Unsinn gemacht, einfach nur aus Spaß. Solange sie lachen, haben sie keine Angst.

Erzähle etwas über die Person, der du am meisten vertraust!

Vertrauen … es ist sonderbar, dass ich gerade daran denken muss, wie oft ich die ujora beschworen habe, mir zu vertrauen. Dass sie es schließlich getan hat, kann ich ihr gar nicht genug danken, denn die Umstände waren so, dass sie annehmen musste, ich sei derjenige mit finsteren Absichten. Nun ist sie diejenige geworden, der ich mein Vertrauen schenke. Ich musste sie in der Gewalt meines Widersachers zurücklassen und werde alles dafür tun, dass sie in ihre Welt zurückkehren kann, bevor … nun ja. Es ist alles andere als sicher, dass ich die letzte Konfrontation mit ihm überlebe. Ich will sie in Sicherheit wissen, auch wenn ich sie dabei verlieren werde. Aber was kann ich dir über sie erzählen? Es hat sehr viel mit Gefühlen zu tun und ist für deinen Verstand daher wahrscheinlich sehr diffus. Sie ist durch meine Schuld – oder Noktámas Plan – versehentlich in diese Welt geraten. Als ich sie kennenlernte war in ihr ein einziges Chaos von Verwirrung, Enttäuschung und Einsamkeit. Ich habe vorhin gesagt, es war anstrengend, mit ihr umzugehen, solange sie sich eingeredet hat, ich sei nur eine Wahnfigur in einem ihrer Fieberträume. Und zugleich hatte ich den Wunsch, sie zu beschützen, ihr die Angst und ihre traurig unterdrückte Wut auf all diejenigen zu nehmen, die ihr in ihrer Welt übel mitgespielt haben. – Nun, bei alldem und aller Verwirrung und Zerrissenheit, die sie ertragen musste und noch erträgt, hat sie aus Gründen, die ich nicht verstehe, immer zu mir gehalten. Sie hat mich unter Gefahr für ihr eigenes Leben verteidigt, um mich gehandelt und sich auf meine Seite geschlagen. Ich weiß nicht, womit ich all das verdiene. Sie ist …warm. Geduldig. Empfindsam. Ich weiß, dass sie mich niemals verraten wird, auch wenn man sie noch so sehr verwirrt und gegen mich aufbringen will.  So wie ich alles daran setzen werde, ihr die Traurigkeit zu nehmen, die ihr die Seele demoliert hat. Und wenn es das wäre, das ich mit meinem letzten Atemzug noch vollbringen kann. Wir hatten noch nicht die Gelegenheit, unsere Geschichten miteinander zu tauschen. Aber unsere Seelen haben einander umarmt. Ich würde mein Leben geben, dafür, dass sie Heilung und Trost findet.

Von wem oder aus welchem Ereignis hast du etwas Wichtiges gelernt – und was war das?

Es ist weniger ein einzelnes Ereignis … aber so sehr ich mich dagegen sträube, ich muss zugeben, dass ich von Gor Lucegath ziemlich viel gelernt habe. Vor allem, dass Macht und Selbstsicherheit  eine ungesunde Kombination sind, wenn die Lebensweisheit fehlt, das eine zu nutzen und das andere angemessen einzuschätzen. Ich habe im Boscargén von en Schattensängern gelernt, ein machtvoller und kunstfertiger Magier zu sein, in einem Refugium, in einer isolierten Umgebung. Indem ich mich gegen Gor Lucegath behaupten muss habe ich gelernt, wozu meine Magie bestimmt ist, was ich damit bewirken kann. Ich habe große Angst davor. Aber ich werde ihm beweisen, was ich daraus gewonnen habe..

Wenn du zwei Dinge in deinem Leben revidieren könntest, welche wären das – und warum?

Ich hätte an dem Tag, an dem Gor Lucegath den Boscargén betrat, selbst zu Meister Gíonar laufen und ihn warnen sollen. Ich habe doch gewusst, wie verunsichert Arámaú war. Wenn die anderen Meister früh genug Bescheid gewusst hätten, möglicherweise wäre die Geschichte ganz anders ausgegangen. Und zum zweiten …nun, ich bin mir nicht ganz sicher, ob es richtig war, meine Magie in meine Geige hineinzulegen. Obwohl … vielleicht wird das noch einmal von Nutzen sein. Ich denke, ich würde es wieder tun.

Woran denkst du, wenn du zu den Sternen emporsiehst?

Noktáma ist bei uns. Noktáma schmückt die Dunkelheit mit ihrem Glanz, damit wir uns daran erfreuen und innewerden, wie klein und vergänglich wir gegen die Herrlichkeit des Schattens sind.

Welcher ist der idyllischste Ort, den du kennst?

Mein Lieblingsort war der See im Boscargén, den ich vorhin bereits erwähnte. Dort ist es perfekt, vor allem nachts: ein riesiger Spiegel, die Stille und die Einheit von Wasser und Wald. Mögen die Mächte geben, dass all das nicht endgültig fort ist.

Wie sieht dein Alltag aus?

Im Augenblick habe ich nur eine Sache zu erledigen. Ich muss schnellstmöglich ans Meer und dort nach einem Schiff suchen, das mich so nah wie möglich ans Chaos bringt. Hatte ich erwähnt, wie eilig ich es habe?

Wir sind gleich fertig. Konsumierst du Rauschmittel – und wenn ja, warum und in welchem Maß?

Nein, überhaupt nicht. Berauschende Getränke sind etwas für Unkundige. Aber ich bin sogar sehr vorsichtig, wenn ich aus irgendeinem Grund eine berauschende Pflanze beschwören muss.

Liebst du dich selbst?

Nein. Dazu habe ich wirklich keinen Anlass.

Bist du glücklich?

Ich werde glücklich sein, sobald ich meine Aufgabe erfüllt habe und das Weltenspiel wider im Lot ist. Vorausgesetzt, ich lebe dann noch lange genug, im zur Ruhe zu kommen und darüber nachzudenken, was eigentlich passiert ist. Und nun entschuldige mich bitte. Ich habe es wirklich eilig, weiterzukommen.

Mit diesen Worten verwandelt er sich in ein Pferd, schnaubt uns noch einmal zu und galoppiert mit wehender Mähne nordwärts von dannen.  Ein bisschen Show muss bei Schattensängern wohl doch dabei sein.