
„Das ist mein Wäldchen”, behauptete Advon. Farbenspiel setzte sanft auf dem feuchten Sandboden auf. Die Bäume sahen ramponiert aus und ließen teils Blätter und Zweige hängen, so schwer klebten Reste des Sandregens auf ihnen. Advon griff über seinen Kopf und schüttelte die gröbsten Batzen von den Wedeln einer niedrigen Pflaumpalme ab.
„Oje.” Dýamirée blickte sich bestürzt um. „Die schönen wunderlichen Bäume …”
„Zumindest sind diese hier nicht abgebrannt.” Advon sprang ab. „Wenn die Sonne scheint, wird das ganz schnell lockerer Sand, und wenn dann noch Wind kommt, bläst der den Staub wieder in die Wüste zurück. Mein Papa kann Wind beschwören. Das ist schnell wieder heil.”
„Was Besseres haben wir jetzt nicht”, sagte Dýamirée sachlich. Sie warf den Zauberstab beiseite und kletterte unbeholfen von Farbenspiel herunter. Advon kam gerade noch rechtzeitig, hinzu, um sie aufzufangen. „Warte hier. Ich suche eine Stelle, wo wir meinen Papa hinbringen können.”
Sie entfernte sich ein paar Schritte. Advon nutzte die Gelegenheit, nach dem Schattensänger zu sehen. Bei genauerer Betrachtung war es ein Wunder, dass sie ihn heil aus dem Chaos herausgebracht hatten, mitsamt dem Gepäck, das er in seiner Tasche getragen hatte. Selbst sein Hut saß noch auf seinem Kopf, wie festgezaubert. Vielleicht war er das sogar.
Um das zu testen, tippte Advon vorsichtig an die Krempe und schob sie sacht nach oben. Dann zuckte er erschrocken zusammen, denn der Schwarzgewandete schaute ihn mit einem halb geöffneten, bleiblinden Auge an.
„Meister?” Advon flüsterte. Dýamirée sollte nicht mit falschen Hoffnungen herbeikommen.
„Du wirst … für sie sein, nicht wahr?”, wisperte der Schattensänger, kaum dass seine Stimme hörbar war.
„Für Dýamirée?”, fragte Advon verwirrt.
Der camat’ay brachte ein winziges Lächeln zustande. „Abendkind”, hauchte er. Dann schloss sich sein Auge wieder.
Advon runzelte die Stirn. Phantasierte der bis zum Äußersten geschwächte Magier, oder war das gerade eine wichtige Anweisung, eine Botschaft gewesen, die er noch nicht verstand? Nun, zumindest lebte der Schattensänger noch. Und Dýamirée schien einen Ort gefunden zu haben, der ihr brauchbar erschien. Sie rief ihn herbei, und Farbenspiel trottete hinter seinem jungen Herrn her.
Unter einem knorrigen Olivenbaum, mit einer weit ausladenden Krone zerrten die beiden Kinder den Leblosen von Farbenspiel herab. Das erwies sich als einfach, wenn auch die Landung sehr unsanft war. Zum Glück weckte das den Schattensänger nicht aus seiner Ohnmacht auf.
Dýamirée bettete ihren Vater sorgfältig unter den zerzausten Baum und schob seine Tasche als Stütze unter seinen Kopf. Dann scharrte sie mit konzentriertem Blick eine Weile in der feuchten Sandschicht und förderte schließlich den Ausläufer eines kriechenden Duftkrautes hervor. Farbenspiel vertrieb sich die Zeit damit, mit seinem Horn gegen ein paar Äste zu fechten und so zartes Laub unter der Sandkrume freizulegen. Gierig begann er, zu fressen.
Dýamirée schien auf eine geheimnisvolle Weise genau zu wissen, was sie tat. Sie nahm die verletzte Hand ihres Vaters und begann, leise zu summen. Advon schauderte, als sie den Pflanzentrieb durch die Wunde hindurch führte, die die goldene Haarnadel hinterlassen hatte. „Was machst du da?”
„Mein Papa ist doch ein Gärtner. So nennen camat’ay Magier, die mit Pflanzen verbunden sind. Das Kraut gibt ihm Kraft.”
„Tatsächlich?”
„Ja, bestimmt. Nur ganz wenig, es ist ja nur eine schwache Pflanze. Aber sobald er zu sich kommt, dann kann er sich selbst helfen.” Sie neigte sich hinab, tastete nach seinem Herzen und legte dann ihre Stirn an die seine. Einen Moment blieb sie so, dann erhob sie sich. „Und jetzt suchen wir meine Mama, ja?”
„Können wir ihn denn einfach allein lassen?”
„Ja. Er meint, wir können gerade nichts für ihn tun. Der Baum gefällt ihm. Und er dankt dir von ganzem Herzen.”
„Du hast mit ihm geredet?”
„Nein. Wir … ich kann das jetzt auch ohne Worte.”
„Gut.” Advon rief Farbenspiel herbei. Das Tier kam ohne große Eile näher, einen großen Zweig im Maul. Diesmal konnten sie einen gestürzten Baumstamm aus Aufsteighilfe nutzen. „Nur noch ein ganz kleiner Ritt, Farbenspiel. Versprochen.”
„Wohin reiten wir denn jetzt?”, fragte Dýamirée, als sie wieder in der Luft waren.
„Zurück in den Cielástel.”
„Aber meine Mama … wir müssen meine Mama zu meinem Papa bringen, und …”
„Das können wir später immer noch tun. Am allerwichtigsten ist, dass wir vor meinen Eltern in der Burg sind. Ich weiß, an welcher Stelle wir unauffällig über die Mauer kommen!”
„Warum unauffällig?”
„Hat deine Mama dich schon einmal irgendwo gefunden, wo du nicht hättest sein sollen?”
„Manchmal. Ich bin früher als kleines Kindlein manchmal in den Wald gelaufen, statt zu schlafen. Aber jetzt nicht mehr so oft. Ich passe jetzt besser auf.”
„Und? Hat sie geschimpft?”
„Sorgen hat sie sich gemacht.”
„Und was denkst du, macht meine Mama, wenn wir nicht da sind, wo wir hätten bleiben sollen?”
Dýamirée seufzte. „Eltern”, sagte sie kopfschüttelnd. „Immerzu machen sie sich Sorgen. Das muss schlimm sein, wenn man dauernd Sorgen wegen der kleinen Kinder hat.”
Sie schwiegen eine Weile. Farbenspiel flog zügig, aber ohne zu hetzen, gen Westen und mümmelte dabei seinen Palmenzweig.
„Ich mache mir aber auch Sorgen”, gestand Advon. „Glaubst du, Galéon ist heil aus dem Chaos herausgekommen?”
„Noktáma hat ihn bestimmt beschützt.” Dýamirée überlegte eine Weile. „Und Pataghíu sicher auch. Galéon ist doch gut und freundlich. Die Mächte lassen ihm bestimmt nichts zustoßen.”
„Aber wenn … wenn seine Schutzmacht so zufrieden mit ihm ist, dass sie ihn bei sich haben will?”
„Seine Schutzmacht?”
„Ich hab mit ihm darüber gesprochen, Dýamirée. Er … gehört weder zu Noktáma noch zu Pataghíu. Dýamirée, Galéon dient dem Licht. Das Licht ist größer als Pataghíu und Noktáma.”
„Das hab ich mir gedacht”, antwortete sie zu seiner Überraschung mit großem, fast erwachsenem Ernst. „Aber wenn seine Schutzmacht ihm Magie gegeben hat, dann hat das etwas zu bedeuten. Was soll er hinter den Träumen mit Magie? Magie wird immer im Weltenspiel zurückbleiben. Hinter den Träumen braucht sie niemand mehr.”
„Denkst du?”
„Ich glaube”, behauptete Dýamirée überzeugt, „dass wir ihn wiedersehen werden. Und dass wir noch ganz viele Geschichten von ihm hören werden.”
***
Ich hatte mich in einigem Abstand zu dem verglasten, versiegelten Portal niedergelassen, schaute hinaus in die Wüste, nach Süden, und fühlte mich allein gelassen, traurig und müde. Etwas stimmte nicht an dem, was gerade geschah. Es war … unbefriedigend. Ich hatte den Eindruck, dass es kurz davor stand, ein gewaltiges, immenses Abenteuer abzuschließen, eine Bedrohung vom Weltenspiel abgewendet zu haben, die so komplex und wirr war, dass ich bis jetzt noch nicht verstanden hatte, was überhaupt geschehen war, wie das eine auf das andere einwirkte. Etwas, das so kompliziert, nein: buchstäblich so chaotisch war, dass wir alle uns hatten aufteilen müssen, um Schaden abzuwenden. Etwa wie bei einem großen Boot, das an verschiedenen Stellen zugleich leckschlug und jeder mit bloßen Händen das Wasser zurückdrängen musste.
Das hatte zur Folge, dass ich keine Ahnung, keine Vorstellung davon hatte, was alles im Einzelnen geschehen war. Und ich glaube, genau das störte mich. Ich konnte das Gesamtbild nicht erkennen. Und selbst, wenn ich es gesehen hätte, wären mir immer noch all die Zusammenhänge schleierhaft geblieben.
Dazu kam: Ich saß hier, weit weg von zuhause (und noch viel weiter weg von meiner Welt) und hatte eine karge, leere Unendlichkeit vor mir, in der es nichts gab als Sand und hier und da ein paar Erhebungen von Fels und Geröll. Pflanzen oder andere Zeichen von Leben nahm ich in größerem Umkreis nicht wahr. Hatte es hier nie etwas gegeben, oder hatten die arcaval’ay es mit ihrem Hitzezauber vernichtet? Ein Kollateralschaden, der aus der Wüste eine tote Einöde gemacht hatte?
Ich seufzte und spürte zugleich, wie meine maghiscal Noktámas nächtliches Licht aufsog und sich daran stärkte. Es würde mehr als eine Nacht dauern, bis sie wieder völlig hergestellt war, aber die Geduld musste ich wohl aufbringen.
Und wenn der Tag anbrach? Wenn sich diese Wüste hier in eine natürliche Glut verwandeln würde? Ob Cýelú Irísolor mich bis dahin an einen Ort bringen konnte, wo es wenigstens ein bisschen Schatten gab?
Ich schaute verstohlen zu ihm hinüber. Er saß einige Schritte entfernt, blickte in Richtung Cielástel und machte einen ähnlich betrübten Eindruck. Trotz seiner goldenen Rüstung konnte ich sehen, wie er seine Schultern und den Kopf hängen ließ. Nun, zumindest war er in seinem eigenen Reich.
Worüber mochte er nachdenken? Fühlte er sich gekränkt und zurückgesetzt durch Elosáls Anweisung, hier mit mir zu warten? Was mochte er gerade mit sich auszumachen haben?
Ich schaute wieder auf meine Hände und Dýamirées Kuscheltier, das ich die ganze Zeit unter den Gürtel geklemmt bei mir getragen und bei all dem Durcheinander fast vergessen hatte. Das war der andere und bei näherer Betrachtung weit schwerwiegendere Teil meiner Traurigkeit. Ich hatte keine Ahnung, wo Dýamirée war, und nur der Umstand, dass ich wusste, dass Yalomiro nach ihr suchte, tröstete mich. Yalomiro … wo und wie mochte er seinen Teil des Abenteuers bestritten haben? War er vielleicht noch dabei, irgendwo, wo es weder ich noch die Regenbogenritter vermuteten, ein anderes Leck zu flicken?
Der schale Trost, den ich fand, war der, dass Yalomiro auf keinen Fall tot sein konnte. Das war unmöglich. Es war ein absurder, ein unbegreiflicher Zauber, der ihm und mir den Weg hinter die Träume versperrte, bis einmal jemand die Nachfolge von Gor Lucegath antreten würde. Ihm, weil der Rotgewandete ihn damals, vor vielen Sommern, aus einem wirren Besitzanspruch hinaus mit seinem magischen Schwert seine Beute gekennzeichnet hatte. Mich, weil ich eben dieses Schwert gepackt hatte, um das Licht aus dem ay’cha’ree zu befreien.
Jóndere Moréaval, weil der von Gor Lucegath überlistet worden war, mit dessen Schwert gegen ihn zu fechten. Und die teiranda … nun. Ihre Geschichte, das wann, wo und warum, die kannte ich nicht. Alles, was ich gesehen hatte, war die kleine Narbe an ihrer Hand, die sie mit ihrem Fingerschmuck bedeckte. War es ein Missgeschick gewesen? Oder hatte Gor Lucegath sie auch zu seiner Beute gemacht, aus einem Gedanken heraus, den er mit sich hinter die Träume genommen hatte?
Yalomiro jedenfalls würde sich auf seine geliehene Unsterblichkeit verlassen. Sie würde ihn zum äußersten Leichtsinn treiben. Er würde die absurdesten Dinge tun, um Dýamirée zu retten. Denn Dýamirée war nicht weiter als ein unschuldiges, unkundiges Kind. Sie hatte es nicht verdient, in einen solchen Wahnsinn, geboren aus uralter, tiefer Magie, hineingezogen zu werden.
Ich schaute müde auf das Kuscheltier herab. Dýamirée war nicht sicher in unserer Welt. In einer Welt, in der jederzeit grässliche Monster und wahnsinnige verfluchte Magier auftauchen konnten. In einer Welt, in der sie nie Zugang zu anderen Menschen finden und Freundschaften schließen konnte. Menschen mieden uns. Yalomiro ersparte mir, sooft es ging, mich mit den Leuten aus den an den Boscargén angrenzenden Dörfern abgeben zu müssen. Es war nichts Persönliches zwischen ihnen und uns, das war mir klar. Aber wer wusste schon, wie sich das Unbehagen anfühlen mochte, das sie uns gegenüber empfanden, sobald sich ein Kontakt nicht vermeiden ließ.
Ich drückte das Kuscheltier an mich. Meine Gedanken wurden immer trüber.
Ob es für Dýamirée besser sein würde, unkundig und unbeschwert anderswo aufzuwachsen? Vielleicht am Hof von Kíaná von Wijdlant, wo die yarlay eingeweiht waren und Yalomiro respektierten? Wo andere Kinder waren, die zu ihr passten? Ob Dýamirée als Gefährtin der teirandanja glücklicher, passender wäre als bei uns?
Dass mir ernsthaft solche Gedanken kamen, Dýamirée zu ihrem eigenen Besten in die Fremde zu Unkundigen zu schicken, ohne dass ich überhaupt wusste, was ihr widerfahren war, stürzte mich in eine üble Gedankenspirale. Ich hielt es noch einen Moment durch. Dann begann ich, hemmungslos zu weinen.
Wie lange ich so gesessen, geschluchzt und irrationale Überlegungen angestellt hatte, wusste ich nicht mehr zu sagen. Ein kurzer, unerwarteter Schmerz ließ mich aufschrecken.
Cýelú Irísolor zog schnell seine goldbeschlagenen Handschuhe weg. Er hatte wohl nicht daran gedacht und wollte mir sicher nicht weh tun.
„Meisterin”, sagte er verlegen, „schaut. Das Portal über der Burg …”
Ich schniefte, wischte mir verlegen mit dem Kuscheltier die Tränen weg und folgte seinem Fingerzeig. Das Loch im Himmel war fort. Noktámas Schleier hatte keinen Schaden mehr. Und die Sterne über der Wüste waren wunderschön.
***
Advon konnte nicht recht glauben, was er sah, als sie sich dem Cielástel näherten. Sicherheitshalber lenkte er Farbenspiel in einem weiten Bogen um das Gebäude herum, sodass sie aus sicherem Abstand einen Blick auf den Tumult werfen konnten. Die Dunkelheit und ihre Flughöhe sorgten dafür, dass die Menschen auf der Erde sie nicht bemerkten. Abgesehen davon interessierte sich keiner von ihnen für das, was am Himmel vorging.
„Was soll das?”, rief Advon erschrocken aus. „Die schmeißen Steine!”
„Oje”, sagte Dýamirée mitfühlend. Sie konnte etwas besser sehen, welchen Schaden das Hauptportal des Cielástel bereits genommen hatte. „So viele Scherben …”
„Da sollten keine Scherben sein! Unsere Mauern sind …”, er zögerte und fügte kleinlaut hinzu: „… unzerbrechlich.”
„Warum wollen die Unkundigen denn eure schöne bunte Burg kaputt machen?”, fragte Dýamirée. „Ärgern sie sich so sehr über euch?”
Advon antwortete ihr nicht. Er hätte nicht gewusst, wie er dem Mädchen in kurzen Worten erklären konnte, warum Unkundige die Regenbogenritter nicht ihn ihrer Stadt haben wollten. Vielleicht hatte Dýamirée in den letzten Stunden erkannt, wie dumm und zerstörerisch Menschen sein konnten. Aber ihr die Zusammenhänge beim nächtlichen Galopp auf einem Einhorn zu erklären, während dort unten sein Zuhause zu Bruch ging, das war etwas viel verlangt.
„Meine Mama”, sagte sie nachdenklich, „hat gelernt, wie sich den Schutzbann um unser Haus legt. Und Papa hat einen Zauber um unseren Wald gelegt, damit sich niemand unbemerkt anschleicht. Haben deine Eltern das nicht gemacht?”
Darüber musste er nachdenken. Er wusste es nicht. So etwas war nie zuvor vorgekommen.„Doch! Ganz bestimmt. Aber … funktioniert das auch, wenn niemand daheim ist?”
„Mama sagt”, plauderte Dýamirée weiter, während dort unten Steinwürfe die Mauern zerspringen ließen, „sie findet das gut, mit unserem Schutzzauber. Sie sagt, es verhindert, dass irgendwann Leute mit Fackeln und Mistgabeln vor dem Etaímalon stehen. Die Unkundigen haben Angst.”
„Vor euch?”
Dýamirée nickte.
„Warum?”
„Vielleicht aus demselben Grund wie die da unten.”
Farbenspiel hatte derweil die Burg einmal umrundet, lautlos, am dunklen Himmel nicht beachtet von dem Mob vor den Toren der magischen Burg.
„Und was sollen wir nun tun? Wir können doch all diese verrückt gewordenen Unkundigen nicht allein aufhalten.”
„Nicht?”
„Wir sind Kinder! Wie sollen wir das machen?”
„Vielleicht reicht es ja, wenn einfach wieder jemand zuhause ist?”
„Was?”
Sie seufzte. Wahrscheinlich hielt sie ihn für begriffsstutzig. „Du hast gesagt, du weißt, wie wir ungesehen in die Burg kommen.”
„Ja, wir landen einfach auf der Brücke vom blauen Turm und laufen rauf in das Schulzimmer. Da sind wir verdeckt vom Hauptturm, und …”
„Dann los. Selbst wenn sie ein Loch in die Mauer bekommen, ist da noch der tiefe Graben.”
„Ich will nicht, dass sie den Graben überwinden.”
Dýamirée lächelte ihn undurchschaubar an. Er verstand.
Ja … er wollte nicht …
***
Der maedlor war von weit weniger kräftiger Statur als der Maultierführer, und die schwersten Lasten, die er den Tag über schleppen musste, waren die dicken Rechnungsbücher und Pergamente mit Gesetzen von einem Schreibpult zum nächsten. Trotzdem gelang es dem jungen Mann mehr recht als schlecht, seinen Amtsherrn in die vermeintliche Sicherheit des Burghofes zu schleppen.
„Ich schaue nach”, rief die sinora und eilte, so schnell es ihre gebrechlichen Glieder zuließen, hinüber zu der großen Zugwinde, mit der das Tor bedient wurde.
Derweil erklang draußen vor dem Tor ein entsetzlicher Lärm. Der aufgebrachte Mob schrie, fluchte und johlte laut, wann immer es jemandem gelungen war, einen Treffer mit einem der zahlreich vorhandenen Steine zu landen. Das schrille Klirren und Prasseln von Scherben der beschädigten Glasmauern ließ auf nichts Gutes schließen.
Wieso gelang es ihnen, den Cielástel zu beschädigen? Warum war das schöne bunte Glas plötzlich zerbrechlich? War das herrliche Gebäude ganz ohne Schutz geblieben?
Und das, dachte die sinora bang, das sind nur kleine Steinchen. Mögen die Mächte verhüten, dass sie auf die Idee kommen, eine Kriegsmaschine herbeizubringen, die große Felsen schleudern konnte. Gab es so etwas eigentlich noch, so lange Zeit nach der letzten Belagerung von Aurópéa, beschlagnahmt und eingemottet in irgendeinem Schuppen am Rand der Stadt?
Was war nur dieser nächtliche Wahnsinn, der so viele Bewohner von Aurópéa zur nächtlichen Stunde ein so hässliches, zerstörerisches Gesicht zeigen ließ?
„Pataghíu”, murmelte sie vor sich hin, trippelte unsicher hinüber zum Seilzug und sah dort, was sie befürchtet hatte. Der Maultierführer machte sich an der Winde zu schaffen.
„Nicht!”, bat sie ihn flehentlich. „Lass sie nicht rein! Sie werden die Burg zerschlagen!”
„Ist nichts Persönliches, Herrin”, gab er zurück. Überrascht war sie über die Tränen in seiner Stimme. „Will niemanden ‘reinlassen. Will raus hier!”
„Raus?”
„Wenn Aurópéa kaputt ist … meine Tiere … meine hýardora und die Kinder … hab ‘nen gut gehenden Mietstall, da in der Stadt. Und wenn mein Bruder mit denen ist, dann …”
„Sie werden hier herein stürmen, alles in Scherben schlagen und uns vielleicht dazu.”
„Du!” Der maedlor stolperte heran, Saháalír unglücklich um seine Schultern geklammert. „Das ist Hochverrat!”
„Ach ja? Gegen wen?”
„Gegen …”
„Gegen niemanden! Wir sind hier nicht in Aurópéa! Wie’s aussieht, hindert mich niemand. Das hier ist nur’n Haufen Glas und Glitzer! Die Buntkerle sind fort!”
„Vielleicht kommen sie zurück!”
„Dann könn’ sie sich da drum kümmern! Ich nehm meine Viecher und verschwinde hier!”
„Das wagst du nicht!”
„Wer will mich hindern? Die alten Leute? Oder du, Federschubser?”
Der maedlor zögerte. Viele Handlungsoptionen blieben ihm nicht.
„Willste nicht wissen, was derweil draußen passiert ist? Was deinen Leuten und Sachen zugestoßen ist, während wir hier eingesperrt waren? Bei all dem Irrsinn, den die Buntkerle angerichtet hatten?”
„Das war nicht das Werk der Regenbogenritter!”, empörte sich die sinora. „Úldaise Tiáramalé …”
„Genau so’n Dreckskerl wie der Rest vom konsej! Von den hohen Herren! Von den Geldprotzen!”
„Von denen du ein gutes Auskommen hattest,” erinnerte Saháalír. Die Menge vor dem Tor feierte einen weiteren Treffer, der von einem sehr bizarren Klang begleitet wurde. Offenbar begann irgendwo, Glas zu reißen.
„Da ist ein Pferd im Stall zurückgeblieben”, sagte der maedlor.
„Das behalte ich! Für all die Umstände.”
„Du wirst das bereuen!”, sagte die sinora enttäuscht.
„Ist nichts persönliches, ehrenwerte sinora“, sagte der Maultierführer. „Ist nur fürs Überleben.”
Und er löste den Hemmschuh, der die Zahnräder des Kettenzuges bändigte. Mit ohrenbetäubendem Rattern drehte die Winde durch und das hölzerne Brückentor krachte ungebremst nieder.
***
Jeder Stein, der den Cielástel traf, traf auch das Herz des Stallmeisters. Anfangs hatte er noch versucht, mit beschwichtigenden Worten die anderen zu überzeugen, ihr Vorhaben aufzugeben und sich um Aurópéa zu kümmern. Doch nachdem sich gezeigt hatte, dass mindestens zwei der sinoray ganz offensichtlich rechtzeitig von der Flut gewusst und sich in der Burg in Sicherheit gebracht hatten, war der Mob entfesselt. Um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden, hatte er schließlich geschwiegen und saß nun niedergeschlagen auf einem der Steine, die die Endpunkte der Zugbrücke markierten. Nie im Leben hatte er gesehen, dass diese geschlossen gewesen war. Ob die grässliche alte Siledaú ihre dürren Finger in der Sache hatte? Oder der sinor Úldaise, den jeder in der Stadt für eine Ausgeburt der Bosheit hielt?
Die Mauer rund um das Tor begann, sich unter den Einschlägen der kleinen Steine mehr und mehr weißlich zu verfärben. Unzählige Risse breiteten sich im Inneren der Glaswand aus. Wenn sie noch ein paar Gongschläge lang weiter machten und womöglich noch Verstärkung aus der Stadt holten, dann würden sie langsam und mit Geduld die Mauer zerschmettern.
Der Graben davor allerdings, der wurde zunehmend unpassierbar, selbst wenn jemand es gewagt hätte, hinab und hindurch zu klettern. Wer unglücklich abrutschte und hinein fiel, der würde von den zahllosen Scherben tödlich durchbohrt.
Der Stallmeister seufzte und beschloss, Soldesér zu verlassen, sobald wieder Tageslicht herrschte. In der Nähe dieser Stadt und ohne die Einhörner, ohne die Regenbogenritter und die gütige fajía wollte er nicht sein. Und ganz sicher nicht ohne den kleinen Jungen. Mochten die Mächte geben, dass er mit seinen Leuten an einen sicheren Ort gegangen war.
„Die Brücke!”, schrie da plötzlich jemand über das Splittern und Gejohle hinweg. Der Stallmeister wandte sich um, und sah im Mondlichtschatten die mächtige hölzerne Brücke auf sich zu stürzen. Geistesgegenwärtig sprang er auf und zur Seite, und dann bebte der Untergrund unter der Wucht, mit der die Planken auf den Stein nieder krachten, knirschten, splitterten und brachen und in dicken Trümmern auf die Scherben im Graben aufprallten. Es klirrte.
Als er wieder aufblickte, gewahrte er genau gegenüber, unter dem Torbogen, seinen Bruder, einen ihm unbekannten Mann in der Kluft der städtischen maedloray und die alte sinora und den Stadtältesten, Letzterer mit letzter Kraft wie ein unförmiger Umhang am Hals des jüngeren Mannes festgeklammert. Sie schienen bestürzt zu sein. Und er, er fand sich plötzlich in erster Reihe, der Meute gegenüber.
„Verflucht”, brach dann jemand das Schweigen.
Und dann, ganz laut und hoheitsvoll und aus der hintersten Reihe, die wohlbekannte Stimme der fajía.
„Was”, rief sie aus, „bei Pataghíu und allen Mächten, ist hier los?”
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