
Jóndere Moréaval holte noch einmal mit seiner Axt aus. Die Tür war zerhauen und blankes Holz splitterte so sehr, dass die halbe Treppe schon von Spänen bedeckt war. Aber sie gab und gab nicht nach.
„Lass nicht nach”, bat seine yarlara. „Bitte, Jóndere! Bitte mach weiter!”
Weiter? Natürlich würde er weiter zuhauen, bis ans Ende des Weltenspiels würde er zuhauen, und nichts würde ihn davon abhalten können. Seine Hände waren bereits wund und blutig und sein Schweiß hatte alles, was zuvor an Wasser seine Gewänder getränkt hatte, daraus hinaus gedrückt. Tíjnje! Seine süße geliebte kleine Tíjnje! Er würde so lange die Tür zerhacken, bis er selbst tot umfiel vor Erschöpfung, wenn es denn sein musste.
Er trat einen Schritt zurück, warf der widerspenstigen Tür einen hasserfüllten Blick zu, hob die Axt über seinen Kopf und stürzte mit einem letzten sinnlosen, halb wahnsinnigen Brüllen darauf ein.
Das Axtblatt fuhr durch die Tür hindurch wie durch einen seidenen Vorhang. Nein, keine Seide – es war Licht, kaltsilbernes Licht, und dann klang Metall auf Metall. Jóndere Moréaval fühlte sich von den Füßen gestoßen und rücklings hinaus auf den Treppenabsatz geworfen. Seine hýardora stieß einen überraschten Schrei aus und dann war Andriér Altabete über ihm, seinerseits eine Axt in Händen, offensichtlich halb zu Tode erschrocken stolperte er durch Licht und Nebel und über Moréaval hinweg, schlug der Länge nach hin. Die Axt, mit der er die Tür angegriffen hatte, entglitt ihm und klirrte die Treppenstufen hinab, ein seltsamer Klang in der Stille, die sich ausbreitete.
***
Waýreth Althopian schrak auf wie aus einer tiefen Ohnmacht oder einem besinnungslosen Rausch, so plötzlich, als habe ihm jemand einen Eimer eisiges Wasser über den Kopf geschüttet. Noch bevor er recht zur Besinnung kam, packten ihn neuer Schrecken. Viel zu viel Schwung hatte er, konnte nicht mehr innehalten, und das Blatt seiner Axt fuhr mitten durch die Tür und das Holz zerbarst in Splitter und silberne Glutfunken, die aufstoben und ihm wie Ascheflöckchen entgegen wirbelten.
Im selben Moment krachte etwas unten im Turm, und ein vergleichbarer Wirbel von Silberflimmer, der sich bleigrau färbte, wirbelte im Inneren zu ihm hinauf und zog durch das Loch im Dach ab. Stimmengewirr begleitete dies, und eine gellende Kinderstimme schallte empor.
„Papa!”, jubelte die kleine Tíjnje Moréaval überglücklich. „Papa!”
Althopian zog die Axt an sich heran. Die Überreste der Tür zerbröselten wie mürbes Papier. Der Ritter zögerte kurz und wedelte dann mit der Hand den Staub fort. Dumpf, unwirklich klangen die Stimmen der anderen Männer und Kinder, die der teiranda zu ihm empor. Aber die interessierten ihn nicht. Er wagte kaum, zu hoffen.
„Merrit?”, wisperte er mit banger Stimme und trat ein.
Letzte Fetzen des glimmenden Nebels verflüchtigten sich, gerade noch hell genug, um das Turmzimmer des Rotgewandeten zu erhellen. Durch das zerstörte Dach fiel mildes Mondlicht nieder, genau auf den großen Tisch im Zentrum der Stube. Darauf lagen sie, reglos und wild über- und beieinander, so als hätten sie einander umarmt und hielten sich bei den Händen.
Der Ritter neigte sich zaghaft über die Kinder. Was war mit Merrit geschehen? Wie nach einer üblen Rauferei sah er aus, blutig und zerschrammt im Gesicht. Aber … er atmete. Althopian schloß die Augen und pries die Gnade der Mächte.
Die teirandanja regte sich und stöhnte schmerzhaft. Der Sohn von Alsgör Emberbey blinzelte zur geborstenen Decke empor. Seine Brille baumelte an seinem Ohr.
„Vater”, murmelte Merrit. „Vater?”
„Althopian!”, rief jemand von unten, die Stimme seines Herrn, des teirand. Aber wie unwichtig war das nun. „Seid Ihr hier? Seid Ihr oben?”
„Merrit!” Der Ritter strich, mit fest pochendem Herzen, dem Jungen das verschwitze Haar aus der Stirn. „Du … bist zurück.”
„Ich lass dich doch nicht allein, Vater”, flüsterte der Junge fiebrig. Althopian schluchzte erlöst auf. Er riss ihn an sich und drückte ihn an sein Herz.
Die teirandanja jedoch erkannte die Stimme ihres Vaters unten im Turm. „Papa!”
Aus dem Stimmengewirr löste sich der erleichterte Aufschrei einer Dame. Manjév von Wijdlant und Spagor strampelte sich unsanft unter Osse Emberbey frei, sprang vom Tisch herab, geriet ins Taumeln, fing sich wieder und rannte hinaus, ohne Althopian und die Jungen eines Blickes zu würdigen. Mit nur einem Schuh am Fuß.
Osse rappelte sich mühsam auf. Einen kurzen Moment saß er da auf dem Tisch, rückte dann seine ramponierte Brille zurecht und hielt sich mit schmerzhafter Miene die verrenkte Schulter. Nachdenklich betrachtete er einen Augenblick, wie Vater und Sohn in stiller, inniger Umarmung lagen.
„Wir haben das alles nicht geträumt, Herr?”, fragte er dann leise. „Das ist alles wirklich geschehen?”
Althopian herzte und wiegte Merrit in seinen Armen. Der Junge ließ es erschöpft und benommen mit sich geschehen.
„Nein, Osse Emberbey”, antwortete er unter Tränen. „Nein. Das alles war echt. Die Magier haben uns befreit. Sie haben euch zurückgebracht!”
„Meinen Vater auch?”
„Ich bin mir sicher, er wartet unten auf dich.”
Osse hob den Kopf und horchte. Dort unten wimmelten Stimmen, Jauchzen und Lachen, eine unfassbare Erleichterung.
„Ich darf ihn nicht warten lassen”, sagte Osse pflichtbewusst. Althopian nickte ihm zu und wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte.
„Geh nur, Osse Emberbey”, brachte er rau heraus. „Geh. Und gib auf der Treppe acht, dass du im Dunklen nicht stolperst.”
***
Was mit dem Krater geschah, war weniger spektakulär, als ich es erwartet hatte. Es wirkte sogar unverhältnismäßig ruhig, angesichts dessen, dass derweil ein heftiges Erdbeben die Wüste erzittern ließ, so stark, dass es sogar Elosál von den Füßen warf. Und dann begann der Sand am Rand des bodenlosen Loches zu rieseln und abzugleiten.
„Weg vom Rand!”, empfahl Elosál mir. „Sitzt auf!”
Meine Angst davor, mit dem Sand in die Tiefe gerissen zu werden, war weit größer als mein Unbehagen, mich noch einmal auf den Rücken des Einhorns begeben zu müssen. Die goldene Stute Sonnenstrahl war immerhin so klug, dass sie sich ungefragt niederlegte, sodass ich halbwegs schnell auf ihren Rücken klettern konnte. Elosál schwang sich vor mir in den Sattel und brachte ihr treues Reittier dazu, in die Luft aufzusteigen und über dem Abgrund zu kreisen.
„Was seht Ihr?”, fragte sie mich. „Eure Augen sind im Dunklen besser.”
„Der Sand stürzt in die Tiefe,” sagte ich und zwang mich, nach unten zu schauen. „Immer schneller und schneller, wie durch einen Trichter. Aber …” Ich stutzte. Aller Vernunft nach hätte das Loch in der Wüste dadurch eigentlich immer größer werden müssen. Stattdessen schien es sich nun aus der Mitte heraus aufzufüllen. So als sprudele es aus einer Quelle empor, nur, dass statt Wasser fester Sand nachfloss. Das war sonderbar.
„Etwas spült den Sand zurück an die Oberfläche.”
„Gut”, sagte sie. „Dann kommt das Wasser wohl auch wieder in die richtige Bahn.”
„Das ist alles sehr verwirrend”, meinte ich jämmerlich. „Ich weiß gar nicht mehr, was warum passiert und was ich tun soll.”
„Gar nichts, Meisterin Salghiára. Wir haben alles getan, was wir bewirken konnten. Jeder von uns.”
„Und Eure Leute?”
„Dort”, sagte sie und deutete hinab. „Da kommen sie.”
Der sprudelnde Sand warf Blasen, die nacheinander auftauchten und immer größer wurden. Dann erkannte ich, dass es gar keine Blasen waren, keine luftgefüllten Beulen, sondern etwas Festes, etwas, das sich aus der Tiefe hervor kämpfte. Der Sand perlte von der maghiscal der Ritter ab. Und dann brach das erste Einhorn durch die Sandoberfläche, das blaue, wie ein Maulwurf. Es kämpfte, als befreie es sich aus einem Morast und strampelte tapfer voran. Sein Reiter hatte sich auf seinem Rücken zwischen den angelegten Flügeln zusammengekauert und schnappte jetzt nach Luft.
Und dann war das nächste frei, das orangene. Eines nach dem anderen kletterte aus dem Sandtrichter und galoppierte dann gegen den absackenden Boden an.
Als das perlmuttfarbene Einhorn und sein goldweiß gerüsteter Reiter erschienen, atmete Elosál sichtlich auf. Ich war insgeheim überrascht darüber. War sie am Ende doch besorgt gewesen, dass es nicht gutgehen würde für die Regenbogenritter?
Cýelú Irísolor schaute sich suchend um und entdeckte Sonnenstrahl über sich. Er winkte Elosál zu. Aber offensichtlich waren die Magier noch nicht am Ende mit ihrem Kampf. Anstatt selbst wieder emporzufliegen, verteilten die acht sich um den Rand der Senke herum.
Elosál nickte zufrieden und trieb Sonnenstrahl an. Die Stute wendete und galoppierte westwärts, zurück in Richtung Cielástel, wo immer noch das Wolkenportal über dem Turm schwebte. Aber sein Glimmen hatte sich verändert, pulsierte, war unruhig geworden. Etwa so, als tobe ein Gewitter in dem unheimlichen Reif.
„Was tut Ihr?”, fragte ich verwirrt und schaute mich nach den arcaval’ay um. „Wieso lasst Ihr sie allein?”
„Weil es Euch und mir nicht gut bekäme, nun zu nahe dabei zu sein”, rief sie gegen den Windzug an, den Sonnenstrahls Flügel verursachten.
„Wobei?”
„Sie versiegeln nun das Loch!”
„Aber …”
„Das ist nichts für Noktámas Diener. Schließt die Augen!”
„Aber …” Ich unterbrach mich selbst. Was bildete ich mir ein, in einem solchen Moment einfältige Fragen zu stellen!
„Ist es gefährlich?”, konnte ich es mir dennoch nicht verkneifen.
„Nicht für den, der den Zauber wirkt. Aber möglicherweise für Euer Augenlicht. Ihr könnt nicht Pataghíus Glanz schauen!”
„Oh.” Ich verstand und schirmte sicherheitshalber meine Augen mit dem Unterarm ab, während ich mich am Sattel festkrallte. „Wie …”
Weiter kam ich nicht, denn ohne Vorwarnung, aber völlig lautlos flutete eine Welle von Hitze über uns hinweg und nahm mir den Atem. Das dauerte nicht lang, einen Herzschlag vielleicht oder zwei.
Dann war die Nacht wieder kühl.
Elosál gab einen seltsamen Laut von sich. Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, dass sie vergnügt aufgejauchzt hatte. Verdutzt wagte ich, wieder zu blinzeln. Was immer die arcaval’ay getan hatten, offenbar war der Zauber geglückt.
Aber der Wolkenring über dem Cielástel … der flackerte und blitzte jetzt grell wie ein monströses Stroboskop.
***
Das Chaos zitterte, aber nun war es nicht mehr wie ein Erdbeben, Advon glaubte zu spüren, wie unter seinen Füßen der Untergrund binnen weniger Wimpernschläge weich und zäh und dann fast flüssig und sofort wieder steinhart wurde.
Der Nebel wurde zu einem wabernden Irgendetwas, das ihm im einen Augenblick den Atem nahm und dann wieder scharf und klar war, wie kalte Luft.
Farbenspiel strauchelte, stand auf seinen vier Beinen nicht sicherer als er. Verstört flatterte das Einhorn mit den Flügeln.
„Papa!“, rief Dýamirée, nein, sie rief nicht, sie kreischte schrill und wie in höchster Not. Und ihr Vater, der Schattensänger … der lag da nun da wie tot. Dýamirée hatte ihn an den Schultern gepackt und schüttelte den schlaffen Körper. „Papa!”
„Wir müssen hier raus!”, rief Advon, denn nun kam noch etwas anderes hinzu, etwas wie eine ätzende Schwere, etwas, das er nicht mit Worten beschreiben oder mit seinen Sinnen erfassen konnte. Es war ein allumfassendes Entsetzen, eine grenzenlose Traurigkeit und Wut, die auf ihn einstürzte. Offenbar hatte der Schattensänger sie vor irgendetwas abgeschirmt, ein Schutz, der nun aber mit dem Magier zusammengebrochen war.
„Dýamirée! Spürst du das auch?”
„Es ist schlimm! Es ist ganz, ganz schlimm! Wir müssen weglaufen!”
Das war eine gute Idee. Aber Farbenspiel trampelte und stieg und brüllte, so als nähme er gar nicht mehr wahr, dass die Kinder neben ihm standen.
„Farbenspiel!”, rief Advon, und der Nebel ringsum wurde zu farblosen Schlieren, die sich mit dem, kränklichen Schimmern zu einer grässlichen Textur vermischten. Etwas gelangte mit seinem Atem in seinen Hals, er wollte husten und es ausspucken, aber es war klebrig wie dicker Honig und haftete an. Auch Dýamirée japste nach Luft, warf sich über ihren Vater und weinte wütend auf.
Etwas dröhnte in Advons Ohren. War es eine Stimme, ganz weit weg und entfernt, die schallend lachte und einen sonderbaren Singsang anstimmte, höhnisch, wie um sie zu verspotten?
Das war egal. Es durfte ihn jetzt nicht ablenken, und später würde es keine Rolle spielen. Mochte die Stimme lästern, solange sie wollte. Fest und flüssig und Luft und Sand und mochten die Mächte wissen, was noch alles, stürzte zusammen und vermengte sich zu einem Brei, zu einem Einzigen, zu einem Ursprünglichen zu … Bei den Mächten, das Portal!
„Farbenspiel!” Advon spuckte die Substanz des Chaos aus, die ihm zwischen die Zähne geraten war. „Verflucht, Farbenspiel, wir haben keine Zeit für Panik! Nimm dich gefälligst zusammen!”
Wäre Farbenspiel aufgezäumt gewesen, hätte er versucht, ihn beim Geschirr zu packen, aber der Hengst trug nun den Halteriemen, den sie aus den Zügeln geknotet hatten. Advon wusste sich nicht anders zu helfen, als sein Leben zu riskieren. Er duckte sich unter den peitschenden Flügel durch, schnell von dem wild schwappenden, zähen Boden empor und grabschte nach Farbenspiels Mähne und Schwingen. Einen Moment lang hing und strampelte er an der Seite des Einhorns. Das brachte Farbenspiel dazu, in einem kleinen Kreis auf der Stelle zu buckeln. Advon hing an der Seite des Einhorns, strampelte mit den Beinen und versuchte, sich auf seinen Rücken zu ziehen.
„Ruhig, Farbenspiel!”, rief er. „Ruhig! Je ruhiger du bist, desto schneller können wir weglaufen!”
„Papa!” Dýamirée schien gar nicht zu bemerken, wie gefährlich nahe die scharfen Klauen des Hengstes ihr kamen. „Papa … mir ist … so schlecht …”, hörte er sie schluchzen. „Ich will zu Mama!”
„Dýamirée!” Advon stemmte sich mit einem ärgerlichen Ächzen in die Höhe. Schief und gebeugt kam er zu sitzen, aber auf dem verschwitzten Fell fand er kaum Halt. Immerhin schien es Farbenspiel zu besänftigen, dass er wieder einen Reiter trug. „Steig auf! Wir müssen weg!”
„Aber mein Vater …”
„Er würde nicht wollen, dass du wegen ihm in Gefahr gerätst!”
„Wir müssen ihn mitnehmen!”
„Und wie?”
„Ich gehe nicht ohne ihn!”
„Dýamirée! Dein Vater ist der mächtigste Schattensänger aller Zeiten! Er wird allein fliehen können!”
„Nein!”
„Aber …
„Versteh das doch, Advon!” Sie sprang auf, trat furchtlos auf das tänzelnde Einhorn zu und hob flehend die Hände. „Er hat all seine Magie für die Menschen weggegeben! Für seine Freunde und die unkundigen Kinder! Das schlimme Ding wird ein Chaosmonster aus ihm machen! Er ist wehrlos wie … wie ein Neugeborenes!”
„Und deine Magie? Kannst du …”
„Galéons Stein ist kaputtgegangen! Ich hab auch nichts mehr übrig! Ich …” Sie begriff, was sie da sagte. Ihre Augen weiteten sich entsetzt und sie schlug sich die Hände vor den Mund. Advon klopfte Farbenspiel den Hals. Wenigstens er, das war ihm klar, musste nun die Ruhe bewahren.
„Dann müssen wir ihn irgendwie auf Farbenspiels Rücken bekommen! Leg dich, Farbenspiel! Ich will, dass du …”
Ein Ruck fuhr durch den Untergrund, als hätte jemand von unten mit einer riesigen Faust darunter geboxt. Das zähflüssige Gemenge, in das das Chaos sich verwandelte, platsche herab wie halbgetauter Schnee von einer Dachtraufe. Farbenspiel taumelte und knickte mit den Hinterläufen ein. Advons Herz schien ihm einen Moment auszusetzen, fast befürchtete er, der Bewusstlose sei dem Tier unter die Klauen gekommen.
Halb liegend, verharrte der Hengst erstarrt und legte die Ohren so fest an, dass sie ganz in seiner Mähne verschwanden.
„Noktáma!” Dýamirée kauerte sich über ihrem Vater zusammen und versuchte, mit den Armen ihren Kopf zu schützen. „Noktáma, hilf uns! Noktáma, lass uns nicht hier allein!”
Advon schloss sich an, aber er flehte im Stillen zu Pataghíu. Bitte, dachte er in seiner Not, bitte, Pataghíu, schick uns Hilfe.
Aber konnte Pataghíu hier sein, hier im Chaos? An einem Ort abseits des Weltenspiels, den das Widerwesen gerade jetzt neu zu gestalten begann. Die unheimliche Stimme … wenn das das Widerwesen war?
„Dýamirée!” Advon hakte sich mit dem Bein unter den Zügeln um den Einhornhals fest und neigte sich ihr zu. „Gib mir seine Hand! Wir müssen ihn auf Farbenspiels Rücken ziehen!”
Wieder körperlose Trommelschläge, wieder hüpfte der Boden. Farbenspiel rollte seine Schlangenaugen und fletschte die Zähne. Advon litt, aber er zwang das Einhorn unter seinen Willen. Gegen die Chaosgeister war der Hengst mutig gewesen, aber was waren die gegen das Widerwesen, gegen das sich vermischende Chaos? Wie musste sich das alles einem Tierverstand darstellen?
Wenn sie lebendig dieses Abenteuer bestanden, dachte Advon, dann sollte Farbenspiel reich belohnt werden. Er versuchte, die Gedanken des Tieres zu erreichen, mit der Vorstellung von Futtertrögen voller Honigkekse und saftigem grünem Gras. Dann begann er, an der Hand des Schattensängers zu zerren, die er gerade so eben erreichen konnte, wenn er sich waghalsig so weit aus dem Sattel neigte, wie es ging, Dýamirée zerrte an der anderen, wütende Tränen in den Augenwinkeln, während das zähflüssige Chaos sie immer weiter einspann wie ein klebriger Spinnenfaden, dicker und schwerer als ein Tau.
Yalomiro Lagoscyre war ein schlanker Mann, aber sein bewusstloser Körper war so schlaff und unhandlich, dass er sich kaum vom Fleck bewegen ließ. Dýamirée weinte vor Wut und gab ihr Bestes.
Wenn wir doch nur einen Hebel oder so etwas Ähnliches hätten, dachte Advon. Wenn wir ihn doch in irgendwas Kleineres verwandeln und heben könnten!
„Hörst du das auch?”, fragte er atemlos.
„Dass da jemand lacht und sich freut?”
„Ja, genau!”
Sie ächzte und umklammerte das Handgelenk des Schwarzgewandeten so fest, dann an ihren zarten Kinderfingern die Knöchel hervortraten. „Das ist das Widerwesen. Es freut sich über das schöne neue Spielzeug”, verriet sie ihm. „Es freut sich, dass wir ihm nicht entkommen!”
„Was will es mit uns?”
„Ich will es nicht wissen! Ich will zu meiner Mama!”
„Können wir deinen Papa denn gar nicht wecken?”
„Nein. Hab ich schon versucht. Er ist nicht da!”
„Was?”
Dýamirée schüttelte den Kopf. Vermutlich hatte sie nicht die Kraft, es ihm jetzt zu erklären. Sie zogen und stießen und schoben, aber er war schlaff und leblos wie ein erlegtes Wild. Farbenspiel zitterte. Advon war sich nicht ganz sicher, wie lange er ihn noch würde halten können. Und mit jedem Atemzug, so sah er mit Entsetzen, zog sich nun der Wolkenkreis um das Portal mehr und mehr zusammen, begleitet von dem dumpfen Trommeln, das das Chaos erbeben ließ und sich anhörte wie ein gewaltiges pochendes Herz.
Hinterlasse einen Kommentar