
Zur Grenze zwischen dem Gebiet der Unkundigen und dem Reich der Schattensänger, war nicht mehr allzu weit. Yalomiro, dem das stinkende, schwammige Schaf auf seinen Schultern immer schwerer wurde, hatte beschlossen, das Tier nur bis dorthin zu bringen, dorthin, wo die Unkundigen ihren Fuß nicht setzen würden; nicht angesichts dessen, was sie gestern Vormittag noch mit ihrem Aranzienbaum erlebt hatten.
Yalomiro stolperte voran und dabei kam ihm der sonderbare Gedanke, ob er eigentlich gerade im Begriff war, etwas Verbotenes zu tun. Die Unkundigen hatten gefrevelt, indem sie ihren Baum in den nachtgeweihten Boden des Boscargén gesetzt hatten, etwas aus ihrer Welt vorsätzlich in die der Schattensänger gebracht hatten und sogar noch den Gedanken dabei gedacht hatten, es weiterhin zu tun. Nun nahm er etwas fort aus der Welt der Unkundigen, etwas, das sich offensichtlich nur dorthin verirrt hatte, woher auch immer es gekommen war. War das ein Diebstahl? Nein, denn das Lamm gehörte den Unkundigen nicht, und sie hatten auch nicht vorgehabt, es zu behalten.
War es recht, dass er dieses seltsame, gefährliche, mit einiger Wahrscheinlichkeit verfluchte Geschöpf zu den camat’ay brachte? Was, wenn das Teil eines Planes, von wem auch immer, vielleicht der goala’ay, war, um den Schattensängern zu schaden?
In den Etaímalon mitnehmen konnte er das Tier nicht, das war klar. Aber schon die Waldgrenze würde ein wenig Sicherheit bedeuten, so lange, bis ein Meister sich die Sachen angesehen hätte. Hätte er die Unkundigen gewähren und das Lamm verbrennen lassen (Yalomiro hatte leise Zweifel daran, dass die Flammen das Tier tatsächlich getötet hätten), womöglich wäre den Meistern auf diese Weise wertvolles Wissen entgangen.
Aber hätten sie ihn dafür getadelt? Und würden nicht – abgesehen von Meister Gíonar, der ohnehin alles, was er, Yalomiro, tat, bedenklich fand – auch andere Meister seine Eigenmächtigkeit verurteilen?
So sann Yalomiro, ohne über seine Schritte nachzudenken, immer der Straße folgend, bis ihm plötzlich ein warmer Dunst entgegen schlug. Im selben Moment glitt ein großer Schatten über ihn hinweg und verdunkelte einen Wimpernschlag lang den Mond.
Yalomiro blieb erstarrt stehen. Vor ihm auf dem Weg, einen Steinwurf entfernt, versperrte ihm ein Reiter den Weg.
„Bleib stehen, Junge!”, hörte er dessen Stimme. „Lauf nicht weg!”
Etwas Schweres setzte hinter dem Schattensängerkind auf dem sandigen Weg auf, ein dumpfes Geräusch, begleitet von metallischem Klirren.
Yalomiro wurde eiskalt, obwohl die Hitze nun auf beiden Seiten waberte. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass der andere arcaval’ay sein Einhorn hinter ihm zu Boden gebracht hatte.
Yalomiro dachte nach. Regenbogenritter – waren sie gefährlich? Machten sie, wie die goala’ay, Jagd auf Schattensänger, nach all dem, was Schwarzgewandete in den magischen Kriegen, insbesondere bei der Schlacht um Aurópéa, angerichtet hatten?
Wohl kaum. Regenbogenritter suchten keine Rache. Sie verachteten.
Yalomiro nahm all seinen Mut zusammen. „Ich habe nichts verbrochen.”
Der hinter ihm lachte. Sein Ross stapfte näher.
„Ein kleiner Viehdieb bist du, Junge. Warum sonst schleppst du in der Nacht Lämmer von der Weide, wenn nicht, um zu stehlen?”
Die Hitze kam näher. Es war die goldene Rüstung des Ritters, das goldbeschlagene Sattelzeug seines Einhorns, das grollend schnaubte und unter dessen Tritten der Boden leicht bebte.
Yalomiro presste die Lippen aufeinander. Ob sie ihn als das erkannt hatten, was er war, als einen Schwarzgewandeten – wenn auch noch einen sehr jungen – einen derer, mit denen sie nie Freundschaft schließen würden, so wie es in den ältesten Tagen war?
Noktáma, große Mutter der Dunkelheit, lass sie nicht erkennen, was ich bin, flehte Yalomiro in Gedanken. Er durfte sich nun von dem Gold nicht bange machen lassen. Es würde ihn verraten.
Mit einem Laut, als stieße Wind in ein großes Segel, breitete das Einhorn des anderen Ritters seine Schwingen aus. Auch er ritt näher heran.
„Gib uns das Lamm, mein Kleiner. Wir können mehr damit beginnen als du”, sagte er.
„Das… das ist mein Lamm! Ich hab es zuerst gehabt!”, entgegnete der Junge.
„Es gehört dir nicht.”
„Es gehört euch ebenso wenig! Es… es geht doch nicht an, dass ihr Herren den Bauern das Vieh entführen wollt!”
Nun lachten beide Ritter. Sie lachten nicht höhnisch oder überlegen, im Gegenteil. Ihr Gelächter klang auf eine sonderbare Weise mild und amüsiert.
Yalomiro fühlte sich, als schöben sich von beiden Seiten glühende Metallplatten auf ihn zu. Er atmete schneller und gab sich alle Mühe, nicht zu wimmern. Wenn er nur lange genug durchhielt, so dachte er sich, würden sie ihn vielleicht für ein Kind der ujoray halten.
„Es gehört mir”, krächzte er.
„Es ist in einem jämmerlichen Zustand.”
Das ließ sich beim besten Willen nicht leugnen. Und sicherlich wussten die Regenbogenritter auch, dass etwas Seltsames mit dem Schäfchen vorging. Er als unkundiger und einfältiger kleiner, unkundiger Hütejunge konnte das jedoch nicht wissen, also behauptete er: „Ja, es ist krank. Ich bringe es beiseite, um es gesund zu pflegen, damit es die Herde nicht ansteckt…”
Wie um seine Worte zu bekräftigen, nieste das Lamm. Das Einhorn tänzelte beiseite, um dem sprühenden Rotz auszuweichen und grollte unwillig.
„Du kannst es nicht gesund machen!” Der Ritter war nun ganz nahe. Das bleiche, alterslose Gesicht unter dem Helm war freundlich. Seine Miene duldete aber keinen Widerspruch.
„Gib es uns”, forderte nun auch der hinter ihm. „Wir wollen nur das Beste.”
Das Lamm strampelte. Yalomiro hob es wieder auf seine Arme. Reste des Fells blieben auf seinen Schultern und an seinem Hemd kleben.
„Hat euch jemand gerufen?”, fragte er dann und legte allen Widerstand in seine Stimme, zu dem er noch fähig war. „Haben die Leute aus dem Dorf euch gesagt, ihr sollt es holen?”
„Sagen wir… wir hörten davon. Und wir kamen, um zu sehen.”
Yalomiro erinnerte sich an Idurs abfällige Rede über die Regenbogenritter. „Aber geholfen habt ihr nicht?”
„Es waren… Dinge abzuwägen.”
Auch Yalomiro wog Gedanken ab, obwohl er die Hitze kaum noch ertrug. Etwas in ihm sträubte sich davor, den Regenbogenrittern das Lamm zu überlassen. Andererseits wurde der Drang, die Flucht zu ergreifen, immer stärker.
Flüchten? Gegen zwei Berittene, deren Rösser nicht nur schneller als ein Pferd rennen, sondern auch noch fliegen konnten?
Das Lamm seufzte schwer. Sein leerer Blick suchte Yalomiros Augen.
Und wenn er sich nun wieder in einen Raben oder eine Katze verwandelte? Vielleicht würde es gelingen, die Reiter im hohen Gras oder im flinken Flug abzuschütteln. Aber dazu musste er das Lamm aufgeben, und das wollte er nicht. Außerdem… das Gold machte ihn so schwach und fiebrig, dass er sich nicht sicher war, überhaupt eine Verwandlung vollziehen zu können. Jedenfalls nicht schnell genug, so dass ihn zuvor einer der beiden Ritter beim Kragen gepackt hätte.
„Ich kann ihm helfen”, wisperte er verstört. „Wir müssen… heilen…”
Der Ritter hinter seinem Rücken antwortete sanft: „Ihr könnt das Weltenspiel nicht nach euren Wünschen zurechtrücken. Es gibt Grenzen, die euersgleichen gesetzt sind, Junge.”
„Ich werde es euch nicht überlassen”, flüsterte Yalomiro.
Der erste Ritter neigte sich zu ihm hinab. Seine gepanzerte Hand war dicht bei Yalomiros Gesicht.
„Nicht”, zischte Yalomiro, und seine Augen glommen auf; ein Reflex, einer, der sich nicht unterdrücken ließ.
Doch der Ritter erschrak nicht. Im Gegenteil: Er lächelte.
„Liegt es denn so sehr in der Natur von deinesgleichen, sich Verdorbenes ins Haus zu holen? Habt ihr denn gar nichts gelernt?”
Yalomiro wurde schwindelig, obgleich er wusste, dass der Ritter ihn nicht berühren würde. Aber die Panik ergriff ihn nun mit Wucht. Und ehe er wusste, was geschah, war er zwischen den beiden Einhörnern hindurch geschlüpft, das unwillig blökende Lamm an sich gepresst, und rannte, rannte, so schnell ihn seine Menschenbeine tragen konnten, weg, querfeldein, weg von der Straße, weg vom Wald, einfach nur fort.
Die Regenbogenritter waren so überrascht, dass sie erst einen Atemzug später zur Verfolgung ansetzten. Die Klauen ihrer Rösser gruben tiefe Furchen in den weichen Boden, wo sie aufsetzten und den Schattensängerjungen durch die Nacht hetzten.
Der Junge hastete um sein Leben, aber der Gedanke, den Reitern davon zu kommen, war lächerlich. Nicht, wenn es ihm nicht gelang, einen Vorsprung zu erhaschen.
Die Einhörner galoppierten mit donnernden Hufen. Die Ritter riefen ihm etwas zu, aber er hörte nicht hin. Stattdessen ergriff ihn, der in Panik vor den Goldgepanzerten floh, eine sonderbare Ruhe, eine Klarheit in seinen gerade noch gehetzten und kleinmütigen Gedanken, die ihn erschreckt hätte, hätte er die Zeit gehabt, darüber nachzudenken.
Direkt vor ihm säumten Trauerweiden das Ufer eines flachen, ruhig dahinplätschernden Bachlaufs, der die Wiese durchteilte. Yalomiro sah die Bäume und das, was sich in ihm ausstreckte, machtvoll und gut, wusste, was zu tun war. Yalomiro sang, obwohl er allen Atem zum Rennen gebraucht hätte. Helft mir!
Er huschte zwischen den lang herabhängenden Zweigen hindurch, die die Wasserfläche berührten und sprang in den Bach, fast, dass er den Atem der Einhörner in seinem Nacken spürte.
Und er rannte, rannte, ohne sich umzusehen, ohne sich zu vergewissern, warum die Einhörner plötzlich markerschütternd röhrten und ihre Reiter in ihrer eigenartigen, eigenen Sprache überrascht aufschrien und schimpften, ohne sich nach dem Geschepper, Geraschel und Gestampfe umzudrehen, nachdem die Weiden die Einhörner mit ihren Zweigen eingefangen hatten und die Tiere sich für einen Moment mitsamt ihren Reitern darin verstrickten.
Nicht lange, denn gegen die Kraft der Einhörner und die Schwerter der Ritter konnten die Weiden nichts ausrichten.
Aber doch lange genug, um Yalomiro auf die andere Seite des Baches zu bringen und ein kleines Stück Weges voran.
***
Yalomiro hatte nicht bewusst darüber nachgedacht, aber es war instinktiv das Sinnvollste, was er in seiner Situation tun konnte: Er war, Hals über Kopf, in den nächsten Obstgarten geflohen. Eine Plantage junger Limjenenbäume war es, zwischen denen sich hier und da Beerensträucher ausgebreitet hatten, die die Unkundigen wild wachsen ließen.
Yalomiro lag mit dem Lamm unter einem davon und hielt dem Tier mit der Hand die schmierige Schnauze zu, um es am Blöken zu hindern. Die Regenbogenritter suchten nach ihm, er hörte, wie sie durch den dunklen Obstgarten irrten. Ihre Rüstungen klangen und verrieten dem jungen Schattensänger, ob sie sich näherten oder entfernten.
In den Garten hatten sie im mit ihren Einhörnern nicht folgen können; die Rösser waren zu groß, um zwischen den Bäumen umhergehen zu können. Aber wenn er sich nun regte oder das Lamm lärmte, dann würden sie ihn finden.
Bitte, Noktáma, flehte er, lass sie mich nicht finden!
„Was wächst dort im Boscargén heran”, hörte er den einen der Ritter halblaut zu seinem Gefährten sagen. „Wie mächtig muss dieser Lausebengel sein, um so etwas zu vollbringen!”
„Wir müssen der Herrin und Meister Celú davon berichten”, stimmte der andere zu. „Nicht auszudenken, wenn das Bürschchen so weiter macht und auf falsche Gedanken kommt!”
Bei den Mächten, das klang wie die Rede von Meister Gíonar! Obgleich es Yalomiro mit Stolz erfüllte, dass es ihm gelungen war, die Ritter zu beeindrucken, bedrückte ihn doch, dass es offenbar niemandem zu gefallen schien, dass er mit seinem Können anderen voraus war. Mit Neid, wie er ab und zu bei Falgrèd hervorblitzte, konnte Yalomiro leben. Aber er hatte nie beabsichtigt, dass andere sich durch sein Können beunruhigt fühlten.
„Wieso, bei allen guten Mächten, interessieren sich die Schwarzgewandeten so sehr für dieses bemitleidenswerte Geschöpf, das die Unkundigen in Gefahr bringt?”
„Du hast doch ihren Großmeister gehört. Sie wollen nichts vorschnell verloren geben.”
„Diese Einstellung hat ihnen nur Unheil gebracht! Wenn sie die Unkundigen wirklich beschützen wollten, müssten sie ausmerzen, was Gefahr in sich birgt.”
Yalomiro lauschte betroffen. Bedeutete das, dass auch Regenbogenritter töteten, was ihnen missfiel? Oder was sie nicht verstanden? Waren die Regenbogenritter den Unkundigen so ähnlich?
„Was erwartest du, nach allem was geschehen ist? Nachdem sie sich verkrochen haben und die Taten ihrer Abtrünnigen am liebsten vertuschen würden? Nachdem sie so viel Unheil über das Weltenspiel gebracht haben?”
„Ja, aber schon Kinder erziehen sie in diesem Geiste? Bilden sie sich wirklich ein, etwas Verfluchtes retten zu können?”
„Du hast den Großmeister gehört. Ja. So närrisch sind sie. Und das macht sie nicht ungefährlicher.”
Ihre Stimmen wurden etwas leiser. Offenbar suchten sie nun in einer anderen Richtung. Yalomiro wagte es, sich ein wenig zu regen. Das stinkende Tier an seiner Seite schnappte wütend nach seinen Fingern, doch er gab die Schnauze nicht frei.
So. Sie hatten also mit Meister Askýn gesprochen, vielleicht sogar gewusst, dass drei Schattensängerkinder ausgezogen waren, das Lamm zu begutachten. Und offenbar hatte er Meister Askyns Wunsch, das Lamm genau auf Flüche und dergleichen zu untersuchen, richtig eingeschätzt und erraten. Das erleichterte ihn ein wenig.
Aber die schlechte Meinung, die die Regenbogenritter über die Schattensänger hatten, die kränkte ihn, wenn er auch gut nachvollziehen konnte, was die Hintergründe waren. Jedes kleine Schattensängerkind lernte die Geschichten über Ovidáol Etaímalar und den Namenlosen, den Schwarzen Meister. Zwei Schattensänger, die aus dem Kreis ausgebrochen waren und Schande über sie gebracht hatten; ausgestoßen aus der Gemeinschaft und im Rausch ihrer Macht dem Wahnsinn anheimgefallen. Ovidáol hatte Chaosgeister beschworen und das Weltenspiel mit einem schrecklichen Krieg ins Unheil gestürzt; am Ende waren durch seine Hand die fayaraé, [~ Feen] die Herrinnen der Regenbogenritter gefallen – alle, bis auf eine, die hohe Herrin Elosal, die nun an der Seite des Großmeisters Celú die Unkundigen in Aurópéa beschützte. Und der andere, der Namenlose – nun, der hatte versucht, Ovidáol die Macht zu entreißen. Seiher war er verschollen. Doch das war lange her. Sicherlich war auch der Schwarze Meister längst hinter den Träumen, wo immer er sich versteckt gehalten haben mochte.
Wie auch immer –lange konnte Yalomiro sich hier nicht verstecken. Die Ritter waren nun weit genug weg. Wenn er sehr leise war, konnte er womöglich davon kommen.
Der Junge klemmte sich das Lamm zwischen die Beine, die klebrige Schnauze immer noch fest mit der Hand umklammert, und kroch auf allen Vieren unter dem Busch hervor in die Deckung des nächsten. Die Blätter waren ihm wohlgesonnen und raschelten kaum, gaben ihm Deckung und taten ihr Bestes, um den Jungen zu verbergen.
Endlich wagte er es, sich aufzurichten, geduckt zu gehen und dann schließlich flink und lautlos wie ein Reh durch die Schatten der Birnbäume zu gleiten, bis er an das entgegen gesetzte Ende des Gartens kam, wo er die Ritter nicht mehr hörte.
Der Junge kletterte, das Tier unter dem Arm, über ein niedriges Gatter und stand wieder auf einer Weide, auf der nahebei ein paar Kühe ruhten. Im Norden flackerte Feuerschimmer über den Baumkronen. Das Phantomschaf brannte.
Fort. Er musste fort. Arámaú konnte nun, ohne in Gefahr zu geraten, zu ihm aufschließen.
Arámaú, rief er sie. Komm. Wir können fort.
Eine Weile lang war es still. Weder die Laute nächtlicher Tiere noch die Geräusche der suchenden Ritter störten die Ruhe. Und auch von Arámaú kam keine Antwort.
„Wieso gibst du den Rittern das Lamm nicht?”, fragte der báchorkor.
Yalomiro zuckte so erschrocken zusammen, dass ihm das Schaf entglitt. Das Tier fiel schlaff zu Boden und machte keine Anstalten, sich aufzurappeln. Stattdessen schnaufte es böse.
„Wo kommst du her?”, fragte Yalomiro verwirrt.
Der báchorkor deutete in Richtung Straße. „Aus dem Dorf.”
Der Junge senkte misstrauisch die Brauen. Nein, mit diesem seltsamen Mann stimmte irgendetwas nicht. Immer noch war kein einziger Gedanke zu hören, aber im Gegensatz zu dem leeren Schaf war es nicht so, als hätte er keine. Es war einfach so, als habe der báchorkor beschlossen, zu schweigen.
„Ich kann es ihnen nicht geben. Es gehört ihnen nicht”, sagte er dann vage.
„Aber dir gehört es? Den camat’ay gehört es?”
„Wir… meinesgleichen können es vielleicht heilen. Und herausfinden, ob es noch mehr mit dieser Krankheit gibt.”
„Gibt es nicht. Dieses hier ist das einzige, das unter dieser… Krankheit leidet.”
„Woher willst du das wissen?”
Der báchorkor lachte leise. „Ich bin weit gereist. Und ich habe viel Krankes gesehen im Weltenspiel.”
Yalomiro ließ die Schultern hängen. „Wie dem auch sei… mein Meister ist der mächtigste Schattensänger unter diesem Mond. Wenn man dem Schäfchen helfen kann, dann…”
„Dem Tier kann geholfen werden. Aber du kannst es nicht.”
Der Junge zögerte. „Warum nicht?”, fragte er dann vorsichtig.
Der báchorkor kam näher. Seine zusammengesuchte Kleidung schlotterte an seinem Körper. Er wirkte abgerissen und erbärmlich, aber es war etwas in der Art, wie er sich bewegte, wie er redete und seine Gedanken still hielt, das Yalomiro irritierte.
„Weil ich es tun werde”, sagte er dann sanft. „Weil ich die Tollheit und Sieche beenden werde, die das kleine Kerlchen hier erfasst hat.”
„Aber…”
„Still. Die Ritter sind noch in der Nähe, junger Schattensänger. Und ich werde dich auch nicht bitten, es mir auszuhändigen. Ich bitte dich nur, es selbst entscheiden zu lassen. Klingt das gerecht?”
Natürlich tat es das. Es klang gerechter als die ujoray, die es umbringen, als die Regenbogenritter, die es rauben wollten. Yalomiro trat einige Schritte beiseite, so dass das Lamm genau in der Mitte zwischen ihm und dem báchorkor lag. Der hockte sich hin und streckte sacht die Hand nach dem Tier aus. Yalomiro tat es ihm nach.
Das Lamm bewegte sich träge, blickte von einem zum anderen. Und obwohl keiner von ihnen sprach, schien der báchorkor seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Stöhnend rappelte es sich auf und stelzte, mit steifen Beinen, auf den Erwachsenen zu. Und je näher es ihm kam, desto graziler wurden seine Bewegungen. Am Ende tat es sogar ein, zwei zierliche Sprünge und wedelte mit seinem zerfetzen Schwänzchen.
Der junge Mann lächelte, nahm es ohne Ekel auf den Arm und streichelte es. Mit großen Augen beobachte Yalomiro, wie das Tier sich an die Brust des Mannes kuschelte, die blicklosen Augen schloss und einen tiefen Seufzer ausstieß.
„Ad’ree“, flüsterte der báchorkor und hauchte dem Böckchen einen Kuss zwischen seine winzigen Hörner.
Yalomiro wartete.
„Und wird es nun gesund?”, fragte er dann.
„Nein. Aber es ist nicht mehr krank.”
Der Schattensängerjunge verstand. Entsetzen erfasste ihn.
„Du hast es getötet”, stieß er hervor.
„Ich weiß nicht, ob ich das war”, sagte der báchorkor und kam auf das Kind zu. Der Lämmerkörper in seinen Armen war nun ganz schlaff und leblos.
Yalomiro wich gegen den Zaun zurück. „Aber… wie…”
Der báchorkor lächelte. Er hielt Yalomiro den Kadaver hin. Wie betäubt griff der Knabe zu.
„Es ist einfach gestorben. Ich habe ihm kein Leid angetan. Aber sei gewiss, es lag ein Fluch auf ihm, den deinesgleichen nicht hätte brechen können.”
Yalomiro starrte ihn wortlos an.
Der báchorkor neigte grüßend den Kopf und wandte sich dann ab.
„Warte!”, rief Yalomiro. „Was… ich verstehe das nicht!”
„Dann lass es dir von deinem Meister erklären. Und ruf deine kleine Schwester herbei. Sie sollte nicht zu lange auf dem Dorfplatz schlafen.”
Er öffnete eine Tür im Gartenzaun und verschwand zwischen den Bäumen. Yalomiro starrte ihm nach und wusste ganz genau, dass er ihm nicht folgen durfte.
„Aber wohin gehst du?”, rief er ihm nach.
„Ich muss weiter”, antwortete es aus dem Dunkel. „Ich… nun, ich suche jemanden. Lebewohl, junger Schattensänger. Ich denke, wir werden einander irgendwann einmal erneut begegnen.”
Yalomiro stand da, das Lamm in den Armen, und starrte betäubt in den finsteren Garten. Kaum, dass der báchorkor verschwunden war, begann in den Zweigen der erste Morgenvogel zu singen.
Yalomiro fühlte sich unwirklich, verwirrt, wie in einem Traum. Weder konnte er sich erklären, wo dieser seltsame Mann so unerwartet hergekommen war, noch wieso das Lamm, um dessen Überleben er all die Zeit so gekämpft hatte, ausgerechnet in dem Moment gestorben war, in dem er es berührt hatte. Seine Gedanken kreisten orientierungslos in seinem Kopf; und er fühlte sich mit einem Mal sehr müde.
Und im selben Moment packte ihn jemand von hinten an der Schulter.
„Da bist du ja!”, herrschte der gelbe Regenbogenritter ihn an und zerrte ihn herum. Yalomiro schrie erschrocken auf. In dem Moment, als die Hand des Ritters seine maghiscal streifte, entlud sich knisternd ein wenig Magie.
„Was fällt dir ein, davon zu laufen?”, schimpfte der Ritter. „Und was hast du nun wieder mit dem Lamm angestellt?”
„Gar nichts!”, rief Yalomiro entsetzt aus. „Lasst mich los!”
„Damit du wieder davon läufst?” Der Regenbogenritter griff nur noch fester zu und schüttelte den Jungen. Er stand in seinen strahlend farbigen Untergewändern vor dem Kind, hatte wohl in aller Eile alle metallenen Rüstungsteile abgelegt, um sich unbemerkt anpirschen zu können. Der andere, goldgepanzert und bewaffnet, näherte sich nun wieder, hoch zu Ross, wie ein fernes Feuer. Es gab kein Entkommen.
„Willst du uns wohl nun das Lamm geben?”, forderte der gelbe Ritter streng.
Yalomiro wand sich unter der hellen Magie, die schmerzhafter war als das Gold, denn die übermächtige maghiscal des Ritters krallte sich in seine kindliche und störte diese auf, so als rüttle man Erbsen in einem becher. Es war unmöglich, einen Schild zu erschaffen, der ihm den erwachsenen Magier vom Hals hielt.
„Nehmt es euch”, wimmerte der Junge. „Nehmt es weg…”
Er hob dem Ritter das Lamm entgegen, und der griff es bei einem seiner Beinchen und hielt es triumphierend in die Höhe, so dass sein Gefährte sehen konnte, was er erbeutet hatte.
Doch dann verengten sich seine goldschimmernden Augen und er betrachtete seinen Schatz genauer.
„Wo ist das richtige Lamm?”, zischte er dann.
Yalomiro riss sich los und kauerte sich, den Zaun im Rücken, zusammen. „Wie bitte?”, stotterte er verständnislos.
Der Ritter hielt ihm den Kadaver vor die Nase. „Wo du das richtige Schaf versteckt hast, will ich wissen! Wo du das hier so schnell hergenommen hast interessiert mich nicht!”
Yalomiro blinzelte verstört und erkannte dann, was der Ritter meinte.
Das Lamm, das da am rechten Hinterlauf vor seinem Gesicht in der schneeweißen Hand des Ritters baumelte, war zwar tot. Aber es sah so jammervoll und traurig aus, wie ein totes Lämmchen nur aussehen konnte, mit duftiger, glänzender Wolle, allerliebsten zierlichen Klauen und Äuglein, die klarer waren als ein See unter dem Sternenschein, wenn sie auch in ihrer Todesstarre gebrochen dreinschauten.
Der andere Ritter war nun bei ihnen und fühlte sich an wie ein großer Feuerstoß. Er schien nicht minder verblüfft zu sein wie sein Kamerad.
„Das”, flüsterte Yalomiro, „ist das selbe Lamm.”
Die Ritter schwiegen ihn an, und aus ihren Augen sprach zornige Verwirrung. Offenbar glaubten sie, man habe ihnen einen üblen Streich gespielt und sie betrogen.
„Was ist das für ein Blendwerk?”, fragte der Gepanzerte dann, sehr langsam und drohend. „Was für einen frevelhaften Zauber lehren sie euch, da draußen im Wald?”
Yalomiro zitterte. Es war ihm rätselhaft, wie die Verwandlung des Schafes vonstattengegangen war. Er jedenfalls hatte nichts damit zu tun. Aber sollte er den Regenbogenrittern von dem báchorkor erzählen? Kein Wort würden sie ihm glauben! Und selbst wenn… was würden sie mit ihm machen? Würden sie ihn einfach so gehen lassen? Konnten sie ihn gehen lassen?
Yalomiro begriff, dass dieser Vorfall weitreichende Folgen für den verbitterten Frieden haben konnte, den die Regenbogenritter mit den Schattensängern hielten. War es den Rittern zu verdenken, dass sie sich getäuscht und betrogen fühlten, da, wo sie offenbar sogar den Rat der Meister gesucht und all ihre Pläne nun von einem kleinen Jungen durchkreuzt fanden, der keine Ahnung hatte, was überhaupt passiert war?
„Bitte”, wisperte Yalomiro, „ich weiß es doch nicht…”
„Hast du getan? Ist das dein Zauberwerk?”
Sollte er die Wahrheit sagen, der sie nicht glauben würden, die sie für eine billige Ausrede halten mussten? Oder sollte er lügen und eine Tat auf sich nehmen, deren wie und wieso er nicht verstand? Sollte er sie darin bestätigen, dass er, nun… auf eine rätselhafte Weise mächtig war?
Würden sie einem Knaben in seinem Alter abnehmen, dass er bereits den Blick beherrschte und nicht zögerte, ihn zu benutzen, wenn er sich angegriffen fühlte?
Lächerlich. Der tödliche Blick war kein Zauber, der sich erlernen ließ. Erwachsene camat’ay hatten diese Gabe einfach. Schattensänger waren tatsächlich in der Lage, buchstäblich mit ihren Blicken zu töten. Und sie entsetzten sich so sehr vor dieser ihnen ungewollt zugeteilten Magie, dass sie geschworen hatten, sie niemals einzusetzen.
Ein metallisch schabendes Geräusch schreckte den Jungen auf. Der himmelblaue Ritter hatte sein Schwert gezogen und schwang sich aus dem Sattel. Schritt für Schritt kam er auf Yalomiro zu.
Der Junge war zu entsetzt, um zu schreien. Nur ein ersticktes Geräusch gab er von sich, als der Ritter weit ausholte und mit seiner Klinge zuhieb. Und dem Lämmerkadaver den Kopf abschlug.
„Sicher ist sicher”, sagte er dann und strich sein goldenes Schwert am Gras sauber.
Yalomiro hockte, kreidebleich und am ganzen Körper zitternd da und brachte keinen Laut hervor.
Beide Ritter schauten ihn an, misstrauisch, abschätzig. Offenbar waren sie sich nicht sicher, ob sie vielleicht bei der Gelegenheit auch ihm den Garaus machen sollten.
„Nehmen wir ihn mit?”, fragte der Gelbe den Blauen. „Sollen sich die Herrin und der Großmeister um die Sache kümmern?”
„Wir können den Schattensängern nicht ihre Brut entführen”, gab der Blaue zu bedenken. „Willst du den Schwarzgewandeten einen Grund geben, Unfrieden zu suchen?”
„Haben sie uns hiermit nicht genug Grund gegeben, an ihrer Wahrhaftigkeit zu zweifeln?”
„Nehmen wir ihn mit in den Wald und stellen wir seinen Meister zur Rede!”
„Bitte nicht”, wisperte Yalomiro erschrocken. „Mein Meister hat mit alledem nichts zu tun…”
„Dann gibst du zu, dass dies dein Werk war?”
„Ja. Nein! Nicht so, wie es aussieht, es…”
„Schweig! Keine Ausreden! Es ist genug!”
Der Blaue hob sein Schwert. Yalomiro wimmerte auf.
Jemand räusperte sich. Und hinter dem Zaun kamen Schritte näher.
Die Regenbogenritter wichen ein wenig zurück. Yalomiro wagte nicht, zu atmen. War der báchorkor zurückgekehrt, um ihm aus seiner Not zu helfen?
„Wir bedauern außerordentlich”, sagte Meister Gíonar und seine Gestalt schälte sich aus den Schatten der Limjenenbäume hervor, „dass der Junge euch Unannehmlichkeiten gemacht hat. Großmeister Askýn lässt ausrichten, dass er sich für alle Ungezogenheiten, die dieser hier begangen hat, ausdrücklich und demütig bei euresgleichen entschuldigt. Der Bengel wird streng bestraft werden.”
Yalomiro wünschte sich, der Boden möge sich auftun und ihn verschlingen. Welche Schande! Der Großmeister erniedrigte sich seinetwegen vor den Hellen Magiern.
„Ist Euch bewusst”, fragte der Gelbe, dem es sichtlich unangenehm war, ungerüstet vor dem Schattensängermeister zu stehen, „dass der Junge hier sich an verbotener Magie versucht?”
„Nein”, sagte Meister Gíonar ruhig. „Wir sind zwar allerlei Eigenmächtigkeiten und Ungeheuerlichkeiten von ihm gewohnt. Aber ich halte es für absolut ausgeschlossen, dass ihm hier überhaupt so recht klar war, was es mit dem verfluchten Lamm auf sich hatte, so wie unsere Meisterin und ihr Schüler es sahen. Geschweige denn, dass er selbst mit verbotener Magie daran herum gepfuscht hat.”
„Dann seht selbst”, forderte der Blaue und deute mit dem Schwert auf das geköpfte Schaf.
Meister Gíonar durchschritt selbstbewusst das Gatter, ohne Yalomiro eines Blickes zu würdigen, und betrachte das Tier einen Augenblick lang mit geringem Interesse.
„Ist es denn so unwahrscheinlich”, fragte er dann, „dass es der Tod selbst war, der den Fluch von dieser armen kleinen Kreatur nahm, und sie dabei in den Zustand versetzte, in dem sie sich befand, bevor der frevelhafte Zauber sie ergriff?”
„Möglich wäre das. Aber antwortet uns, Meister, wie kann es nur sein, dass ein derartiger Fluch überhaupt auf ein Tier kam?”
„Hätte er besser einen Menschen ergriffen, edle Herren?”
„Ihr wisst, wie wir das meinen, Meister. Es… was immer es war, das dieses Lamm verfluchte – es war, nun… es war Magie eines Verstoßenen.”
Meister Gíonar lachte höflich, klang aber kein bisschen belustigt dabei. „Goala’ay-Magie, ihr Herren? Möglich… und doch sehr unwahrscheinlich.”
„Nun, offensichtlich hatte irgendetwas das Tier auf eine äußerst stümperhafte Weise unsterblich gemacht.”
„Das sehe ich nicht. Es ist tot.”
„Es war die ganze Zeit tot. Und doch ging es unter den Unkundigen einher, offensichtlich in die Tollheit getrieben, unfähig, zu sterben, was ihm auch zustieß.”
Yalomiro hörte mit großen Augen zu. Ihm wurde übel bei dem, was er verstand.
„Ich denke, ihr Herren”, sagte Meister Gíonar, „dass da wohl vor langer Zeit jemand sehr ungeschickt mit etwas experimentiert hat, das womöglich auf goala’ay-Magie gründete. Ich selbst kann mir nicht vorstellen, dass es auch nur einen Lichtwächter im Weltenspiel gab, dem ein solches Ungeschick, eine solche Lächerlichkeit wie ein unsterbliches, vielleicht gar den Träumen entrissenes Tier gelungen sein soll. Nein, ihr Herren – es war entweder ein Missgeschick, das auf irgendwelchen uns ganz und gar unvorstellbaren Wegen durch rätselhafte Umstände und ungezielt geschehen ist. Oder jemand hat mit fremder Magie gespielt. Und das, ihr Herren, war auf keinen Fall dieser kleine Unglücksrabe hier.”
„Und wieso ist das Tier ausgerechnet nun doch gestorben, als er es geraubt hat?”
„Hast du ein offensichtlich verfluchtes Geschöpf entwenden und zu uns in den Boscargén bringen wollen, Yalomiro?”
Zögern und leugnen war zwecklos.
„Ja”, murmelte der Junge.
„Um uns alle in eine unbekannte Gefahr zu stürzen?”
„Nein. Um… um herauszufinden, ob man ihm helfen kann. Und damit die Unkundigen es nicht umbringen. Ich… ich hab doch nicht gewusst, dass es unsterblich war.” Er hob den Kopf und sagte erschrocken: „Bei den Mächten! Heißt das, es hätte sogar die Flammen überlebt und sei dabei womöglich doch verbrannt?”
Meister Gíonar zuckte die Achseln und wandte sich wieder den Rittern zu.
„Hört ihr seine Worte, ihr Herren? Mitleid war es, törichtes und kurzsichtiges kindliches Mitgefühl mit etwas, das in seinen Augen unschuldig an dem war, was es verübte. Er hat einfach nicht nachgedacht und hielt sich für überklug mit seinen kleinen Zauberkräften.”
Die Ritter waren noch nicht ganz überzeugt. Aber der Blaue steckte sein Schwert ein.
„Und doch… es starb in seiner Gegenwart.”
„Das wird purer Zufall gewesen sein. Schattensänger, ihr Herren, zumindest jene, die dem Kreis angehören und im Etaímalon unter dem Großmeister wirken, töten nicht. Das wisst ihr, und wir halten uns an dieses Gebot.”
„Das haben wir gesehen”, knurrte der Gelbe.
Meister Gíonars Augen flammten auf. Der Ritter murmelte etwas und hob beschwichtigend die Hand.
„Vielleicht”, fuhr Meister Gíonar fort, „war es ganz schlicht die Magie unseres jungen Schülers hier, die den Bann irgendwie ins Ungleichgewicht gebracht hat. Immerhin hat er das Tier eine ganze Weile an seiner maghiscal getragen. Ich denke, es wird uns noch gelingen, dieses Rätsel zu lösen, wenn wir uns eingehend mit dem hier beschäftigt haben.”
Yalomiro schlug schuldbewusst den Blick nieder.
„Ihr meint, dass vielleicht Zauber, die er gewirkt hat, den Bann des Lamms gebrochen haben? So wie ein Steinwurf ein Glas brechen kann, dass er nur streift?”
„Vielleicht. Vielleicht geschah es schon bei dem Trugzauber, mit dem er die Unkundigen täuschen wollte, die dort hinten gespannt warten, dass ihre Scheiterhaufen abbrennen mögen und die Vernichtung des Untieres feiern. Oder es war der amüsante Bann gegen die Bäume am Bach, der selbst euch edle Herren kurzzeitig zu Fall brachte.”
Yalomiro grauste es. Woher wusste Meister Gíonar davon?
„Ihr habt recht”, sagte der Gelbe reserviert. „Es ist unwahrscheinlich, dass ein Knabe, der so mächtig ist, dass es ihm im Vorbeirennen gelingt, Bäume zu beschwören, es nötig hätte, mit fremder Magie herumzupfuschen.”
„Dann sind Eure ungerechtfertigten Zweifel beigelegt?”
Die Ritter wechselten stumme Blicke miteinander. Dann verneigten sie sich, und der Blaue stieg wieder auf, während der andere sich aufmachte, um seine Rüstung zu suchen.
Kurz darauf erhoben sich beide Einhörner über den Obstgärten in den Himmel, an dem die Morgendämmerung aufzog.
Yalomiro wagte eine ganze Weile nicht, zu reden. Doch dann hielt er es nicht mehr aus.
„Wie lange habt Ihr uns beobachtet?”, fragte er kleinlaut.
„Seit ihr den Etaímalon verlassen habt. Ich habe alles gesehen, Yalomiro Lagoscyre, von der kindischen Mutprobe mit der verbotenen Münze bis hin zu eurem völlig unsinnigen Ausflug ins Dorf der Unkundigen. Zu diesem Zeitpunkt wurde es etwas schwierig für mich, euch im Auge zu behalten, da ich mich bei aller Magie nicht dreiteilen kann.”
Der Junge sank in sich zusammen. Das alles würde sicher nicht angenehm werden.
„Arámaú!”, rief Meister Gíonar. „Du kannst kommen.”
Einen Steinwurf entfernt raschelte es in einem Busch. Das kleine Mädchen arbeitete sich hervor und kam mit gesenktem Kopf eilig zu ihrem Meister gelaufen. Es gähnte und rieb sich die müde die Augen.
„Ich habe sie schlafend bei den ujoray gefunden”, fuhr Meister Gíonar fort. „Völlig allein und schutzlos. Es hat mich ein wenig aufgehalten, sie hierher zu bringen und rechtzeitig wieder hier zu sein und durch die Schatten zu hetzen, nachdem du nach ihr riefst und ich nicht spürte, dass sie erwachte.”
„Meister Gíonar hat mich durch die Schatten hergetragen”, berichtete Arámaú schläfrig.
„Es tut mir leid”, sagte Yalomiro zerknirscht. Arámaú fasste tröstend nach seiner Hand. Dann erblickte sie das entzweigeschlagene Schaf im Gras. Ihr Gesicht verdunkelte sich.
„Habt Ihr den báchorkor gesehen?”, fragte Yalomiro zaghaft.
„Den Geschichtenerzähler im Dorf? Ja.”
Yalomiro schöpfte Hoffnung, aber Meister Gíonar redete schon weiter. „Aber ich hatte keine Zeit, mir alberne Märchen anzuhören, da es ja zu verhindern galt, dass ein gewisser anmaßender Schüler sich von verängstigen Unkundigen beim Diebstahl eines Ungeheuers erwischen lässt!”
Der Junge wollte etwas sagen, aber er besann sich eines Besseren. Meister Gíonar hatte das unheimliche Auftauchen des jungen Mannes also nicht miterlebt. Es hatte keinen Sinn, Dinge erklären zu wollen, die der Meister nicht selbst gesehen hatte. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt.
„Kommt”, sagte Meister Gíonar und sang einen kleinen Zauber über das tote Lamm. Ranken und Gestrüpp ringsum erhoben sich, umschlossen den kleinen Körper und zogen ihn zu sich, hinab in ein kleines Grab unter dem duftenden Gras, wo es nun endlich ausruhen konnte. „Falgrèd wird auf uns warten. Sein Rabenzauber war vorzüglich, aber ich hielt es für besser, ihn zurück zu rufen. Ich wusste schließlich bereits, was geschehen war.”
Er nahm Arámaú bei der Hand und ging. Yalomiro blieb noch einen Augenblick müde im Gras sitzen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
Dann stand er auf und folgte den beiden, ohne auch nur ein Wort zu sprechen.
Zurück in den Boscargén. Dorthin, wo es keine Monster gab und keine fremde Magie.
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