
Die Meisterin horchte in die Stille des Etaímalon. Natürlich hörte sie die Gedanken ihres Schülers. Der junge Mann versiegelte seine Gedanken sehr selten. Es schien fast, als sei er darauf bedacht, belauscht zu werden. Er war so selbstbewusst, so stark – und so unbeherrscht. Das war äußerst untypisch für einen Schattensänger. Noktáma bevorzugte es, wenn ihre Diener sich würdevoll und bedacht verhielten. Hartköpfigkeit oder schlecht gezügelte Emotionen standen Schattensängern nicht gut an. Aber ihr Schüler war noch jung. Sein Temperament würde sich wohl noch abkühlen. Zumindest hoffte sie das.
Sie hatte gewusst, was sie auf sich nahm, als sie sich seiner annahm, mit dem Vorsatz, sein Temperament zu zügeln und seine herausragenden Fähigkeiten, seine Intelligenz und sein Geschick in Bahnen zu lenken, die Noktáma gefällig waren. Sie hatte es gespürt, als sie ihn bei den Unkundigen gefunden hatte, ein lebhafter Knabe, voller Selbstbewusstsein und Willensstärke. Ein Kind, das das Potential besaß, einmal ein kluger Meister zu sein, der die camat’ay leiten und gegen die Rotgewandeten stärken konnte.
Sie entsann sich, wie die Unkundigen ihr das Kind vorgestellt hatten, an die Faszination und die große Freude, die sie empfunden hatte, als sie seinen Geist beschaut hatte. Darin war etwas gewesen, so dunkel und rein, dass es Noktámas eigenes Werk zu sein schien, und zugleich war da Unruhe, Ungeduld, etwas, das in ihm wuchs und stärker werden würde. Sie war beeindruckt gewesen, als ihr klar wurde, wie gefährlich das kleine Kerlchen für seinesgleichen war. Die Unkundigen würden es erst bemerken, wenn es zu spät war, wenn es aus diesem hübschen kleinen Knaben hervorbrechen und ungezügelt und richtungslos auch die kleinste Emotion zu einer gewaltigen, einer tödlichen Waffe wandeln würde.
Noktáma hatte sie zu ihm geführt. Sie konnte den Unkundigen dieses Kind nicht lassen. Mehr noch: Sie wollte es keinem der anderen Meister überlassen. Dieser junge Schattensänger hier brauchte Führung, brauchte jemanden, der ihn lenkte und zur Ordnung rief, wenn sein Wille zu stark wurde und seine Emotionen ihn überwältigten. Dieses Kind brauchte jemanden, der stärker war. Und das war nun einmal sie selbst, die Mächtigste all jener, die im Schutz des Boscargén lebten.
Aber nun schien es, als würde sie ihn verlieren. Er war bereits stärker als sie, doch das schien ihm nicht bewusst zu sein, den Mächten sei Dank. Noch ergab er sich ihrer Weisung und ihrem Rat, aber es begann, ihm zu widerstreben. War es zunächst noch ein vages Gefühl von Ärger und dem Unwillen, bevormundet zu werden gewesen, schien er nun zu glauben, man nähme ihn nicht für voll, traue ihm nicht zu, sich den Gefahren zu stellen, die das Weltenspiel für ihn bereithielt.
Ob er sich gar nicht die Mühe machte, ihre Sorgen und Gefühle zu verstehen? Oder war sein Unmut bereits so groß, dass er die zärtlichen, mütterlichen Gedanken, die sie ihm schickte, nicht mehr wahrnahm und begriff?
Die Meisterin schloss die Augen und seufzte. Sie würde ihn nicht mehr lange halten können. Mochte Noktáma geben, dass er all das, was sie ihm entgegengebracht und gesagt hatte, in seinem Herzen bedenken würde, sobald er feststellte, wie stark er wirklich war.
*
Zwei Nächte waren seit dem Besuch der Regenbogenritter vergangen, und er entschied sich im Morgengrauen zu einem Ausflug.
Er wusste, es würde nicht unbemerkt bleiben. Aber handelte er ungehorsam? Hatte sie ihm etwa verboten, es zu tun? Immerhin war er nicht mit der vorwitzigen camat’ayra gemeinsam fortgegangen. Aber es hatte ihm niemand untersagt, ihr zu folgen.
Wohin? Er wusste es nicht genau. Die Regenbogenritter hatten nur vage angedeutet, in welcher Richtung sie der Rotgewandeten ansichtig geworden waren. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, danach zu fragen, diese herablassenden Kerle auf ihren bunten Flügelgäulen.
Flügel? Aus der Luft nachschauen konnte er auch selber. Also schlüpfte er in die Form eines Raben, schwang sich hinauf in die Luft und flatterte empor zum Himmelsgrau. Von oben würde er die Schar der Rotgewandeten sicherlich schnell ausfindig machen, einfach eine Runde um den Wald herum wollte er fliegen und sich umschauen. Das würde seine Zeit dauern, aber es verschaffte dem brennenden Verlangen, der unsagbaren Unruhe in seinem Herzen Linderung.
Bevor die weiße Hütte, die Fassade des Etaímalon völlig außer Sicht geriet, sah er die Großmeisterin ins Freie treten und ihm hinterherblicken. Als wisse sie, wonach sie suchen musste, verschwendete ihre Blicke nicht lange an das grüne Unterholz des Olivenwaldes, sondern lenkte sie sogleich hinauf in die Luft.
Einen kurzen Moment zögerte er. Sollte er umkehren? Würde sie ihm folgen, wenn er es nicht tat? Würde sie versuchen, ihn zu halten … oder gar, ihn zur Umkehr zu bewegen?
Nichts von alledem. Sie schaute ihm nur nach, und ganz zart spürte er so etwas wie Enttäuschung in ihren Gedanken, leise, müde, zu wenig, um sich darum Sorgen oder ein schlechtes Gewissen zu machen.
Ich kann nicht anders, dachte er brüsk.
Sie würde es verstehen. Aber dieses Verständnis machte ihr vielleicht mehr Angst als die Nähe der goala’ay und die Sorge um die Schülerin, die, wie zu erwarten gewesen, von ihrer Mission nicht zurückgekehrt war.
Der Rabe flog und suchte mit einer kühlen, emotionslosen Ruhe, während unter ihm die Wipfel des Boscargén grau im grauen Regenwetter lagen. Es nieselte. Sein Gefieder war bald durchnässt, aber es war nicht so arg, dass es ihn am Flug gehindert hätte. Manchmal begegneten ihm andere Vögel und hielten instinktiv Abstand zu ihm. Auch ein geflügelter Räuber würde nicht wagen, ihm zu nahe zu kommen. In der Luft war er sicher, und in seiner Verkleidung würden selbst die Rotgewandeten ihn nicht erkennen. Und wenn sie es dennoch taten, sie würden ihm nichts anhaben können, solange er ihnen nicht zu nahe kam.
Der Boscargén erstreckte sich unter ihm wie ein graugrüner, riesiger Teppich. Die Ölbäume trieften unter der Last der ohne Unterlass herabrieselnden, feinen Regentropfen. Wahrscheinlich war der Boden darunter bereits schlammig und unbegehbar.
Er fröstelte. Die Bäume im spätherbstlichen Regen waren ein trauriger, ein deprimierender Anblick. Um wie viel freundlicher wirkte der Boscargén, wenn die Sonne schien und der Wind mit den schimmernden Blättern und den funkelnden Wellen des Sees spielte. Doch die warmen Tage waren vergangen. Und er hatte sich in den Kopf gesetzt, die Rotgewandeten, die Ausgestoßenen zu finden und zu sehen, wie und ob man ihnen beikommen konnte. Ob er ihnen beikommen konnte, wenn die anderen es schon nicht taten.
*
„Er ist nahe daran, uns zu entgleiten”, sagte die Meisterin traurig. „Ich habe mir die größte Mühe gegeben. Aber ich habe wohl versagt.”
Askýn, der Meister, den sie in den Etaímalon gebeten hatte, war ein junger Mann, der noch keinen eigenen Schüler angenommen hatte. Sie schätzte seine Meinung, hatte sich in ihm doch jugendlicher Elan mit Weisheit vereint, für die er eigentlich noch zu jung war. Sie brauchte seine Umsicht und Unvoreingenommenheit.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, Meisterin. Es ist nicht Euer Fehler. Er ist ein sonderbarer Mensch. So viel Talent und so viel Bitterkeit.”
„Er hält uns für zu passiv und verzagt. Er will etwas verändern. Ich fühle, dass ich seinem Tatendrang im Wege bin.”
„Es ist zu seiner eigenen Sicherheit, ytrara. Ihr macht alles richtig.”
„Er ist so unfassbar mächtig”, fuhr fort. „Aber ich mache mir Sorgen, dass ich ihn nicht stark genug gemacht habe. Er ist einfach weggegangen.”
„Werdet Ihr ihn dafür bestrafen?”
„Nein. Ich denke nicht. Er wird nach dem unglücklichen Mädchen suchen, möge es ohne Leid hinter die Träume gefunden haben.”
„Ihr meint, sie ist tot?”
„Ich bin recht sicher. Sie wäre längst zurückgekehrt.”
„Dann bringt er sich in Lebensgefahr!”
„Das wird er anders sehen.”
„Das Mädchen hat gewusst, worauf sie sich einlässt und dass niemand ihr beistehen darf.”
Sie schwieg nachdenklich.
„Ich spüre so widersprüchliche Gedanken, wenn er in meiner Nähe ist”, sagte sie. Das Schicksal der unglücklichen Schülerin war nun nicht das Thema. „Er könnte der Großmeister werden, der das Widerwesen bezwingt. Er könnte die Magie einen. Und zugleich fürchte ich, dass er der Größte, der Überlegene und Unüberwindbare sein wird. Der, der sich über uns erhebt.”
Der jüngere Meister schwieg.
„Alles in allem ist er Ovidáol Etaímalar sehr ähnlich”, murmelte die Meisterin. „Auch von Ovidáol hieß es einmal, er habe die Fähigkeiten, das Widerwesen bändigen.”
Askýn Lagoscyre schrak auf. „Gebt Acht auf Eure Worte! Nennt Euren jungen Schüler nicht in einem Atem mit dem Verfluchten!”
„Aber ich kann nicht wegschauen, Meister Askýn. Ovidáol ist ein starker Schattensänger gewesen, so wie mein Schüler es ist.”
„Und wir sehen, was daraus geworden ist! Das Weltenspiel ist in Aufruhr und Ovidáol ist der, der das Verderben entfesselt hat. Der Verfluchte ist die Warnung, um die Macht des jungen Schülers zu zügeln. Wir alle, auch Euer Schützling, wir wissen, was Ovidáol tut. Und warum er es tut.”
„Mein Schüler fragt sich immerzu, was wir tun. Was wir beabsichtigen.” Sie lehnte sich zurück und schloss ihre silbrig schimmernden Augen. „Warum wir erstarrt sind und nichts tun. Er macht sich Gedanken über das Warum.”
Meister Askýn verschränkte die Arme. „Aber was sollen wir denn tun?”, fragte er sanft. „Was sollten wir denn unternehmen gegen Ovidáol und seine Horden, gegen die Rotgewandeten und den großen Krieg? Die Unkundigen kämpfen, jeder gegen jeden, und für unseresgleichen ist kein Platz, es sei denn, wir wollen hineingezogen werden und sind gezwungen, Partei zu ergreifen. Das ist nicht unsere Bestimmung, Meisterin. Ist es nicht der Wille der Mächte, das ay’cha’ree zu hüten, ehe eine der Parteien es ergreift, und alles zerstört?”
„Es ist gut, was wir tun, und es ist den Mächten und der Dunkelheit gefällig”, bestätigte die Meisterin. „Aber ich frage mich ….”
Meister Askýn hob die Brauen.
„Ist es das, wozu die Mächte uns die Macht gegeben haben?”
„Ja!”, bekräftigte Askýn Lagoscyre. „Wir müssen tun, was unsere Aufgabe ist. Um Ovidáol Etaímalar zu stoppen, bedarf es keines Schattensängers. Dazu bräuchte es ein ebenso skrupelloses Ungeheuer, wie er selbst es ist.”
*
Er fand die Schülerin am späten Nachmittag und verbarg sich in den Bäumen über dem Lager der Rotgewandeten. Hier, am Rande des Boscargén, waren die letzten Ausläufer des Olivenhaines bereits mit Buchen und Birken durchfasert und der Schutzbann, der die Rotgewandeten am Betreten des Waldes hinderte, wurde durchlässig. Sie konnten sie sich niederlassen, die Rotgewandeten, aber weiter hinein vorzudringen wäre unmöglich. Die Meisterin würde es nicht zulassen.
Sie waren zu siebt, drei Männer und vier Frauen. Die Regenbogenritter hatten ihm verschwiegen, dass goala’ayraé bei der Bande waren, mehr noch, den Großteil der Gruppe ausmachten. Bei den Mächten, weibliche Rotgewandete, darunter eine uralte Frau und ein Mädchen von höchstens einem Dutzend Sommern … gab es denn wirklich einen Grund, sich vor ihnen zu fürchten?
Er spähte zwischen den Blättern herab und nahm die Rotgewandeten in Augenschein. Nie hatte er einen aus der Nähe gesehen. Das hier war die perfekte Gelegenheit, sie zu betrachten und zu studieren.
Sie alle trugen rote Gewänder, die der Männer ähnelte dem, wie es auch Schattensänger trugen. Die Robe einer der Frauen bestand aus einem groben Kleid, das mit rotem Leder versetzt war, Leder, auf dem er alte Spuren von Blut zu bemerken glaubte. Vielleicht eine fýntara, eine, die gegen Bezahlung Urteile vollstreckte? Die Vierte trug ein vornehmes Gewand aus Seide und schien damit äußerst unglücklich, denn es schützte sie nicht gut vor Nässe und Kälte. Sie schlotterte. Alle sieben trugen rote Mäntel, und alle hatten ein Schwert an ihre Seite gegürtet, auch die Frauen. Und sie alle hatten rotes Haar, kupfer- oder fuchsfarben, die Frauen nachlässig geflochten und gesteckt. Nur das Haar der Greisin war schneeweiß.
Er war überrascht. Er hatte erwartet, abstoßende, abscheuliche Fratzen zu sehen zu bekommen. Aber dem war nicht so. Müde wirkten sie, grau im Gesicht, krank. Die Männer waren unrasiert, zerzaust. Obwohl keiner von ihnen mager vor Hunger war, sahen sie ausgezehrt aus, als nähme etwas beständig von ihrer Kraft fort. Keiner von ihnen hatte eine starke, unversehrte maghiscal. Hatten sie kürzlich gekämpft und waren nun alle verletzt?
Der Schattensänger nahm all das wahr und wunderte sich. Diese traurige, magisch ausgemergelte Truppe hatte doch wohl nicht ernsthaft vorgehabt, die camat’ay im Etaímalon herauszufordern?
Was sie mit der Schülerin angestellt hatten, ließ sich nicht sagen, denn das Mädchen war bereits tot. Reglos lag sie zwischen den Rotgewandeten im Schlamm und starrte mit gebrochenen, bleigrauen Augen direkt zum Raben in den Bäumen auf. Dort, wo ihr Herz war, durchtränkte silbernes Blut ihr schwarzes Kleid,
Der Schattensänger war empört über die Frechheit, die die Rotgewandeten mit diesem Mord begangen hatten, hier, so nahe an Noktámas Heiligtum. Sie legten es darauf an, die Schattensänger zu beleidigen.
Eine der Frauen spielte gedankenverloren mit etwas Klimpernden in ihrer Hand. Er brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, dass es sich um Goldmünzen handelte, denn das unangenehme, brennende Gefühl drang bis zu ihm empor in den Wipfel des Baumes. Wahrscheinlich hatten sie das benutzt, um die Schülerin zu martern.
„Es hatte keinen Sinn”, sagte die Rotgewandete. Ihre Stimme war matt, brüchig.
„Ob sie es nicht wissen oder es nicht wissen wollen?”, fragte die mit dem Lederkleid resigniert zurück und steckte ihr Schwert wieder ein.
„Selbst, wenn sie es wüssten, sie würden uns nicht antworten”, entgegnete einer der Männer hart. „Wir verschwenden unsere Zeit. Sie hoffen wohl, der Verfluchte würde es mit uns richten.”
„Aber warum ignoriert das Licht uns? Warum nimmt es unsere Gabe nicht an? Sind nicht einmal Schwarzmäntel gut genug?”, fragte das junge Mädchen.
„Weil das Licht keinen Wert auf die Geschenke von unseresgleichen legt”, gab der andere Mann zurück, und in seiner Stimme vibrierte verbitterter Zorn. „Weil es uns im Stich gelassen hat! Verflucht sei der, der das ay’cha’ree schuf!”
Der Schattensäger horchte. Was war das? Sie zürnten sich untereinander? Was hatten sie denn erwartet, was passieren würde, wenn sie direkt neben Noktámas Heiligtum eine ihrer Dienerinnen ermordeten?
„Wie kann es das?”, beharrte das goala’ay-Mädchen „Wie kann es sich von seinen Dienern abwenden angesichts der Gefahr? Wie kann es im Stich lassen, was ihm dient und zu ihm fleht?”
„Es ist grausam”, stellte die erste Frau fest und ließ die klingenden Goldmünzen achtlos in ihrer Börse verschwinden. „Mehr nicht.”
„Was sagt ihr da!”, wies die Greisin die Jüngeren zurecht. „Es ist unfehlbar und mächtig. Aber es ist nicht mit uns zufrieden. Erst, wenn wir das ay’cha’ree in Händen halten, werden wir seine Gunst wieder erlangen, das steht fest. Das ay’cha’ree steht uns zu. Nicht dem Diebsgesindel. Wir müssen es zurückerlangen.”
„Glücklich bist du, die noch hoffen kann”, murmelte der dritte und jüngste der Männer.
„Warum”, fragte plötzlich das Kind, „ist niemand gekommen, um ihr hier zu helfen? Haben sie nicht gehört, wie sie geschrien und nach ihnen gefleht hat?”
„Sie wissen, dass sie verloren war, Kleines”, erklärte die fýntara mit dem blutigen Kleid sanft. „Aber sie stehen einander niemals bei. Das schwören sie einander und bezeugen es vor Noktáma. So verhindern sie, dass einer von ihnen als Köder für die anderen dienen kann und ihnen ein schlechtes Gewissen macht.”
„So muss niemand von ihnen den Helden spielen und unsereresgleichen ins Schwert rennen”, bestätigte einer der Männer und lachte freudlos.
Woher wussten sie das? Der Schattensänger reckte den Hals. Und wie oft hatten die Lichtwächter es ausprobiert, bevor dieses Geheimnis gelüftet hatten?
„Das ist … sehr schlau”, sagte das Mädchen leise und so, als ob es dabei etwas ganz anderes dachte.
Die in dem feinen Damenkleid erhob sich und legte ihr die Hand auf die Schulter. „lasst es uns ordentlich beenden.”
Auch die anderen standen auf. Sie umringten den Leichnam und senkten ihre Blicke.
„Ad’ree“, murmelten sie respektvoll
Der Rabe regte sich, wohl bedacht darauf, kein verdächtiges Geräusch zu verursachen. Schon wieder, nein, immer noch, fortwährend waren sie auf der Jagd nach dem ay’cha’ree, dem Artefakt, das die camat’ay vor vielen, vielen Wintern von ihnen erbeutet hatten, um schlimmes Unheil zu verhindern; das heilige Kleinod des Lichtes, das wohl verwahrt im Etaímalon in der Obhut der Großmeisterin lag. Und diese Gruppe hier war so frech gewesen, sich ihm bis an die Peripherie des Boscargén zu nähern. Noch nicht viele Lichtwächter hatten sich so weit in das Refugium, in die unantastbare Sphäre der Schattensänger gewagt. Diese hier hatten es offensichtlich dringend nötig, ihre Mission zu erfüllen.
Er wunderte sich darüber, ihnen überhaupt in einer Gruppe zu begegnen, denn üblich war es nicht, dass die Rotgewandeten gemeinsam reisten. Es musste einen Grund dafür geben, und sei es nur der, dass sie jeder für sich gleichzeitig auf der Suche nach dem Artefakt waren und sich zufällig hier in der Nähe des Boscargén getroffen hatten.
Er reckte sich und versuchte, Einzelheiten zu erspähen oder zu erlauschen, aber sie alle waren, wieder in ihr dumpf brütendes Schweigen verfallen und starrten ins Leere.
Er zog sich leise zurück. Hier gab es nichts mehr zu sehen. Aber er, er hatte Dinge, über die er nachsinnen musste.
Das ay’cha’ree … was wären sie wohl bereit, für das ay’cha’ree zu tun?
*
Die Meisterin sicherte die Tür ihrer Kammer mit einem mächtigen Bann, ohne zu wissen, warum sie das tat. War es notwendig, sich vor ihresgleichen abzusichern? War es denn nicht die Aufgabe von ihnen allen, das Artefakt zu bewachen,
Aber gab es denn Grund, Diebstahl zu fürchten unter ihresgleichen? War es so weit gekommen, dass sie den anderen nicht mehr uneingeschränkt vertrauen konnte?
Ja, musste sie sich eingestehen. So weit war es gekommen.
Die Meisterin näherte sich der Schatulle, die offen mitten auf dem Tisch stand. Sie zögerte, das schwarze Holzkästchen anzutasten. Dann griff sie entschlossen zu.
„Noktáma“, wisperte sie mit zitternder Stimme, „lass deine törichte alte Tochter dafür sorgen, dass es nicht in falsche Hände fällt.”
Sie schloss die Augen und sang, sang leise und stark, wob mit ihrer Stimme ein schützendes Netz und dämpfte das Artefakt damit, soweit sie es vermochte.
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