PIANMURÍT, JETZT

Meister Gíonar seufzte.

„Wollt Ihr nicht endlich ein Ende machen?”

„Habt Ihr es denn eilig, aus dem Weltenspiel zu entschwinden?”

„Es beginnt, mich zu langweilen, Euch dabei zuzuschauen wie Ihr Eure Werkzeuge sortiert”, behauptete der Schattensänger widerspenstig.

„Es besteht keine Dringlichkeit, Meister Gíonar. Wir befinden uns hier an einem Ort, an dem die Zeit eine andere Bedeutung hat als anderswo, in der Gegenwart von Unkundigen. Und, wie gesagt – Ihr seid der letzte. Der letzte Schattensängermeister, dessen ich habhaft werden konnte. Wäre ich nun zu rasch bei der Sache, ich würde mich wohl um einige wichtige Erkenntnisse bringen. Was zum Beispiel den Namenlosen betrifft …”

Meister Gíonar hob überrascht die Brauen. „Was habt Ihr mit dem Namenlosen zu schaffen?”

„Was wisst Ihr von dem Namenlosen? Was ist das Letzte, was die Schattensänger von ihm in Erfahrung bringen konnten?”

„Er ist verschwunden! Das wisst Ihr so gut wie wir. Nach der Schlacht um Aurópéa, bei der Ovidáol Etaímalar besiegt wurde, hat niemand mehr etwas von ihm gehört oder gesehen.”

„Wie lange ist das nun her! Ich erinnere mich. Fast ein ganzes Unkundigenleben ist seither wohl verstrichen.”

„Ihr erinnert Euch?” Nun schien der Schattensänger verwirrt.

„Für wie alt haltet Ihr mich, Meister Gíonar? Ich wette, Ihr glaubt, mehr oder weniger eines Alters mit mir zu sein, nicht wahr?”

„Täusche ich mich darin denn so sehr?”

„Selbstverständlich. Wenn es ein Naturgesetz gibt, das für meinesgleichen wenig bedeutet, dann ist es die Zeit. Und daher, Meister Gíonar, versteht meine Frage nach den letzten Zeichen des Namenlosen dergestalt, als würde ich mich nach einem alten Bekannten erkundigen, den ich aus den Augen verloren habe.”

„Ihr seid ihm also begegnet… dem Namenlosen?”

„Eine Begegnung, die ich niemals vergessen werde.”

Der Schattensänger schwieg verstört. Das Mädchen ächzte leise.

„Unseresgleichen hat ihn ebenfalls aus dem Blick verloren”, sagte Meister Gíonar matt.

„Kein Zeichen, das an ihn erinnerte, in all der Zeit? Auch nicht…”

Der camat’ay schaute misstrauisch auf.

„Auch nicht in den Augen eines… anderen?”

„Worauf wollt Ihr hinaus?”

„Nun… sprachen wir nicht vorhin über einen, der an Talent und Macht seinesgleichen übertraf und zu gewissen Ungehorsamkeiten neigte? All das kommt mir so ermüdend bekannt vor.”

Der Schattenmeister saß in seinen Fesseln wie zu Eis erstarrt. „Ihr habt es also auch gesehen”, flüsterte er.

„Yalomiro ist nicht verflucht!”, rief Arámaú. „Yalomiro hat nichts gemein mit dem Namenlosen!”

„Doch, mein Kind. Seine Macht. Seine Macht und einige weitere verstörende Details in seinem Geist, die wohl nur ein geübtes Meisterauge erkennt. Es mag Euch trösten, Meister Gíonar, zu erfahren dass Euresgleichen wohl spätestens in einigen Sommern ein ernstes Problem mit dem jungen Mann bekommen hätte, wenn ich Eurem Kreis nicht ein vorzeitiges Ende bereiten würde. Und wo wir gerade davon sprechen…”

Er griff nach dem Flakon, besann sich aber im letzten Moment und ergriff stattdessen ein spitziges Goldgerät. Der Schattensänger zuckte zusammen, als er sich ihm damit näherte.

„Ihr habt es geahnt, Meister Gíonar, instinktiv geahnt, dass der junge Mann einen strengeren Meister gebraucht hätte als Meister Askýn, dessen Gutmütigkeit und Arglosigkeit den camat’ay den Untergang bereitet haben. Ist es nicht so, dass Meister Askýn seinen Schüler bestärkt und ermutigt hat, in allem, was er tat, seine Macht gefördert und angeleitet hat, wo ein klar denkender und gewissenhafter Mann wie Ihr besser daran getan hätte, wild wuchernde Kraft und hochmütige Gedanken zu unterbinden und unter klare Regeln zu zwingen?”

Meister Gíonar keuchte. Das Gold war ihm so nahe, dass er es spürte wie ein glühendes Eisen.

„Ja”, wisperte er hektisch. „Der Großmeister hat es nicht erkennen wollen! Oft und oft habe ich davor gewarnt, die Gabe seines Schülers ungezügelt zu halten. Aber Meister Askýn hat meine Bedenken belächelt.”

Gor warf das Gold achtlos zurück auf die Tischplatte. „Und Euer Meisterlohn ist also das da. Ein angstschlotterndes armes Ding, das kaum die einfachsten Zauber beherrscht in ihrer kleinen und demütigen Macht.”

Meister Gíonar schloss die Augen. Arámaú schluchzte tränenlos.

Was ist dieser Yalomiro Lagoscyre? Mir scheint fast, die alten Hunde haben den jungen Wolf in ihrem Rudel wohl erkannt und sich angeblafft darüber, ob es klüger sei, dem Welpen seine wahre Natur zu verschweigen – oder ihn zu einem kuschenden Köter zu erziehen.”

Meister Gíonar warf dem Rotgewandeten einen bitteren Blick zu. „Wie dem auch immer ist – mir scheint es eine glückliche Fügung zu sein, dass es wohl so ausgehen wird, dass der Wolfswelpe eines Tages den Kampf mit dem räudigen Fuchs suchen wird. Einem, der ausgestoßen von seinesgleichen durch das Weltenspiel irrt und nach vergrabenen Knochen sucht.”

Gor erstarrte.

„Hörte ich recht, und Ihr verglichet gerade das ay’cha’ree mit einem Hundeknochen?”

„Und Euch selbst mit einem räudigen Fuchs, ohne Heimat, ohne Halt.”

Gor nickte und wandte sich ruhig ab.

Und fuhr sogleich herum und warf einen Zauber auf den Gefesselten, der wie ein glühender Schmerz durch jede Muskelfaser des Schattensängers fuhr, so als stünde dessen Körper in Flammen.

Arámaú kreischte erschrocken auf und kroch davon, soweit ihre Fesseln es erlaubten.

Meister Gíonar hing benommen in seinen Banden und keuchte nach Linderung.

„Kein Diebsgesindel”, zischte Gor, „beleidigt ungestraft das Licht.”

WIJDLANT, DAMALS

Die teiranda war allein gekommen. Wie auch immer sie es geschafft hatte, all ihre Schutzbefohlenen abzuschütteln, ob Zimmermagd, ob hoher Ritter, die sie ständig umschlichen und eifersüchtig nicht aus den Augen ließen, stets besorgt um Ihren Schutz – in dieser sternlosen Nacht war sie allein.

Gor Lucegath hatte alles vorbereitet. Viel Arbeit war es nicht gewesen. Ein Zauber, der lediglich für Unkundige bestimmt war – mehr nicht. Einen alten, halbblinden Spiegel hatte er in einer Abstellkammer gefunden. Alles Weitere waren nur ein paar kleine magische Basteleien gewesen.

Nun stand sie vor ihm in seiner Kammer und war aufgeregt wie ein junges Mädchen vor dem ersten großen Fest. Mit kaum zu unterdrückender Neugier betrachtete sie den großen, mit einem Tuch verhüllten Gegenstand an der Wand gegenüber dem Fenster.

„Entkleidet Euch”, gebot er ihr.

Sie errötete und ihr Blick wurde starr.

„Was erlaubt Ihr Euch!”, rief sie dann empört aus.

„Herrin, ich habe keinerlei unzüchtige Absichten oder Gedanken. Aber war Euer Wunsch nun nach einer neuen Haut, einer neuen Gestalt, oder nach neuen Gewändern?”

„Es… es ist ungehörig!”

„Niemand wird davon erfahren. Aber wenn es Euch gar zu unangenehm ist, können wir das Ganze auch einfach wieder vergessen.”

Sie zierte sich noch einen Moment. Dann begann sie umständlich, Bändchen und Schleifen ihres Kleides zu lösen. Er beobachtete sie unverwandt aus den Augenwinkeln und schaute hinaus in die bewölkte Nacht. Es regnete schon wieder, ein anhaltender Nieselregen. Der Geruch von nassem Laub und matschiger Erde zog bis hinauf in die Kammer.

„Nur meinem hýardor [Gefährte] dürfte ich mich so zeigen”, kam es vorwurfsvoll von ihr.

„So denkt an den, der einst Euer hýardor sein wird, und wünscht Euch einen besonders gefälligen Anblick für ihn.”

Sie seufzte und schlüpfte aus ihrem Untergewand. Als sie schließlich vollkommen nackt und fröstelnd im Raum stand, erkannte Gor wie mager und kraftlos sie tatsächlich war. Mit zitternden Fingern löste sie nun sogar ihre Haube und ließ ihre langen Haare offen hinab fallen. Die weißblonden Strähnen verdeckten ihre Blöße notdürftig.

Gor seufzte. „Majestät, ich bin kein lüsterner Unkundiger, vor dem Ihr Euch schämen müsstet.”

„Ihr seid ein Mann”, hielt sie hilflos dagegen.

„Ich bin ein Magier. Ich empfinde nichts bei Eurem Anblick.”

Das schien sie auf eine rätselhafte Weise zu kränken. Obwohl sie sich genierte, war da doch ein Anflug verwirrter Enttäuschung in ihren Gedanken, und ein wenig Misstrauen.

„Bedeuten Euch Frauen denn gar nichts?”, erkundigte sie sich, ohne es recht zu wollen.

Gor zögerte.

„Eine gab es”, gestand er dann. Warum sollte er es auch verheimlichen? Welchen Grund hatte er, über Geschehenes zu schweigen? „Eine fánjula [junge Frau] gab es, die ich… begehrte. Doch das ist lange her.”

„Oh.” Ihr Interesse war geweckt, in einer verzerrten, unvernünftigen Weise, die etwas mit den schwelgerischen Liedern der bachorkoray [Spielleute] zu tun haben mochte, die sie in ihrem kleinen unkundigen Leben gehört hatte. Sicher hatte sie auch die schwülstigen Romane um den Smaragdritter und die Rosendame gelesen „Was ist geschehen?”

„Sie ist… hinter den Träumen. Man hat sie mir genommen.”

Nun hatte sie Mitleid. Ein Gefühl, das ihm abscheulich war.

„Wer hat sie getötet?”

Ich, dachte Gor bitter.

„Jemand, der einen Befehl hatte”, sagte er. „Es… es waren schlimme Zeiten.”

Sie war fasziniert. „Und was geschah mit dem Mörder?”

Er wurde grausam bestraft, dachte Gor. Für seine Feigheit.

„Ich mag nicht darüber reden, Herrin. Die Erinnerung bereitet mir Schmerzen.”

„Schmerzen? Einem Rotgewandeten?”

Er lächelte müde. „Wieso, Herrin, glaubt alle Welt, die goala’ay seien unverwundbar?”

Sie blickte zu Boden. Er trat auf sie zu, berührte sie sacht an der Schulter und führte sie näher an den Spiegel heran. Mit der anderen Hand zog er das Tuch fort.

Der Anblick ihres eigenen Körpers verwirrte sie. Doch bevor sie etwas sagen konnte, griff er sich ihre Emotionen, ließ sich in den Fluss ihrer Phantasien und Vorstellungen fallen.

Sie ächzte und wand sich, aber sie konnte sich nicht gegen seine suchenden Gedanken wehren, die ihren Geist erforschten, so als blättere er einen Stapel Pergamente durch. Sie leistete einen verschwindend kurzen Moment zaghaften Widerstand. Dann ließ sie ihren Geist los und der Schmerz hörte auf.

Er tauchte durch läppische, wirre Menschengedanken, die grau waren wie der Herbsthimmel über der Ebene und genauso wattezäh und klamm wie der Nebel, barg aus der Tiefe ihres Geistes das, was sie für ihren Wunsch hielt und warf es hinüber in den Spiegel.

Ihr trauriges Gesicht erhellte sich. Staunend betrachtete sie das, was sich im Spiegel formte. Es schien ihr über die Maßen zu gefallen.

Gor schüttelte den Rest von kleinen Weiberträumen ab und betrachtete sein Werk. Er war zufrieden mit sich. Für unkundige Augen mochte das mehr als genug sein. Sicher, es war Blendwerk. Aber mit welchem Recht erwartete sie tiefe, wahrhaftige Magie von ihm?

„Ist es nach euren Wünschen, Herrin?”, erkundigte er sich.

Die schönste Frau des Weltenspiels wandte sich vom Spiegel ab.

„Ich möchte ein Fest feiern”, verkündete sie. „Ein großes Turnier! Einen Ball! Alle sollen sie kommen. Alle sollen sie mich bewundern!”

Er verneigte sich. „Wenn Euch das glücklich macht, Herrin?”

Ihr seid es”, antwortete sie. „Ihr macht mich glücklich.”

Und sie lachte. Lachte ein flirrendes Gelächter, wie perlendes Wasser, in dem sich Sonnenlicht brach.

PIANMURÍT, JETZT

Meister Gíonar hatte sich noch nicht gänzlich von dem Hieb erholt, den Gor ihm versetzt hatte. Der goala’ay ärgerte sich über seine unbedachte Wut. Der Schattensänger war von seiner langen Gefangenschaft in Pianmurít geschwächt und hatte den Bann nicht mit seiner eigenen Magie abfangen können. Wie leicht hätte Gor den Schwarzgewandeten im Affekt umbringen können und sich damit um ein großes Vergnügen gebracht. Wahrscheinlich hatte der camat’ay in seiner Verzweiflung genau das provozieren wollen.

Wieso nur hatte er sich reizen lassen?

Arámaú sagte gar nichts mehr. Der Rotgewandete fragte sich, was in ihrem Kopf vorgehen mochte, nun, da sie ihren Meister auf diese Weise vor sich sah und seine Rede gehört hatte. Das Mädchen mochte eine mäßig talentierte und überaus verzagte Schülerin sein. Aber sicherlich machte sie sich ihre eigenen Gedanken.

„Arámaú?”, fragte er. „Du heißt doch Arámaú? Arámaú Boscargén?”

Das Mädchen nickte stumm.

„Bis dein Meister wieder ein wenig zu sich kommt, möchte ich mich mit dir unterhalten.”

Sie warf einen panischen Blick auf das goldene Messerchen, das er gerade in der Hand hielt. Er bemerkte es und legte es nachdrücklich fort.

„Keine Angst, junge Schattensängerin. Ich will nur mit dir reden. Nichts weiter.”

„Was… was könnte ich euch Bedeutsames erzählen? Ich weiß viel weniger als die Meister. Ich bin nur eine unbedeutende Schülerin …”

„Du bist unter Unkundigen im Norden geboren worden, nicht wahr? Am Meer vielleicht?”

„Ich weiß es nicht. Wie kommt Ihr darauf?”

„Deine schönen blonden Haare. Du wirktest unter deinesgleichen wie eine schneeweiße Möwe unter Krähen. Am falschen Ort, in falscher Gesellschaft.”

Sie blinzelte verwirrt. Offenbar fragte sie sich, worauf er hinaus wollte.

„Du bist klug, kleine Schattensängerin. Vielleicht nicht so talentiert, wie dein Meister es sich gewünscht hätte, aber dein Verstand ist hell.”

Sie runzelte misstrauisch die Stirn. „Was soll ein Lob aus eurem Mund bezwecken?”

Gor zuckte die Achseln und blickte zu dem immer noch keuchenden und zuckenden Schattensänger hinüber.

Ihn werde ich töten.”

„Was wollt…”

„Hör mir gut zu, camat’ayra. Du weißt, dass ich die Wahrheit spreche, denn es wäre müßig, einen von euresgleichen anlügen zu wollen. Du bist nicht gefährlich für meine Pläne. Vor dir muss ich mich nicht fürchten. Du bist zu schwach.”

Arámaú schaute beschämt zu Boden.

„Es macht für mich keinen Unterschied, ob du lebst oder stirbst. Ich könnte dich also ebenso gut … nicht töten.”

„Ihr wollt Euch über mich lustig machen.”

„Sehe ich aus, als würde ich zu Späßen neigen?”

„Natürlich nicht. Aber… ihr würdet so eine Überlegung nicht anstellen, wenn Ihr nicht irgendeinen Nutzen daraus ziehen würdet. Ich aber kann Euch nicht nutzen. Ich bin nur eine schlechte kleine Schülerin.”

„Würde es dich sehr überraschen zu erfahren, dass auch ich einmal jemands Schüler war?”

Nun wurde ihr grüner Blick misstrauisch. „Warum erzählt Ihr mir das?”

„Weil es dich vielleicht interessiert, dass ich meinen Meister gehasst habe.”

„Das ist Euer Problem”, sagte sie düster, „Ich hasse meinen Meister nicht.”

„Aber wenn du es auch anders nennen magst, ist es denn recht von deinem Meister, sich mit keinem Wort dafür eingesetzt zu haben, dass ich dein Leben verschone, wenn du schon eine so schlechte Schülerin bist? Dass er es als gegeben hinnimmt, erwartet, dass du dein Schicksal akzeptierst, ohne zumindest zu versuchen, es zu ändern?”

Nun war sie verwirrt. „Ich verstehe nicht. Warum sollte mein Meister sich erniedrigen, Euch um Gnade anzuflehen?”

„Nun, du hast es für ihn getan.”

Sie schwieg. Der Rotgewandete betrachtete sie lauernd.

„Das war wohl sehr undiszipliniert“, sagte sie endlich.

„Wieso bist du so schicksalsergeben?”

„Nun, ich habe gesehen, wie Ihr meinen Meister im Kampf besiegt habt. Dient nicht jedes Gnadeflehen zu einem Rotgewandeten zu dessen purer Belustigung?”

„Schon wieder unterstellst du mir einen Humor, den ich ganz und gar nicht habe.”

„Ihr mögt es selbst nicht so empfinden. Aber würde es euch nur um den Sieg gehen, warum habt ihr meinen Meister… warum habt ihr alle anderen nicht gleich ehrenvoll im Kampf getötet? Es muss etwas geben, was meinesgleichen für euch wertvoller macht, wenn ihr Eure Überlegenheit auf diese Weise auskostet, wie ihr es jetzt mit… mit Meister Gíonar tut.”

„Ich glaube, das ist etwas, das man einem Schattensänger einfach nicht erklären kann.” Er erhob sich. „Wahrscheinlich werde ich dich doch töten. So muss Yalomiro Lagoscyre sich um niemanden mehr sorgen, falls er sich eines Tages wider alle Erwartung befreien sollte.”

Täuschte er sich, oder flutete da Enttäuschung von ihr weg? Hatte sie ernsthaft angenommen, er könne sich zu Gnade hinreißen lassen, zu Mitleid, und sei es nur, weil sie so eine bedauernswert einfältige und zaghafte Schülerin war?

Gíonar Boscargén war wieder halbwegs bei Sinnen. Gor wandte sich dem schwarzgewandeten Magier zu. Was in den dunklen Gedanken der camat’ay vorging, würde er wohl nie ganz verstehen.

WIJDLANT, DAMALS

Kíaná von Wijdlant war außer sich vor Wut. Keifend und schimpfend lief sie durch die Burg, fand allem und jedem etwas auszusetzen, fuhr Gesinde und yarlay gleichermaßen an und hatte angeblich sogar aus purer Wut ein paar kostbare Vasen zerschlagen.

Gor wunderte sich nicht über die Launen der zornigen Frau. Diese Entwicklung war abzusehen gewesen. Und da er in der ganzen Burg wohl der Einzige war, der an diesem Vormittag nicht in Ungnade gefallen war, konnte er gelassen abwarten, bis sie zu ihm sprach.

„Ich ertrage es nicht länger”, brach es aus ihr heraus. „Ich fühle mich so…”

„Hintergangen?”, riet Gor.

„Alles gerät aus den Fugen! Nichts ist mehr so, wie es war! Alles, was eine glückliche Wendung zu nehmen scheint, bricht mir unter den Fingern zusammen, und die Leute beginnen, mich seltsam anzuschauen.”

„Aber wolltet Ihr denn nicht, dass alles sich ändert?”

„Ich wollte, dass alles besser wird!”

Der Magier wartete. Die teiranda benötigte eine Weile, bis sie ihre wild durcheinander wirbelnden Gedanken soweit sortiert hatte, dass sie sich verständlich machen konnte.

„Es ist aus”, sagte sie endlich. „Der Bund wurde gelöst. Und an allem ist nur dieser… dieser Schwarzmantel schuld.”

Gor horchte auf. „Ein Schwarzmantel? Ein camat’ay?”

Sie schob ihm einen Bogen kostbares Papier zu, der jetzt freilich von wütenden Damenfingern zerknittert und angefetzt war. Ehemals hatte es sich um ein hochoffizielles Schreiben des teirandanjor vom Forétern gehandelt.

Gor hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich jedes Detail, jeden Besucher, zu merken. Nachdem er der teiranda ihren sehnlichen Wunsch nach einem neuen, verführerischen Körper erfüllt hatte, hatte die junge Frau beschlossen, ein neues Leben begonnen, eines, in dem sie ihre Trauer und Wut über den Tod des Vaters zu verdrängen, indem sie ein Turnier ausgerichtet hatte, zu denen teiranday und yarlay von nah und fern geladen waren.

Natürlich hatte man sich allgemein über die plötzliche Vergnügungssucht der einst so traurigen und unscheinbaren teiranda gewundert, aber das Misstrauen, das die vernünftigeren unter den ujoray an den Tag gelegt hatten, hatte sich gegen den Taumel der Gier nicht durchsetzen können, in welche alle Männer verfallen waren, die sich selbst als potentielle Gefährten für die wunderbare junge Monarchin, oder vielmehr: Anwärter auf ein reiches großes teirandon sahen.

Zuerst war das alles ein großer Spaß für die teiranda gewesen, die sich plötzlich umworben und umschwärmt fand. Selbst der Neid anderer Frauen hatte ihr gut getan, und das perlende Lachen hatte die Burg von Wijdlant erfüllt und ihre Untertanen zu gleichen Teilen mit der Freude über das genesene Gemüt ihrer Herrin erfüllt, aber auch mit Sorge darüber, dass all dies nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Ihre eigenen Getreuen konnten den Zauber zwar nicht sehen und waren entsprechend überrascht über das plötzliche Interesse der auswärtigen Werber. Aber sie ahnten, dass es mit dem Rotgewandeten zusammenhängen musste, vor dem sie alle sich grausten und dem sie alle nichts Gutes wünschten.

Dann hatte es auf dem Turnier die ersten Handgreiflichkeiten zwischen jungen Rittern gegeben, die ersten echten Kämpfe wurden um die Gunst der teiranda ausgetragen, mit scharfen Waffen, und ein hochedler, heißblütiger yarl kam dabei ums Leben. (Gor ahnte, dass der junge Mann in seinem letzten Atem begriffen hatte, dass er einer Magie zum Opfer gefallen war, die nicht den Mächten gefällig war).

Die teiranda war zutiefst betroffen über diese Entwicklung, aber sie konnte der Sache keinen Einhalt gebieten. Plötzlich wurden Turnierkämpfe zu Fehden zwischen Nachbarn, verlagerten sich vom Festplatz in Wijdlant in die Diplomatie zwischen Virhavét und Aurópéa, und am Ende war es der teiranda mehr als unangenehm, dass sich so viele Männer um ihre Hand stritten. Ihr fröhliches Fest war zu einer ehrlosen Prügelei geworden, und eine Reihe freundlicher Bündnisse zwischen yarlay und teiranday gingen darüber zu Bruch. Gor hatte befremdet dabei gestanden und über die Unkundigen gestaunt.

Auf dringendes Anraten Ihres mynstir hatte Kíaná von Wijdlant das vasposár [Brautwerbeturmnier] abgebrochen und die yarlay, die gerade noch eine verführerische Frau und eine Menge Land in Reichweite gesehen hatte, nach Hause geschickt. Sie wollte den Skandal nicht noch mehr zu forcieren, obwohl sie gar nichts dazu tat.

Daraufhin hatten sich die Beziehungen zwischen Wijdlant und den anderen teirandonay merklich abgekühlt. Aber die schwelenden Konflikte ringsum waren geblieben. Junge Männer, die ihrem Stand gemäß ein eigenes Schwert und Befehlsgewalt über Bewaffnete hatten, begannen ernsthaft darüber zu zanken, wem Kíaná von Wijdlant länger zugelächelt hatte.

Schließlich wusste die teiranda sich keinen anderen Ausweg mehr, als einem offiziellen Bund mit einem der teirandanjoray [~Prinzen] zuzustimmen, um den Rangeleien ein Ende zu machen. Sie hatte den Zufall entscheiden lassen und ein Los gezogen. In Iváal, einem denkbar abgelegenen teirandon, war man hocherfreut gewesen über ihre Entscheidung. Anfangs. Bis zur Abfassung des Briefes, den Gor nun in der Hand hielt.

In fein gedrechselten Worten, an denen ein mynstir sicherlich viele Stunden, vielleicht sogar Tage gefeilt hatte, teilte der Vater des in sinnloser Liebe entflammten teirandanjor der teiranda höflich mit, dass ein hochweiser Magier namens Falgrèd Etaímalar, ein Schattensänger, den man um Rat gebeten hatte, den Wahn des jungen Mannes als Auswirkungen eines Zauberbannes erkannt habe: Man wolle den Bund deshalb zum Wohle nicht nur des jungen Mannes, sondern auch des teirandon lösen. Dem teirandanjor ginge es, den Umständen entsprechend, gut. Der Schattensänger habe seine rätselhafte Liebeskrankheit erfolgreich kurieren können.

Gors Miene verfinsterte sich. Einen Schattensänger hatten die teiranday also befragt. War das ein Zufall gewesen? Trieb sich etwa noch mehr von dem Gesindel in diesen entlegenen Gegenden herum, oder hatte man vorsätzlich nach einem Magier gerufen?

Aus den verschachtelten Worten, deren filigran getuschte Buchstaben sich vor Verlegenheit zu ducken schienen, sprach das Dilemma, in dem der ferne Herrscher sich befand, dem eine Verbindung seines Reiches mit Wijdlant in politischer Hinsicht wohl sogar gefallen hätte. Andererseits hatte Gor sich denken können, dass das, was aus der teiranda geworden war, das Misstrauen unbeteiligter ujoray berechtigterweise anheizen konnte.

„Vergesst den Kerl”, riet er der teiranda und ließ das Schreiben in Ascheflöckchen aufgehen. „Er ist es nicht wert, dass Ihr Euch darum grämt.”

„Aber…”

„Vergesst!”, gebot er.

Ihr Blick verschwamm für einen Lidschlag. Dann setzte sie sich müde am Fenster nieder und blickte hinaus. Die Felder rings um die Burg standen in vollem Korn, und der Wind wehte den Gesang von Vögeln herbei. Am Himmel rüttelte ein Greifvogel und stieß urplötzlich hinab.

Gor setzte sich zu ihr. Seit er begonnen hatte, Magie über die teiranda zu legen, durfte er nicht unachtsam werden. Eigene Gedanken im Kopf der jungen Frau waren zunehmend gefährlich.

„Ich glaube”, sagte sie matt, „es ist nicht so, wie ich es mir gewünscht habe. Ich wollte etwas anderes.”

„Was ist verkehrt an Eurer Schönheit?”, fragte er streng.

„Sie beginnt, Menschen Angst zu machen. Sie kostet Blut und Frieden.”

Gor blickte auf. Seine Gedanken kreisten um die Schattensänger. Wurde das Gesindel misstrauisch? Hatte der verliebte teirandanjor die Schwarzmäntel auf seine Spur gebracht? Hatte er, Gor, es übertrieben?

„Es tat weh, als ich allein war”, sagte sie. „Und nun tut es weh, da ich anderen Kummer mache. Ich wünschte, all das hätte ein Ende.”

„Was sind das für Wünsche von einer so schönen und klugen teiranda, Herrin?”

Sie schaute ihn eine Weile schweigend an.

„Bin ich verflucht?”, fragte sie endlich. „Habt Ihr mich verflucht?”

Aha. Da hatte es also ein Schattensänger, einer, der ihr nicht einmal von Angesicht zu Angesicht begegnet war, es vollbracht, sie zu verunsichern. Sie hatte in einen anderen Spiegel geblickt, in den Spiegel der Meinungen.

„Auf den Rat eines Schwarzmantels zu hören”, sagte Gor, „ist töricht und gefährlich. Die Schwarzgewandelten haben nichts anderes im Sinn, als sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen, um das Weltenspiel an seiner Vervollkommnung zu hindern.”

Kíaná von Wijdlant blinzelte verwirrt. „Ist das so?”

„Jener, den sich der teirand von Ivaál ins Haus holte, verleumdet Eure Schönheit und Güte und bringt ihn gegen Euch auf. Die Schwarzgewandeten sind heimtückisch und den Mächten widerlich.”

„Mein Vater hat als junger Mann in den Tagen der Chaoskriege an der Seite von Francomé von Valvivant gekämpft. Ich erinnere mich, er erzählte furchtbare, schaurige Geschichten von den Chaosgeistern und dem Verfluchten, dem Schattensänger Ovidáol…”

Gor lachte höhnisch. „Ovidáol? Ovidáol mit seinen Chaosgeistern war lächerlich gegen…”

Erschrocken unterbrach er sich. Eine Erinnerung zuckte durch seinen Geist, eine, die so furchtbar war, so schmerzhaft und grausam, dass er für einen Augenblick alle geordneten Gedanken verlor.

„Meister?” Die teiranda tastete ihn sacht an. „Meister, ist Euch nicht wohl?”

Der Rotgewandete erhob sich. Dass seine Hand sich um den Griff seines Schwertes krampfte, bemerkte er gar nicht. Er horchte in sich hinein, auf die Stimme, die da in seinen Erinnerungen klang.

Eine ganze Weile betrachtete die teiranda ihn verwirrt und wurde immer ängstlicher, denn der Rotgewandete rührte sich nicht mehr, starrte ins Leere und nur das Zucken seiner Miene unter seiner Maske verriet, dass er nicht gänzlich erstarrt war. Schließlich begann er, zu lächeln, auf eine so beunruhigende Weise, dass es der teiranda unheimlich wurde.

Leise erhob sie sich und huschte aus dem Raum, ohne dass er es bemerkte.

PIANMURÍT, JETZT

„Was mich noch interessieren würde, bevor ich mit Euch ein Ende mache, Meister Gíonar”, sagte Gor und blieb dicht hinter dem an den Sessel gefesselten Magier stehen, „wäre, ob Euresgleichen, wenn schon nicht vom Namenlosen, wohl noch Kunde von meinesgleichen erhalten hat.”

„Von Euresgleichen?”

„Ja. Ihr müsst verstehen… meinesgleichen war seit jenem unglücklichen … Vorfall …nicht besonders gesellig. So wie Euresgleichen sich, einem Rudel scheuer Rehe gleich im Boscargén verschanzt hat, so waren wir doch eher die einsam umherstreifenden Bären auf der Suche nach köstlicher Beute.”

„Ist der Vergleich mit dem stolzen Bären nicht etwas vermessen?”, fragte Meister Gíonar und versuchte, sich nach Gor umzuschauen, aber der wich seinen Blicken geschickt aus und ließ dabei beiläufig das Metall in seiner Hand klingen.

„Das sei dahingestellt. Also?”

Meister Gíonar lächelte finster. „Ich verstehe. Ihr einsamer Bär seid Euch Eurerseits nicht ganz sicher, ob sich hier vor Euch wohl nur der letzte Schattenmeister befindet, oder womöglich zugleich der letzte Lichtverbannte.”

„Nicht!”, rief Arámaú aus. Tatsächlich konnte Gor sich gerade noch bezwingen, den Schattensänger erneut zu schlagen. „Bitte, lasst von ihm ab, Meister Gor. Ich kann Euch vielleicht antworten!”

Der Rotgewandete drehte sich interessiert um. „Ja?”

„Ich… ich bin noch eine junge Schülerin, Meister Gor. Aber in meiner Lebenszeit habe ich niemals einen von Euresgleichen gesehen oder davon sprechen gehört, dass einer gesehen wurde.”

Gor wartete auffordernd.

„Yalomiro Lagoscyre ist etliche Sommer älter als ich. Als Ihr in den Wald kamt… nein, auch er war überrascht, einen von Eurem Kreis aus der Nähe zu sehen. Für unsere Generation war Euresgleichen nur noch eine… eine schlimme Legende.”

„Meister Gíonar? Euresgleichen hat zugelassen, dass die Rotgewandeten zu Schreckmärchen für junge Schattensänger wurden?”

Der Schattensängermeister seufzte schwer.

„Wir hatte gehofft, dass die Mächte Eurem widerlichen, ungefälligen Treiben ein Ende gemacht hätten. Seit vielen Sommern wurde nicht mehr von einem goala’ay gesprochen. Wir dachten, es sei… vorbei.”

„Wie bedauerlich…”

„Wir Meister haben vermutet, und Meister Askýn mag es gewusst haben, dass Euresgleichen noch nicht endgültig aus dem Weltenspiel verschwunden ist. Aber wir hofften, ihr habet euch besonnen und aufgegeben.”

„Aufgegeben? Resigniert wohl, kapituliert vor einer Horde schwarzgewandetem Raubgesindels?”

„Meister Gor, ” sagte Gíonar Boscargén, „wie ihr es auch drehen mögt – die Wahrscheinlichkeit steht gut, dass Ihr in der Tat der letzte seid, der nach dem ay’cha’ree sucht.”

Gor nickte nachdenklich. „Ich hatte … angenommen, dass es zumindest noch einen anderen wie mich gibt. Einen jüngeren. Bedauerlich.”

„Wenn es noch einen gibt, dann hat er wohl die große Suche Eures Kreises aufgegeben.”

„Das lässt sich nicht ändern.”

Meister Gíonar legte den Kopf in den Nacken, um Gor ins Gesicht sehen zu können.

„Und Ihr wisst, wer viele von Euch besiegt hat.”

Er schrie auf, denn Gor griff tief in die mit silbergrauen Strähnen durchzogenen dunklen Haare des Schattensängers und hielt ihn daran fest.

„Das”, zischte er, „ist nicht euer Verdienst.”