Das Licht war gut. Yalomiro war sehr hungrig gewesen, als sie den Etaímalon betreten und sich um den Thron des Großmeisters versammelt hatten, aber nun hatte er genug zu sich genommen, wurde schläfrig und sein Körper fühlte sich schwer und behaglich an. So, dachte der Junge, musste sich ein uralter Baum mit einem dicken Stamm fühlen, einer, den kein Sturm mehr schütteln konnte. Yalomiro stellte sich gern vor, ein Baum zu sein. Er liebte die Bäume und malte sich aus, wie herrlich es sein musste, mit den Wurzeln das Leben aufzusaugen und die Blätter dem Mond entgegen zu recken.

Hier im Heiligtum war es ein wenig wie in einer schützenden Höhle. Hier hinein kam nichts, was den Schattensängern gefährlich werden konnte. Hier waren sie unter sich. Meister Askýn gab auf sie alle Acht, sie waren zusammen, sie waren eine Einheit, wie ein atmender Körper aus vielen Leibern.

Yalomiro zuckte hoch. Beinahe wären ihm die Augen zugefallen. Er musste sich ein wenig zusammenreißen – vor den Meistern einzuschlafen war ein Privileg, das nur den jüngsten Kindern zustand. Arámaú zum Beispiel. Das Mädchen saß still an seiner Seite und war eingenickt. Leise ging ihr Atem, und einige unbeaufsichtigte Traumfetzen wisperten um sie herum. Mädchendinge. Kleine kuschelige Tiere und die rosafarbenen Blümchen, die am Bach wuchsen.

Yalomiro schaute sich unter den anderen um, die rings um den Thron in einigem Abstand auf dem Boden saßen. Die meisten der erwachsenen Schattensänger meditierten still, andere atmeten hungrig das Licht und Meister Gíonar betrachtete mit aufmerksamem Blick den Großmeister, der ein Netz aus Lichtfäden um sich herum gesponnen hatte und sich seinerseits noch zu sammeln schien. Es reflektierte, schimmerte auf und ab, im Rhythmus seiner Atemzüge.

Yalomiro verspürte leisen Stolz. Dies war Askýn Lagoscyre, sein Meister, sein Lehrer, der mächtigste Großmagier der camat’ay. Der, von dem er in den kommenden Sommern und Wintern alles lernen würde, was es über den Schatten, die Nacht und das Leben zu wissen gab.

Yalomiro hob den Blick zur oval geschwungenen Deckenkuppel hoch über sich. Durch die Fensterscharten, die von ihrem Mittelpunkt ausliefen wie die schlanken Strahlen eines Sterns, flimmerte Mondlicht hindurch. Mehr zu sehen gab es in diesem Saal nicht – nur die Fäden aus magischem Licht, den steinernen Thron mit der Rückenlehne in Form eines kopfstehenden Dreiecks und den sternförmigen Blick zum Firmament. Jede Nacht sah Yalomiro all diese Dinge und war unter den Schattensängern, die gemeinsam vom Licht des Nachthimmels speisten. Und noch immer hatte er nicht damit aufgehört, über das zu staunen, was die Mächte ihm für ein Geschenk gemacht hatten, indem Noktáma, die Dunkelheit selbst ihm die Magie zumaß.

Meister Askýn regte sich und öffnete die strahlend silbern leuchtenden Augen. Alle camat’ay wandten sich ihm zu. Meister Gíonar wollte etwas sagen, aber Meister Askýn blickte an ihm vorbei, auf Falgrèds Meisterin, die ihm zunickte und sich erhob.

„Was habt Ihr zu berichten, Meisterin Eketh?”

Meisterin Eketh verneigte sich. „Ich war, auf Bitte von Meister Gíonar, bei den Unkundigen in ihrem Dorf”, begann sie. „Wegen dieses Vorfalls mit dem unerlaubt gepflanzten Baum.”

Yalomiro errötete, als alle Blicke sich auf ihn richteten. Offenbar hatte es sich in Windeseile im Boscargén herumgesprochen, dass er in diese Geschichte verwickelt war.

„Wie geht es den Unkundigen?”, erkundigte Meister Askýn sich. „Sind sie sehr außer sich?”

Die Meisterin lächelte. „Nun, es war ihnen unheimlich, dass ich zu ihnen kam, aber sie ließen sich überzeugen, ihre Feldfrüchte doch künftig auf ihren Äckern und Gärten zu lassen. Man lässt Euch ausrichten, dass man den Mächten danke, in guter Nachbarschaft mit uns zu leben, man aber unsere Geduld nicht strapazieren wolle, indem man uns dazu brächte, wegen Kleinigkeiten, dummen Streichen törichter Bauern Bedeutung beizumessen.”

Verhaltene Erheiterung breitete sich aus. Es war doch immer wieder zu drollig, wie die Unkundigen sich bemühten, die Schattensänger nicht allzu sehr auf sich aufmerksam zu machen. Selbst Meister Gíonar schmunzelte. Wahrscheinlich hätte es ihm gefallen, sich die Ausreden der ujoray selbst anzuhören, aber es hatte einen guten Grund, dass die Schattensängerin zu den Unkundigen ging. Sie war jenseits des Alters, in dem sie mit ihrer Gegenwart, mit dem Fluch, unabsichtlich Männer in Gefahr bringen konnte..

„Aber wo ich schon einmal vor Ort war”, fuhr Meisterin Eketh fort, „und weil ich das Unkundigenvolk beruhigen wollte, ihr Vertrauen in uns stärken, habe ich mich erkundigt, ob sie gerade etwas für eine Heilerin zu tun hätten. Und tatsächlich, einer von ihnen benötigte dringend Hilfe, lag nämlich mehr tot als lebendig danieder. Ein Schäfer, der auf ihre Herden achtet.”

Yalomiro überlegte, ob er Arámaú wecken sollte, für den Fall, dass Meisterin Eketh etwas von kuscheligen Schäfchen erzählen sollte. Das würde dem Mädchen sicher gefallen. Wenn der Schäfer krank war, musste jemand auf die Tiere achten, und vielleicht wäre das eine Möglichkeit, bei den Unkundigen, die sie so sehr erschreckt hatten, etwas gut zu machen.

„Geht eine Krankheit um?”, erkundigte sich eine andere Schattensängerin besorgt.

„Nein, es war ein Unfall. Der Mann hatte mehrere Knochenbrüche und eine böse Kopfwunde, und…”

„Vergebt, Meisterin”, unterbrach Meister Gíonar, „was ist geschehen? Ihr messt dem mehr Bedeutung bei, als es ein Unfall auf der Weide wert wäre.”

Meisterin Eketh hob vorwurfsvoll die Brauen. Sie ließ sich nicht gern ins Wort fallen, auch nicht vom Stellvertreter des Großmeisters.

„Eines der Tiere ist offenbar toll geworden”, sagte sie kühl. „Ein Schaf hat den Mann um ein Haar umgebracht. Das muss in etwa zu der Zeit passiert sein, in der es hier viel Aufhebens um Bäume gab.”

Yalomiro entschied sich, Arámaú schlafen zu lassen. Das klang nicht nach einem Streicheltier.

Die Schattensänger schwiegen verwirrt. Dass Schafböcke unter gewissen Umständen wild und gefährlich wie Stiere werden konnten, war nichts Neues. Aber aus irgendeinem Grund hatte Meisterin Eketh die Sache für erwähnenswert gehalten.

„Warum, Meisterin, erzählt Ihr uns das?”, fragte Meister Askýn.

„Ich habe mir, nachdem ich den Mann geheilt hatte, die Tiere zeigen lassen. Immerhin war es ja möglich, dass sie von einer Krankheit ergriffen wurde. Man zeigte mir eine große Herde sanfter und gesunder Schafe. Und dieses hier, das abseits in einem Pferch stand.”

Sie hob die Hand in einer ausladenden Geste und sang ihren Zauber. Und sie alle sahen das Bild wie in einer eigenen Erinnerung.

Es war kein großer, gehörnter Bock, wie man hätte annehmen können. Es war ein Lämmchen mit struppigem schwarzem Fell. Das Tier war verletzt, an einigen Stellen war seine Wolle blutig und zerfetzt.

Die Schattensänger betrachteten verwirrt das junge Tier, das die Meisterin gesehen hatte, während sie erklärte: „Man sagt, es habe sechs Männer mit Spießen und Hunde gebraucht, um das Tier dazu zu bringen, von dem Schäfer abzulassen.”

Yalomiro schauderte, konnte den Blick aber nicht von dem Lamm abwenden, nicht von dem seltsamen Blick in den weit aufgerissenen, fast weißen Schafsaugen. Dann verblasste das Bild.

„Ein mickriges Lamm hat einen ausgewachsenen Mann so zugerichtet?”, staunte Falgrèd, der eigentlich in dieser Runde unaufgefordert gar nicht hätte reden dürfen.

„So sagte man mir.”

„Was ist nun mit dem Tier”, fragte Meister Gíonar. „Abgesehen davn, dass es wohl tollwütig ist?”

„Dazu komme ich gleich”, sagte Meisterin Eketh. „Was mir bemerkenswert erschien und was ich Euch berichten wollte, war jedoch dies: Man sagte mir, niemand wisse, woher dieses Lamm gekommen sei. Es sei am frühen Morgen einfach bei der Herde aufgetaucht. Es ist nicht einmal Lämmerzeit.”

„Und nun?”, fragte Meister Askýn.

„Die Unkundigen haben es nicht töten können.”

Einen Moment lang herrschte absolute Stille in der Halle. Aràmaùs leises Schnarchen wirkte verloren darin.

„Was soll das heißen?”, fragte Meister Gíonar beunruhigt.

„Das, was ich sage. Die Hunde haben versucht, es zu zerreißen, aber – so erzählte man mir – sie haben jaulend und winselnd von ihm abgelassen, sobald sie sein Blut schmeckten. Daraufhin haben einige der Männer versucht, es zu erschlagen, aber es war, als prügelten sie auf einen Sack mit Sand ein. Das Lamm blieb am Leben.”

Diesmal hielt das Schweigen der Schattensänger noch länger an.

„Ihm mit einem Messer nahe zu kommen, das haben die Menschen sich nicht getraut”, fügte die Meisterin der Vollständigkeit halber hinzu.

„Das ist allerdings eine sehr wunderliche Geschichte”, gab Meister Askýn zu, und die anderen Erwachsenen murmelten Zustimmung.

„Es ist eine Sache, die so wunderlich ist, dass einige von uns sie sich aus der Nähe betrachten sollten. Die Unkundigen haben Angst. Mehr als vor verzaubertem Obst.”

Hier und da begannen Meister und Meisterinnen, miteinander zu tuscheln. Falgrèd blickte finster drein. Offenbar war er gekränkt, dass seine Meisterin ihm nicht schon vorher von dem Wunderlamm berichtet hatte.

Der Großmeister erhob sich und brachte die anderen Magier damit zum Verstummen. Die Blicke wandten sich ihm zu.

„Wir müssen uns vergewissern, ob es sich um Zauberei handelt. Es wäre erstaunlich, wenn dem nicht so wäre. Diese Geschichte geht uns etwas an.”

„Soll ich mich darum kümmern, Meister Askýn?”, fragte Meisterin Eketh. „Ich bin den Unkundigen nicht mehr fremd.”

„Wenn es ein böser Zauber wäre”, gab einer der Meister zu bedenken, „kann es nicht schaden, wenn noch mehr von uns gehen.”

„Wollt ihr die ujoray [* Unkundigen] noch mehr in Panik versetzen?” Meister Gíonar verschränkte ablehnend die Arme. „Ihr könnt Euch denken, was geschieht, wenn unseresgleichen zu mehreren auftaucht. Es würde uns mehr ablenken, uns vorsichtig unter ihnen zu bewegen als uns um dieses sonderbare Tier zu kümmern!”

„Ich könnte vorangehen und dafür sorgen, dass die Frauen sich entfernen”, bot Meisterin Eketh an.

„Das ist gut gedacht, aber es fruchtet nichts. Die Menschenweiber sind zu unverständig, als dass sie nicht am eigenen Leibe spüren wollen, ob die Kunde von unserem Fluch wirklich der Wahrheit entspricht.”

Hier und dort erklangen zustimmende Worte. Nicht zum ersten Mal hatte der Übermut junger Unkundiger dazu geführt, dass eine unheilvolle Hysterie sich an Orten ausgebreitet hatte, an denen Schattensänger sich gezeigt hatten. Da hatte alles Warnen und Mahnen nichts genutzt.

Yalomiro erhob sich. Es war eine Verwegenheit, nun zu den Meistern zu sprechen, aber er konnte einfach nicht schweigen.

„Lasst mich zu den Menschen gehen”, sagte er. „Wenn das Lamm noch lebt, möchte ich es mit eigenen Augen sehen und verstehen, was mit ihm geschehen ist.”

Meister Gíonar warf dem Jungen einen unwilligen Blick zu. „Hast du heute nicht schon genug Unfug angerichtet?”

Yalomiro fühlte die tadelnden Blicke der Erwachsenen auf sich ruhen und wusste, dass er darauf besser nicht hätte antworten sollen. Aber sein Stolz war stärker.

„Ich könnte mich bei dieser Gelegenheit bei den Unkundigen für den Schrecken entschuldigen, den ich ihnen eingejagt habe. Und außerdem… vor einem Kind werden sie sich nicht fürchten.”

„Damit hat er Recht”, sagte Meister Askýn milde und erntete dafür einen entgeisterten Blick von Meister Gíonar.

„Ich will ihn begleiten!”, rief Falgrèd aus.

„Du bist schon zu alt”, meinte Yalomiro ruhig. „Du bist fast erwachsen.”

Hier und da klang verhaltenes Gelächter. Falgrèd schnaubte verächtlich.

„Du tust, als sei es beschlossenen Sache, mein Schüler”, nahm der Großmeister das Wort wieder an sich. „Und ich verstehe deine Neugier und deinen Tatendrang. Aber ich muss auch Meister Gíonar zustimmen. Die Sache ist kein Spiel für Kinder. Wir können nicht wissen, welcher Natur die Magie ist, die möglicherweise auf diesem Lamm liegt.”

„Es hat immerhin einen kräftigen Mann übel zugerichtet und war kaum zu bändigen”, fügte Meisterin Eketh sanft hinzu. „Was auch immer ihm seine Kräfte verleiht, ihr Kinder könnt es nicht bannen.”

„Ich würde mir nicht anmaßen wollen, es zu bannen“, erklärte Yalomiro bedächtig. „Aber vielleicht kann ich erkennen, womit wir es zu tun haben und euch raten, wie ihr ihm begegnen könnt.”

„Du maßt dir also an, etwas zu verstehen, was eine Meisterin nicht schon erkannt hätte?”, rief einer der anderen Meister belustigt.

Yalomiro senkte den Blick. „Das weiß ich nicht, ehe ich es nicht gesehen habe.”

Die camat’ay tuschelten, aber sie schienen seinen Vorschlag mitnichten lächerlich zu finden. Meister Gíonar und Falgrèd musterten ihn vorwurfsvoll. Meisterin Eketh lächelte unmerklich. Yalomiro wurde die Aufmerksamkeit unangenehm. Er verneigte sich, ließ sich wieder nieder und versuchte, sich unsichtbar zu machen.

Meister Askýn schwieg, und nach und nach taten es ihm die anderen nach.

Yalomiro wagte es nicht, den Großmeister anzublicken. Ihm war klar, wie vorwitzig und dumm sein Verhalten auf die anderen gewirkt haben musste. Andererseits war es nicht seine Absicht gewesen, sich in den Vordergrund drängen zu wollen oder vor den anderen aufzuschneiden. Er war einfach nur neugierig gewesen. Und er war begierig, zu lernen. Was gab es besseres, um Wissen über die Magie zu erlangen, als sich die Magie anderer anzuschauen?

„Die Kinder werden gehen”, brach der Großmeister das Schweigen.

Wie bitte?“, entfuhr es Meister Gíonar.

„Ihr habt mich verstanden. Ich halte es für einen guten Weg, wenn Yalomiro Erfahrungen mit ujoray macht. Aber ich will, dass Arámaú und Falgrèd ihn begleiten.”

Falgrèd grinste triumphierend, brachte seine Miene jedoch rasch wieder unter Kontrolle. Arámaú schlief immer noch. Es war ein langer Tag für das kleine Mädchen gewesen.

„Meister Askýn, ich weiß nicht, ob …”

„Das wird sich zeigen, Meister Gíonar. Von den Kindern droht den Unkundigen in der Tat keine Gefahr, und ich denke, es ist gut, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen machen. Ich weiß, dass du mein Vertrauen nicht enttäuschen wirst, Yalomiro.”

Yalomiro neigte mit unbewegter Miene den Kopf und konnte sein Glück kaum fassen.

„Ihr geht zu den Unkundigen und schaut euch das Lamm an. Ihr werdet weder versuchen, es zu berühren noch ihm irgendwie mit Magie zu Leibe zu rücken. Ihr geht, schaut und fühlt. Und berichtet.”

„Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Meister”, bekräftigte Falgrèd eifrig.

„Ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel, wenn ich auf diese Weise über Eure Schüler bestimme”, wandte Meister Askýn sich an Meisterin Eketh und Meister Gíonar.

Die drei Magier schauten einander an und schwiegen. Aber sie alle zeigten ein reges Mienenspiel. Yalomiro hätte zu gern in die Gedanken gelauscht, die sie miteinander austauschten, aber das wagte er nicht. Die Erwachsenen hätten es bemerkt, wenn er sie belauschte.

Die übrigen Schattensänger verloren das Interesse und wandten sich eigenen Dingen zu. Der Großmeister hatte entschieden. Bis auf weiteres hatten sie mit dieser Sache also nichts mehr zu schaffen.

Falgrèd kam herbei und ließ sich an Yalomiros Seite nieder. Aufgeregt knuffte er den jüngeren Knaben vor den Arm.

„Das wird ein echtes Abenteuer”, wisperte er.

„Ja”, flüsterte Yalomiro zurück. „Wie neugierig bin ich, die Welt der Unkundigen zu sehen!”