
„Diese abscheulichen Unkundigen!”, zürnte Arámaú und ballte ihre kleinen Fäuste. „Sie dürfen das kleine Lamm nicht verbrennen!”
„Wenn ihnen nichts anderes einfällt als solche Grausamkeit”, sagte Falgrèd ernst, „muss es schlimm sein.”
„Und sonst ist euch nichts aufgefallen an dem Tier?”, fragte Yalomiro.
„Hast du denn was gemerkt?”
„Ja. Und zwar, dass das Lamm… nun ja – es ist leer.”
Falgrèd blickte ihn an, als habe Yalomiro den Verstand verloren. „Wie bitte?”
„Leer. Es hat gar keine Gedanken in seinem Kopf. Hast du denn gar nicht versucht zu hören, was das Lamm denkt?”
Falgrèd brauchte einige Anläufe, bis er die Sprache wieder gefunden hatte.
„Du willst mir nicht weismachen, dass du versucht hast, die Gedanken eines Tieres … weißt du, wie gefährlich das ist?”
„Ja, ich weiß, dass es schief gehen kann, wenn man sich in den Geist von Tieren wagt. Aber es ging hier ja nicht um wilde Raubtiere. Was kann an einem Schaf schon so gefährlich sein?”
„Gefährlich? Meister Askýn reißt mir den Kopf ab, wenn ich mit seinem Schüler zurückkehre, der Gras frisst und blökt!”
Arámaú kicherte, aber Yalomiro ließ sich nicht beirren. „Wie dem auch sei: Ich habe mir die Schafsgedanken angehört, als ich zu ihnen gesprochen habe. Als der Widder uns angreifen wollte. Da war nicht viel. Sie haben an Gras gedacht, und ans Fressen. Und sie haben den Schäfer erkannt. Den mögen sie nicht, er ist grob zu ihnen. Aber das Lamm…”
„Ja?”
„Nun… das Lamm hat an überhaupt nichts gedacht. Es war… es war, als sei es gar nicht da. Als sei es… irgendwie… bewusstlos.”
„Aber wieso hat es dann den Schäfer angegriffen?”
Yalomiro zuckte die Achseln. „Irgendeinen Grund wird es gehabt haben.”
„Und was war das für eine Geschichte mit dem Alter?”
„Wenn das Lamm erst einen Mond alt wäre, dann hätten seine Klauen noch gar nicht so lang und schief wachsen können. Niemand hat seine Klauen gepflegt. Und sein Fell war auch viel zu lang und verfilzt für ein so junges Tier. Das Lämmchen ist alt. Ziemlich alt. Und sein Geist ist leer wie ein Blatt Papier.”
Eine Weile schwiegen die drei Kinder, während sie durch den Wald in Richtung der Obstgärten gingen. Yalomiro war sich nicht im Klaren darüber, was nun geschehen sollte. Seiner Meinung nach war das sonderbare Verhalten des Lämmchens, das so wenig mit seinen Artgenossen gemein hatte, ein hinreichender Grund dafür, dass die Meister mit ihrem Wissen und ihren Kräften der Sache auf den Grund gehen sollten. Denn wie konnten die Mächte es zulassen, dass ein Tier ohne Gedanken durch das Weltenspiel irrte? Was, wenn das Lamm, das offensichtlich entweder nicht wuchs oder eine sonderbare Krankheit mit sich schleppte, unter einem unheilvollen Bann stand, einen, den eine unbekannte Macht oder, die Dunkelheit mochte es verhüten, die goala’ay zu verantworten hatten?
Andererseits war Falgrèd der, der letztlich zu entscheiden hatte. Egal, was der beschloss, egal, was sie taten, es würde am Ende wohl das Schäfchen nicht mehr retten. Denn wenn der Schäfer Idur beschlossen hatte, das erbarmenswerte Geschöpf mit Feuer hinter die Träume zu bringen, würde es ihnen nie im Leben gelingen, noch rechtzeitig zum Etaímalon zurückzukehren und dort Hilfe zu holen. Die ujoray würden mit ihrem Feuerholz schneller sein.
Falgrèd schien ähnliche Gedanken zu haben.
„Kannst du durch die Schatten gehen, Yalomiro?”, fragte er.
Der Junge hob überrascht den Kopf.
„Noch nicht”, gestand er dann.
Aus der Miene des Älteren ging nicht recht hervor, ob er erleichtert darüber war, dass Yalomiro ihm dieses Können noch nicht voraus hatte (was beschämend gewesen wäre) oder ob er es bedauerte, dass dem Lamm auf diese Weise nicht zu helfen war.
„Ich dachte nur”, murmelte er. „Weil doch alle sagen, du seiest so… na ja… mächtig.”
Darauf hatte Yalomiro noch keine Antwort.
„Der, den du vorhin am Waldrand gespürt hast”, fragte Arámaú nachdenklich, „ist der noch da?”
Yalomiro schüttelte den Kopf. „Nein. Ich spüre nichts mehr.”
„Ob es womöglich doch Meister Gíonar gewesen ist, der uns nachgegangen ist?”
„Und wenn?”
„Vielleicht könnte er uns helfen!”
„Wobei?”
Arámaú blieb stehen und warf den Jungen vorwurfsvolle Blicke zu. „Na, wir müssen doch das Lämmchen retten!”
Falgrèd seufzte und ging vor dem kleinen Mädchen in die Hocke. „Arámaú – dem Tier können wir nicht mehr helfen, wie wir es auch drehen und wenden. Die Unkundigen wollen es töten und sie werden es töten.”
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein, sie dürfen es nicht töten!”
„Sie töten immerzu Tiere. Sie essen sie.”
„Das ist auch nicht gut!”
„Aber Menschen brauchen Nahrung, und…”
Arámaú stampfte zornig mit dem Fuß auf. „Nein!”
Yalomiro legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Arámaú, auch der Wolf tötet, um sich zu ernähren. Selbst die kleinen Vögel fressen Würmer und Insekten. Das ist Weltenspiel! Nur weil wir es nicht tun, können wir es ihnen nicht tadeln!”
Sie griff mit ihren kleinen Fingerchen nach ihm. „Aber sie wollen es nicht essen. Sie wollen es tot machen, weil sie es nicht verstehen.”
Yalomiro lächelte müde. „Nicht einmal wir verstehen es.”
„Sie haben Angst davor.”
„Unkundige haben immer Angst.”
„Sie haben auch Angst vor uns!”
Das machte die beiden Jungen nachdenklich. Arámaú verschränkte die Ärmchen.
„Und wenn sie nun eines Tages den Wald anzünden, weil sie Angst vor uns haben und uns nicht los werden? So wie das kleine arme kranke Lämmchen?”
„Das ist albern, Arámaú. Du darfst nicht immer so zaghaft sein! Selbst Meisterin Eketh sagt…”
„Wir nehmen es mit uns”, sagte Yalomiro.
Falgrèd ließ die Schultern sinken und starrte ihn an.
„Es wäre schade, wenn die Unkundigen es töten, bevor die Meister es gesehen haben und womöglich den Bann lösen, der auf dem Tier liegt. Wir nehmen es mit und verstecken es, bis ein Meister da ist.”
Der ältere Junge lachte auf. „Du bist ja närrisch, Yalomiro! Das hieße, sich in Unkundigenwerk einzumischen. Das ist nicht unsere Art.”
„Ich bin überzeugt davon, dass Meister Askýn das Geheimnis gern ergründen würde.”
„Und ich bin überzeugt davon, dass es ganz gewaltigen Ärger geben wird!”
Yalomiro lächelte. „Versuch doch, mich davon abzuhalten!”
Falgrèd ballte unentschlossen die Fäuste.
„Immer willst du deinen Kopf durchsetzen! Ist dir ganz egal, was die Meister davon halten!”
„Ich glaube, dass es in ihrem Interesse ist.”
Arámaú schaute unbehaglich von einem zum anderen. Es gefiel ihr nicht, dass die Jungen nicht einer Meinung waren.
„Vielleicht”, setzte Falgrèd hinzu, „stimmt es, was Meister Gíonar über dich sagt. Du bist hochmütig und anmaßend!”
Yalomiro zuckte zusammen. Was Meister Gíonar von ihm hielt, war ihm bekannt, und zu einem gewissen Maße konnte er die Bedenken des Meisters auch nachvollziehen. Traurig war, dass Falgrèd so sprach.
Aber Meister Gíonar war nicht sein Meister. Und wäre es recht, wenn Meister Askýn die Gelegenheit versagt blieb, ein großes Geheimnis näher zu betrachten? Yalomiro empfand sich selbst nicht als hochmütig, nicht als großspurig. Er wusste, dass er mächtiger war als Falgrèd, als jeder andere Schattensänger seines Alters. Und wenn diese Macht schon einmal da war, was sprach dagegen, sie für etwas den Mächten Gefälliges zu nutzen?
„Willst du das Lämmchen mit in den Wald nehmen?”, fragte Arámaú hoffnungsvoll. „Wir können es gesund pflegen!”
„Nein. Das ist zu gefährlich. Aber wir müssen Zeit gewinnen. Nur einen halben Tag. Wir müssen es verstecken und dafür sorgen, dass es nicht fort läuft.”
Falgrèd senkte die Brauen.
„Meister Askýn wird dich bestrafen!”
„Das riskiere ich.”
Arámaú und Falgrèd schwiegen.
„Ich werde auch die Verantwortung auf mich nehmen. Schaut… einer von uns kehrt, so schnell es geht, zu den Meistern zurück. Das kannst du machen, Falgrèd. Du kannst dort gern von meinem anmaßenden Plan berichten und es den Meistern überlassen, wie sie mich dafür bestrafen. Und ich verstecke derweil das Lämmchen vor den ujoray.”
Nun wurde Falgrèd zögerlich. Als Petze wollte er nicht dastehen.
„Das Lamm hat einen erwachsenen Mann beinahe umgebracht. Wie könntest du es bändigen?”
Yalomiro zuckte die Achseln, riss dann die Hand hoch und sang. „Yal!“
Es war nur ein schwacher Schlag gewesen, nicht mehr als ein Stupser, aber es genügte, um den überraschten Falgrèd von den Füßen zu stoßen. Arámaú zog den Kopf ein, als der Ältere sich wutschnaubend aus dem Gestrüpp am Wegesrand aufrappelte.
Oder es zumindest versuchte. Denn unter Yalomiros leisem Gesang reckten sich Zweige und Wurzeln nach ihm und drückten ihn zu Boden.
Falgrèd schob einen Ast beiseite und schnaubte. Dann sang er seinerseits, und die Gewächse ließen von ihm ab.
Wäre Meister Gíonar in der Nähe gewesen, spätestens jetzt hätte er sich gezeigt, um zu schelten. Ach was, zu schelten – gezüchtigt hätte er die beiden Jungen für die Verwegenheit, mit Magie aufeinander loszugehen. Aber es zeigte sich kein camat’ay-Meister, weder Gíonar noch ein anderer.
Yalomiro hockte sich hin und schaute den Älteren bittend an. „Wenn es gar nicht anders geht, werden mir die Sträucher helfen, es festzuhalten. Du weißt, wie stark die Pflanzen sind.”
Arámaú kniete sich dazu.
„Bitte”, flehte sie. „Um das Lämmchen vor den ujoray zu retten.”
Falgrèd seufzte.
„Aber wenn ich einen Meister bringe und der sagt, es sei besser so, dann werdet ihr gehorchen? Und tun, was immer der Meister entscheidet?”
Yalomiro und Arámaú nickten eifrig. Falgrèd war überstimmt.
„Nun gut”, sagte er und erhob sich. „Wie ihr wollt. Aber lasst uns zuerst hören, was bei den Unkundigen darüber geredet wird.”
„Zu den Unkundigen?”
Falgrèd grinste. „Wollt ihr euch die Gelegenheit entgehen lassen, zu sehen, wie es bei den Unkundigen zugeht?”
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