Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten, als die Kinder die Siedlung der ujoray erreichten. Ihnen allen war etwas unwohl dabei gewesen, aus dem Boscargén heraus zu gehen. Yalomiro war sich sicher, dass die Meister es nicht erlaubt hätten, dass sie allein hierher gingen, und wenn er noch so sehr darum gebeten und dafür argumentiert hätte.

Im Boscargén waren sie sicher; dafür sorgte die magische Grenze, die die Meister um den Wald gelegt hatten und durch die niemand den Wald betreten konnte, der in feindseliger Absicht gegen die Schattensänger dorthin ging. Die Meister erfuhren es augenblicklich, wenn jemand den Wald betrat, und ihnen stand es frei, anderen, ujoray wie Magiern zu erlauben, zu ihnen zu kommen. Das war auch der Grund dafür, dass die Kinder genau wussten, dass die Regenbogenritter sich mit Billigung der Meister dort bewegt hatten; vielleicht um einen Weg abzukürzen, vielleicht, weil sie nach etwas suchten, was mit den Geschäften der Schattensänger nichts zu tun hatte. Wie dem auch war – die Meister duldeten die geheimnisvollen Einhornreiter. Alles Weitere ging die Kinder nichts an.

Hier draußen, außerhalb der Grenze, war es anders – hierher reichte der Schutz des Waldes nicht. Allem, dem die Kinder hier begegnen würden, mussten sie selbst gegenübertreten, seien es Menschen, seien es wilde Tiere, oder auch stinkende, geifernde goala’ay, die beiläufig zu erwähnen Falgrèd sich nicht nehmen ließ, woraufhin Arámaú erneut in Unruhe verfiel und Yalomiros Hand seither nicht mehr losgelassen hatte. Ihre klebrigen kleinen Mädchenfinger waren kalt, und Yalomiro ertappte sich bei der Überlegung, ob es wohl den Mächten gefällig war, wenn eine Dienerin der Nacht, wie Arámaú es zumindest von Geburt sein sollte, solch übermäßige Ängstlichkeit an den Tag legte, nur weil jemand dummes Zeug redete.

Doch vor dem, dem sie hier in der Welt der ujoray als erstem begegneten, mussten sie sich nicht fürchten. Im Gegenteil – hier waren sie es, die gefürchtet wurden.

Die ujoray-Kinder hatten am Rand der Obstplantage gespielt, während die Erwachsenen, die zwischen den Bäumen arbeiteten, ihr Handwerkszeug zusammenräumten, weil es an diesem Tag nichts weiter zu tun gab. Als die Kinder, die der Obstbauern und die aus dem Wald, einander gewahr wurden, standen sie sich zunächst eine Weile schweigend gegenüber. So lange, bis auch die Obstbauern durch die plötzliche Stille auf die drei schwarz gewandeten Ankömmlinge aufmerksam wurden.

Der Bauer Brosco kam näher und musterte die Kinder misstrauisch.

Yal gha’tanai“, sagte Falgrèd endlich. „Wir grüßen euch.”

„Was wollt ihr hier?”, fragte Brosco so verwirrt, dass er vergaß, den Gruß zu erwidern. „Wer seid ihr?”

„Wir kommen im Auftrag unserer Meister. Die Meisterin Eketh, die gestern hier war, berichtete, euresgleichen habe ein Problem mit einem wild gewordenen Schaf.”

Die Bauern wisperten miteinander. Ihre Kinder beäugten die Schwarzgewandeten.

„Ihr seid also … Abkömmlinge von den Schwarzmänteln?”, fragte Anjíor vorsichtig.

„Die Meister schicken uns voraus, um das Wundertier näher zu betrachten. Wir sind zu jung, um euch gefährlich zu werden.” Falgrèd sagte das so, als bedauere er dies, aber obwohl er sich damit nur einen Spaß erlaubte, packte eine der Frauen eines der etwas älteren Mädchen und zog es einige schritte weiter weg.

„Was geht euch dieses verrückte Schaf an?”, rief sie aus.

„Es könnte sein, dass es nötig wird, dass unsere Meister sich darum kümmern”, antwortete Yalomiro, obwohl ihm als dem jüngeren das Wort nicht anstand. „Um das zu entscheiden, sollen wir berichten.”

Die Männer und Frauen wechselten unbehagliche Blicke. Brosco plagte das Gewissen ob seines unerlaubt angepflanzten Baumes. Yalomiro hörte seine unverhohlenen Gedanken und schämte sich seinerseits darüber, dem armen Mann mit seinem Streich solche Angst eingejagt zu haben.

„Wir wollen euch helfen”, fügte er hinzu. „Die Schattensänger beschützen euch.”

Nun lächelten einige der Unkundigen; die Frauen in überlegener Weise gerührt, die Männer gönnerhaft belustigt. Sie nahmen die Magierkinder ganz offensichtlich nicht in der Weise ernst, wie es ratsam gewesen wäre.

Falgrèd und Yalomiro warteten und versuchten, den Gedanken der Unkundigen zu lauschen, aber was sie hörten, war nur ein undurchdringliches Stimmengewirr. Ein wenig machte es den Eindruck, dass die Unkundigen sich über sie lustig machten.

Die ujoray-Kinder starrten sie an, misstrauisch, ein wenig feindselig sogar. Dort, wo die Erwachsenen sich aufgrund ihres Alters überlegen fühlten, waren ihren Kindern die kindlichen Magier instinktiv suspekt.

„Geht nach Hause”, sagte eine der Frauen schließlich mit bemühter Freundlichkeit. „Sagt euren Eltern, wir danken für die Sorge, aber wir kommen allein damit zurecht.”

„Es bereitet uns keinerlei Umstände.” Falgrèd schenkte einem der Knaben, der etwa einen Kopf größer und doppelt so schwer sein mochte wie er selbst, ein wölfisches Grinsen. „Und es muss sich auch niemand zum Dank verpflichtet fühlen.”

„Lass es gut sein, Junge”, mischte sich Anjíor ein. „Kümmert ihr euch um eure Geschäfte und wir uns um die unseren.”

Falgrèd seufzte. „Unkundige”, sagte er laut in Yalomiros Richtung. „Stur und gedankenlos.”

„Lass sie”, antwortete der jüngere Knabe. „Sie haben Angst.”

„Aber dann sollen sie sich doch nicht so anstellen!”

„Ich glaube…”

„Ach bitte”, kam es da plötzlich von Arámaú. „Ich hab mich so gefreut, das kleine Schäfchen zu sehen! Lasst uns doch nur ganz kurz gucken!”

Die Unkundigen zögerten unschlüssig. Aber sie waren nicht fähig, Arámaú zu widerstehen. Das kleine Mädchen machte flehende Augen und schaute so treuherzig zu den ujoray empor, dass sich niemand ihrem Bann entziehen konnte.

„So ein niedliches kleines Ding”, wisperte eine der Frauen, die selbst ein kleines Mädchen an der Hand hielt. „So ein Jammer, dass-“

„Still”, wurde sie hastig unterbrochen.

„Dürfen wir es anschauen?”, bettelte Arámaú. „Wir gehen auch nicht zu nahe heran und wollen ganz bestimmt niemanden stören! Wir sind so weit gelaufen, den ganzen Tag… meine Füße sind ganz heiß davon.”

Einen Augenblick lang schwebte gespanntes Schweigen über der Gruppe. Dann räusperte Brosco sich. „Wenn es euch so ernst damit ist”, sagte er, „kommt mit. Es ist ein Stück weit zu laufen bis zu den Herden.”

„Oh, danke!”, rief Arámaú und für einen kurzen Augenblick sah es aus, als sei sie versucht den Bauern zu umarmen. Gerade noch rechtzeitig beherrschte sie sich.

„Folgt mir.” Brosco gab den Rechen, den er gerade in der Hand hielt, einem anderen Mann in die Hand und winkte den Kindern, ihm zu folgen. „Ich bringe euch hin.”

„Sollen wir mitkommen?”, fragte eine der Frauen.

„Nein. Ihr geht zu den Häusern. Und da bleibt ihr, bis ich wieder bei euch bin.”

Die anderen Unkundigen nickten. Offenkundig bestand zwischen ihnen eine Absprache, eine Anweisung, was sie zu tun hatten, wenn eine Situation wie diese eintrat.

„Wir danken dir”, sagte Falgrèd, als er sich von seiner Überraschung über Arámaús unerwarteten Erfolg erholt hatte. Yalomiro war sich ziemlich sicher, dass es sich um eine spezielle Art von Kleinmädchen-Magie handeln musste, die nicht unbedingt schattensängerisch war.

Brosco brummelte etwas Unverständliches und setzte sich eilig in Bewegung. Die Kinder ließen die Gruppe der Bauern zurück und folgten ihm rasch nach. Aràmaùs Gesicht strahlte vor Stolz. Ihr war etwas gelungen, woran die Jungen gescheitert wären. Das war etwas, wovon sie später voller Stolz Meister Gíonar erzählen konnte.

***

Die Schafherde weidete auf einer großen Wiese jenseits der Obstgärten, bewacht von zwei aufmerksamen Schäferhunden, die beim Anblick der Schattensängerkinder auf die Pfoten sprangen und wachsam, mit gespitzten Ohren zu ihnen hinblickten.

Arámaú lachte erfreut und machte Anstalten, zu den Hunden hin zu laufen. Falgrèd erwischte sie gerade noch an ihrem langen Haar.

„Nicht!”, wies er sie zurecht. „Die gehen uns nichts an.”

Yalomiro war stehen geblieben und schaute die Hunde forschend an. Die Tiere wurden unruhig, kamen aber nicht näher. Dafür hob der Leitwidder der Herde argwöhnisch den Kopf.

„Geh da weg, Junge”, mahnte Brosco. „Du machst die Tiere nervös.”

Die meisten Schafe hatten sich bereits nahe beieinander zur Ruhe begeben und käuten wider. Nun aber hielten hier und dort einzelne Tiere inne und wuchteten sich auf die Beine hoch. Der Widder streckte die Schnauze vor und witterte.

„Was immer du da tust, Junge”, zischte Brosco ärgerlich, „Hör auf damit!”

„Ich mache überhaupt nichts”, antwortete Yalomiro. „Ich schaue sie mir nur an…”

„Dann lass das gefälligst sein!”

Einer der Hunde begann, halbherzig zu knurren. Der Widder setzte sich in Bewegung, trat ein paar Schritt rückwärts und senkte die Hörner.

„Lass den Unfug, Yalomiro!” Falgrèd, der Arámaú vorsichtshalber immer noch bei der Hand hatte, packte den Jüngeren bei der Schulter. „Denk an Meister Askýn!”

„Aber ich bin das nicht!”

Brosco warf unbehagliche Blicke um sich. Dort am Rande der Wiese war die kleine Hütte, in der der Hirte übernachtete und sicher immer noch daniederlag, um sich auszukurieren. Doch ob es eine kluge Entscheidung wäre, nun einfach loszurennen?

Yalomiro wandte sich von der Herde ab. Sein Blick streifte suchend den Hain, der die Grenze zwischen Wiese und Obstgärten bildete.

„Da ist jemand”, flüsterte er. „Spürt ihr es nicht?”

Falgrèd horchte in die Abenddämmerung, die still über der Wiese und dem gespannten Atem der Tiere lag. Unbekümmert davon erschallte hier und dort das Nachtlied einzelner Vögel. „Ist uns jemand gefolgt?”

Arámaú lugte hinter seinem Rücken hervor. Brosco, der sich zwischen den unruhigen Tieren und den sich abwendenden Kindern unwohl fühlte, räusperte sich leise.

Was ist da, Yalomiro? Sind die Unkundigen uns nachgeschlichen?, fragte der ältere Junge.

Nein. Wer immer da ist, er versucht, sich vor uns zu verbergen. Und das macht er recht gut.

Vielleicht ist uns ein Meister nachgegangen, warf Arámaú ein.

Glaubst du?

Gestern Morgen war Meister Gíonar auch plötzlich da.

Yalomiro spürte Enttäuschung, die versuchte, sich einen Weg in sein Gemüt zu bahnen. Natürlich – so musste es sein. Hatte er ernsthaft erwartet, dass die Meister sie allein und unbeaufsichtigt diesen Gang hätten erledigen lassen? War er so anmaßend, von sich selbst zu glauben, er könne ohne Anleitung durch einen erwachsenen Magier hinter das Geheimnis des wilden Lammes kommen?

Andererseits – war es nicht vielleicht gerade der Moment, den Meistern zu beweisen, dass er der Herausforderung gewachsen war? Der richtige Moment, seinen Meister stolz auf seinen Schüler zu machen? Wenn Meister Gíonar Zeuge seiner Fähigkeiten würde, dann wäre es vielleicht auch leichter, dessen Respekt zu gewinnen.

Yalomiro drehte sich um und hob die Hand gegen die Hunde und den drohenden Widder.

„Ruhig”, sagte er beiläufig zu den Tieren. „Es gilt nicht euch. Lasst euch nicht von uns stören.”

Einen Augenblick lang wirkten die Tiere verdutzt. Dann begannen die Hunde, mit den Schwänzen zu wedeln und setzten sich nieder. Der Widder stieß halbherzig nach einer Aue in seiner Nähe und trottete dann davon. Nach und nach entspannten sich auch die Schafe.

„Und nun zeig uns das Lamm”, bat Yalomiro, während der Bauer die Schultern sinken ließ und erleichtert aufatmete.

„Hast du nicht gehört? Wir haben nicht viel Zeit”, drängte Falgrèd.

Brosco zuckte zusammen und nickte verstört. Dann winkte er den Kindern, ihm an der Herde vorbei zum gegenüberliegenden Saum der Wiese zu folgen. Aus der Hütte trat, schwer auf einen Stecken gestützt, ein anderer Mann hervor. Als er der Ankömmlinge ansichtig wurde, kam er ins Freie gehumpelt.

„Brosco!”, rief der Schäfer. „Was soll das? Was schleppst du mir hier Kinder aufs Feld?”

Der Obstbauer warf eine hilflose Geste zu ihm hinüber. „Es sind… die Magier haben sie uns geschickt! Sie wollen das Lamm-“

„Bei den Mächten!” Der Schäfer eilte heran und gelangte dabei angesichts seiner Blessuren zu einer erstaunlichen Geschwindigkeit. „Bleibt bloß weg von dem Mistviech! Es…”

„Es ist dort drüben, hinter dem Gatter?”, fragte Yalomiro ruhig.

„Geht dich das irgendwas an, du Bengel?”, schnauzte der Schäfer.

„Ja”, antwortete Yalomiro schlicht.

Darauf hatte der Schäfer zunächst nichts zu entgegnen, aber es sah aus als wolle er den Knaben für seine Dreistigkeit eine Ohrfeige versetzen. Doch der Bauer Brosco fiel dem Mann in den Arm, so dass der schmerzlich aufstöhnte. Meisterin Eketh hatte zwar seine Verletzungen heilen können, die Schmerzen hingegen waren noch nicht gänzlich fort.

„Las gut sein, Idur”, flüsterte er beschwichtigend. „Das ist Schwarzmantelbrut. Die dürfen wir nicht verärgern.”

„Ich will kein Magiervolk zwischen meinen Tieren”, rechtfertigte Idur der Schäfer sich erregt, aber verhaltener Stimme. „Erst diese Kerle mit ihren Monstergäulen, und nun…”

„Die Regenbogenritter waren hier?”, fragte Falgrèd scharf, der trotz der Heimlichkeit zwischen ihnen natürlich jedes Wort verstanden hatte. „Haben sie sich das Lamm angesehen?”

Idur warf dem älteren Jungen einen feindseligen Blick zu und wischte sich mit dem Ärmel die Nase. „Die Schafe haben sie mir in Unordnung gebracht, die seltsamen Herren. Als hätte ich nicht schon genug Scherereien.”

„Woher wussten denn die Regenbogenritter von dem Lämmchen?”, fragte Arámaú arglos.

„Das mögen die Mächte wissen, ich weiß es nicht. Und es interessiert mich nicht.”

„Aber was haben sie angesichts des Tieres gesagt?”

Idur schnaubte. „Gar nichts. Angestarrt haben sie das Mistviech, bis dass es angefangen hat, das Gatter auseinander zu nehmen. Und dann sind sie wortlos abgezogen. Waren sich wohl zu fein, irgendwas zu unternehmen!”

Die Ritter waren unterwegs zu den Meistern, dachte Yalomiro aufgeregt. Sicher wollen sie Rat einholen!

Das sähe ihnen nicht ähnlich, widersprach Falgrèd. Die Ritter verachten unseresgleichen. Warum sollten sie…

Wenn es aber doch eine solche Seltsamkeit ist, dass sie mit ihrer Weisheit nichts damit zu beginnen wissen? Ist es dann nicht denkbar, dass sie vielleicht versuchen zu ergründen, was wir darüber wissen?

Arámaú hörte den großen Jungen verwirrt zu. Auch Idur und Brosco waren verunsichert, während die beiden Jungen einander schweigend und mit starrer Miene anschauten und scheinbar das Interesse an ihnen verloren hatten.

„Ich habe es satt, dass den ganzen Tag Fremde auf der Weide herumlaufen und das Lamm anstarren”, schimpfte Idur endlich weiter. „Das hier ist eine Schäferei, kein Jahrmarkt! Und wenn ich mich nicht Eurer ehrenwerten Meisterin, mögen die Mächte sie ewig beschützen, dankbar für ihre Heilkünste wäre, sogleich vom Acker prügeln würde ich euch Kröten!”

Yalomiro und Falgrèd unterbrachen ihre wortlose Unterhaltung, befremdet über die Wut des Schäfers.

„Zeig es uns. Und sei versichert – je mehr Magier sich mit dem Geheimnis des Lammes beschäftigen, desto schneller werden sich eure Probleme damit lösen.” Falgrèd schritt an Brosco vorbei und zog Arámaú mit sich. Yalomiro versuchte, entschuldigend zu lächeln und folgte ihm eilig. Aber eine zweite Enttäuschung ergriff ihn. Denn wenn es tatsächlich so war, dass die mächtigen Regenbogenritter das Mirakel bereits betrachtet und dabei selbst nicht zu einer Erkenntnis gelangt waren, so dass sie nun die Meister aufsuchten, um sich zu beraten – was konnte er, ein kleiner Schüler, anderes daran entdecken – und wozu würden die anderen Meister noch seinen Bericht hören wollen?

***

Das Lämmchen sah jämmerlich aus, und das lag nicht nur daran, dass die Hunde es zerbissen und die Menschen es geprügelt hatten. Die Wolle, die dicht und glänzend schwarz hätte sein sollen, hing verfilzt und schmutzig an ihm herunter; verkrustet von geronnenem Blut dort, wo es Wunden davon getragen hatte. Seine Klauen waren unförmig und so verkrüppelt, dass es kaum aufrecht stehen konnte, und seine Schnauze war verklebt von etwas, das ein eitriger Ausfluss zu sein schien. So stand es in einer Ecke des Gatters, in das die Menschen es mit Mühe hatten hinein treiben können und schaute die Kinder mit leeren Augen an. Bewegen tat es sich nicht.

„Das arme kleine Ding”, rief Arámaú aus.

„Und ihr habt keine Ahnung, wo es her kommt?”, erkundigte Falgrèd sich.

„Wenn wir wüssten, wo es verloren gegangen ist”, knurrte Idur, „dann hätte ich schon längst ein Wörtchen mit seinem Besitzer gewechselt. – Es stand gestern Vormittag einfach bei der Herde.”

„Und warum habt ihr die Hunde darauf gehetzt?”

„Schau es dir doch an, Bursche! Voller Rotz und Räude! Denkst du, ich will mir die Seuche unter mein Vieh holen?”

Die Schattensängerkinder musterten das Lamm ratlos. Kleine Hornknöpfchen an seinem Schädel ließen erahnen, dass es ein prächtig gehörnter Widder sein würde, sofern es überlebte. Insgesamt wirkte das Tier jedoch sehr zierlich, jung. Wie vor kurzer Zeit geboren.

„Du hast keine Lämmer diesen Alters bei deiner Herde”, stellte Yalomiro fest.

„Die Lämmerzeit ist seit Monden vorbei! Weiß der Henker, welche verrückte Aue den da so spät im Jahr gelammt hat.”

„Sicherlich ist irgendwo ein verwildertes Vieh auf der Heide unterwegs.” Brosco stützte sich auf den Viehzaun und sah das Böckchen angewidert an. „Voller Krankheiten, ganz bestimmt. Der Besitzer wird schon wissen, warum er nicht danach gesucht hat.”

„Wie alt mag es sein?”

Idur schnäuzte sich und winkte abfällig ab. „Einen Mond vielleicht, nicht älter!.”

Yalomiro überlegte einen Moment.

„Nein”, sagte er dann. „Das kann nicht sein.”

„Was fällt dir ein, Bürschchen? Willst du mir erzählen, was ich über Schafe zu wissen habe?”

„Nein. Aber hast du jemals ein Lamm gesehen, das sich binnen so kurzer Zeit die Klauen so zuschanden trampelt? Das hier ist schon lange unterwegs. Und er ist nicht nur auf weicher Heide gelaufen.”

Die beiden unkundigen Männer schweigen verblüfft einen Moment.

„Da hat der kleine Schwarzmantel recht”, gab Brosco schließlich zu.

„Pah! Verwachsen und verkrüppelt ist das Mistvieh, und wenn ich wüsste, wie wir das Ding loswerden…”

„Warum lasst ihr es nicht einfach wieder frei?”, fragte Arámaú treuherzig. „Sicher hat es Angst.”

„Frei lassen?” Idur verdrehte die Augen. „Hört, was sie ihrer Brut beibringen, die Schwarzmäntel im Wald. Soll sich denn die nächste Herde anstecken, mit was auch immer für einer Seuche?”

Arámaú legte die Stirn in Falten. Wenn sie auch noch klein war, die Kränkung hatte sie bemerkt.

Die beiden Jungen dachten nach.

„Vielleicht kann einer unserer Meister es heilen, wenn es krank ist”, sagte Falgrèd.

Es ist nicht krank, dachte Yalomiro. Es ist verflucht.

Was?

Erklär ich euch später!

„Was gebt ihr euch so viel Mühe damit, dieses Drecksvieh auch noch in Schutz zu nehmen? So klein es ist, es hat mir einen Hund zertrampelt, und wenn eure Meisterin nicht zufällig… wir haben euch nicht um Hilfe gebeten!”

„Im Augenblick sieht es recht friedlich aus…”

Das Lamm blökte, mit einer sonderbaren, rauen und gurgelnden Stimme. Es war ein ekliges Geräusch. Die Kinder zuckten zusammen. Idur stöhnte. Yalomiro legte Arámaú, die verstört ein paar Schritte zurückgewichen war, die Hände auf die Schultern.

Falgrèd senkte den Blick. „Dann wollen wir euch unsere Hilfe natürlich auch nicht aufdrängen. Aber wer löst euer Problem mit diesem mysteriösen Wesen?”

„Das machen wir selbst. Und wenn die Hunde es nicht schaffen, dann muss es mit Feuer gehen!”

Die Kinder schauten entsetzt zu Idur auf. Selbst Brosco schien überrascht.

„Wissen die anderen davon?”

„Ich wäre nachher zu euch gekommen. Ohne Holz geht es wohl nicht.”

„Ihr wollt es verbrennen?”, fragte Yalomiro.

„Und wenn ich die Lichtung dafür abfackeln muss! Gründlicher geht es wohl nicht, und die Krankheit wird dabei wohl auch in Flammen aufgehen.”

„Ihr dürft das Lämmchen nicht verbrennen!”, rief Arámaú empört aus.

„Wollt ihr Gören euch etwa in unsere Geschäfte einmischen? Hat euch irgendjemand gerufen, aus eurem Wald?”

„Wäre unsere Meisterin nicht gekommen, aus dem Wald, dann…”

„Den Mächten sei Dank, dass es sich so gefügt hat, und noch einmal meinen unterwürfigsten und tausendfachen Dank an die Meisterin. Aber damit soll es genug sein! Wenn euresgleichen sich zu sehr um dieses verseuchte tollwütige Vieh hier schert, dann ist das absolut vergebliche Mühe! Das geht euch nichts an.”

Falgrèd nickte.

„Kommt”, sagte er zu seinen Begleitern. „Wir haben genug gesehen. Und wir haben zu berichten.”

Arámaú warf dem Lämmchen noch einen traurigen Blick zu, den das Tier mit einem leeren Starren erwiderte.

„Wir werden eure Worte unseren Meistern überbringen”, sagte Falgrèd zum Abschied. „Und auch alles andere, was wir hier gehört haben. Yal gha’tanai.”

Die Kinder verneigten sich. Idur und Brosco sahen ihnen nach, wie sie, ohne zu rennen, aber auch ohne zu zögern, wieder an der Herde vorbei hinüber zum Waldrand schritten.

Diesmal blieben Hunde und Schafe völlig ruhig. Nur die ujoray fühlten sich nicht mehr allzu wohl in ihrer Haut.