
PIANMURÍT, JETZT
Es hatte eine Weile gedauert, bis die Flasche leer gewesen und ihr Inhalt Tropfen für Tropfen über die Zunge und durch die Kehle des Schattensängers gefunden hatte. Gor hatte etwas Mühe gehabt, die Kiefer des in Qualen zuckenden Schwarzgewandeten auseinander zu zwingen, als der begriff, dass in der roten Flasche keine Gnade enthalten war. Zwischen den Tropfen flüssigen, mit Wein vermischten Goldstaubs war es ihm tatsächlich gelungen, einen letzten Zauber von dem Schattensänger-Meister zu erpressen, das Geheimnis, mit dem camat’ay eines mit den Schatten werden konnten. Im letzten Moment seiner Qual löste Gor Lucegath die Fesseln des Schwarzgewandeten, zerrte Gíonar Boscargén auf den Tisch und trieb ihm das Schwert durchs Herz. Der Seelenfunke des gemarterten Magiers glomm auf und entschwand aus Pianmurít, bevor der Rotgewandete danach haschen konnte.
Einen Moment stand Gor still da. Dann säuberte er sein Schwert, steckte es wieder ein und stellte die jetzt leere Flasche zurück auf das Tablett.
Arámaú saß da wie betäubt. Nun war sie die letzte Schattensängerin.
„Wenn es dich tröstet”, sagte der Rotgewandete müde, „das Licht hat ihn angenommen. Konntest du es sehen?”
Das Mädchen schüttelte stumm den Kopf.
„Nun, mir ist es gleich. Für mich ändert es die Sache nicht. Ich werde wohl noch eine Weile warten müssen, bis ich auch Yalomiro Lagoscyre opfern kann.”
Sie sagte immer noch nichts. Ihre Augen musterten den Rotgewandeten voller Bitternis, doch ohne dieses Quäntchen an verbotener Emotion, über die jener Magier geboten hatte, der das ay’cha’ree versteckt hatte und dies jetzt in Gestalt eines schwarzen Steines einsam im verlassenen Etaímalon büßte. Solange, bis es ihm, Gor, in den Sinn kam, ihn zu erlösen – oder er, auf welchem Weg auch immer, den Bann selbst brechen konnte.
Arámaú Boscargén war außerstande, das Ende ihres Meisters zu betrauern. Jetzt, da Meister Gíonar tot war, empfand sie nichts mehr für ihn, kein Mitleid und keine Sorge.
„Wenn du in die Verlegenheit kommst, dass ein goala’ay dich auffordert, selbst deinen Tod zu wählen”, sagte Gor Lucegath mit einem Anflug bitterer Belustigung, „so hast du immer die Wahl, sofort das Schwert zu verlangen.”
„Vielleicht hättet Ihr das Schwert mit auf das Tablett legen sollen”, antwortete sie tonlos.
„Vergoldeter Wein ist ein ehrenvoller Weg für einen Schattensänger, hinter die Träume zu gehen.”
„Vielleicht auf einen Zug geleert”, wisperte sie.
Gor lächelte freudlos. Dann wurde er wieder ernst.
„Und nun? Wie soll es mit dir weitergehen, camat’ayra?”
„Wie meint Ihr das?”
„Ich überlege, ob du mir in irgendeiner Weise noch von Nutzen sein kannst. Aber mir scheint, ich habe alles erfahren, was es von euch zu erfragen galt. Du bist so klein in deiner Magie, dass du mir nicht gefährlich werden kannst, also habe ich keine allzu große Eile, dich zu töten. Und du hast wahrscheinlich kein Interesse daran, meine Schülerin zu werden.”
„Eine Schülerin, die lernt, wie man tötet?”
„Eine Schülerin, die versteht, was das Licht und die Träume sind.”
„Könnt Ihr mich das lehren? Ist es nicht so, dass Ihr selbst nicht recht versteht, was ihr tut und wozu es gut ist?”
„Vielleicht hast du recht. Es wäre vergebliche Mühe.”
Sie schwieg. Er betrachtete sie nachdenklich.
„Dann lass es uns jetzt beenden”, sagte er. „Und es soll mir ein besonderes Vergnügen bereiten, dir auf eine Weise den Weg hinters Licht zu weisen, die ich den anderen verwehrt habe.”
Er verneigte sich und warf eine fahrige Geste zu ihr hin. Die goldenen Spangen lösten sich von ihren Hand- und Fußgelenken und gaben das Mädchen frei.
Arámaú schaute verblüfft in sein maskiertes Gesicht.
„Kämpfe mit mir”, forderte er ruhig.
Arámaú rappelte sich auf. Schmerzen tobten durch ihre verspannten und verrenkten Glieder. Aber er war geduldig. Sie kam auf die Füße und taumelte vor ihm zurück.
Er ging langsam auf sie zu und hob die Hände.
„Na? Was ist, junge Schattensängerin? Was zögerst du? Hatte Yalomiro Lagoscyre dich nicht gelehrt, wie Euresgleichen die maghiscal [die äußere magische Energie] als Waffe benutzt? Zeig es mir! Ich will wissen, ob du es nun besser kannst als an jenem Tag im Etaímalon.”
Arámaú hob zaghaft die Finger. Nun, da sie kein Gold mehr am Körper hatte, war ihre Magie frei.
Gor sammelte Kraft zum Schlag und griff sie an, zaghaft, vorsichtig, so als versetze er einem Kind einen Klaps. „Los! Wehre dich! Greif mich an!”
„Ihr macht Euch lustig über mich!” Sie wich vor ihm zurück.
„Zeig mir, wie Diebsgesindel in Ehren stirbt! Oder bist du so unfähig, dass du deine eigene maghiscal nicht beherrscht?”
Er klapste erneut nach ihr. Sie richtete einen Schild vor sich aus, der so dünn war wie ein Stück durchweichte Pappe, und sah sich hektisch um.
„Kämpfe!”, schrie er sie unvermittelt an. „Kämpfe und stirb! Oder …”
„Oder was?”, fragte sie mit vor Panik zitternder Stimme.
„Oder tu das, was du am besten kannst”, schlug er vor. „Lauf weg. Fliehe vor mir und renne, so wie du gerannt bist, als du Yalomiro Lagoscyre in meinen Händen im Stich gelassen hast.”
Die Schattensängerin richtete sich auf. Ihre Augen gleißten silbern auf. „Yal!“
Ein silbriger Klumpen Magie, so ungefährlich wie ein halb geschmolzener Schneeball, flog an Gor vorbei und prallte mitten zwischen die Werkzeuge auf der Tischplatte und den Leichnam des Schattensängers. Die goldenen Werkzeuge klirrten umher.
Das Mädchen fuhr herum und rannte. Mitten hinein in das farblose, vibrierende Nichts,
Gor eilte ihr spielerisch ein Stück nach und blieb stehen, als er sie aus dem Blick verlor.
Mit feinem Lächeln schaute er in die Richtung, in der sie in der Leere verschwunden war und schüttelte belustigt den Kopf.
Mochte sie einige Tage in Panik sein. Sollte sie doch bis zur Erschöpfung durch Pianmurít irren. Er wusste nun, wie man den Schatten betrat.
WIJDLANT, JETZT
Wenig später fand er sich bei der teiranda in ihrem Gemach ein. Sie saß am Fenster, stickte an grauen Rosen auf einem grauen Tuch und gab ab und zu Anweisungen an die Kammermägde, die geschäftig umher wirkten, alle in grauen Gewändern und mit unwirklichem Nebelschein um sich herum.
„Schaut, Meister Gor”, sagte die teiranda und deutete auf die Felder vor der Burg. „Ist es nicht ein wunderschöner Tag? Die Ernte ist bald bereit.”
Er verschränkte die Arme und begutachtete die graue Einöde unter dem erstarrten Himmel. „Es ist alles so, wie ihr es haben wollt, Herrin.”
Sie nickte zufrieden und wie im Traum und lachte ihr perlendes Lachen.
„Ist euer Gespräch mit den Schattensängern zu Eurer Zufriedenheit verlaufen?”; erkundigte sie sich?
„Ja, Herrin”, sagte er. „Es ist alles genau so, wie ich es haben will.”
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