Pataghíu, dachte Advon. Er konzentrierte sich angestrengt auf die Stelle, wo Galéon einfach im Nichts verschwunden war, etwa so, als habe man Kreide von einer Tafel abgewischt. Der Junge war kurzzeitig verblüfft gewesen, denn ein solches Kunststück hatte er weder bei seinem Vater noch der Mutter oder den Sieben jemals beobachtet. Dann war ihm eingefallen, dass es an seinem Willen rütteln könnte, wenn er sich von solchen Kleinigkeiten allzu sehr ablenken ließ. Er kniete nieder, spürte schon nach wenigen Augenblicken den eiskalten, harten Sand, der diese Haltung sehr unangenehm machte, und dachte an all die Dinge, die er über Pataghíu wusste und gelernt hatte. Pataghíu hatte die fajíaé ins Weltenspiel gesandt und machte die Welt am hellen Tag bunt und wärmte sie, damit die Pflanzen wuchsen das Eis nicht das ganze Weltenspiel überziehen können. Pataghíu war gütig und großzügig und Advon war davon überzeugt, dass er seine Bitte anhören würde.

Pataghíu, so oft habe ich dich gebeten, mir Magie zu geben, damit ich sein kann wie meine Mama, wie mein Papa. Damit ich einmal mit den Sieben reiten kann und mithelfen kann, das Weltenspiel zu beschützen. Jetzt hast du mir so viel Magie gegeben, dass ich Galéon ganz bestimmt davon etwas abgeben kann. Bitte, lass ihn Dýamirée finden. Und Dýamirées Vater.

Ob Galéon wirklich wusste, was er tat? Immerhin hatte er es fertiggebracht, aus dem Chaos zu verschwinden, um nach dem Mädchen zu suchen.

Wenn Galéon dem Licht diente, überlegte der Junge, ob er auch seine Schutzmacht um Hilfe bat? Ob das Licht gnädig war und verirrte Menschen zurück ins Weltenspiel gehen ließ, statt sie hinter die Träume zu rufen?

Wenn dies hier überstanden war, nahm er sich vor, dann musste er seine Mutter nach den Lichtwächtern fragen. Und zugleich, auch das drängte sich ihm, auf, war es vielleicht gut, dass er so wenig darüber gewusst hatte, als sie Galéon begegnet waren. Schließlich gab es wohl einen Grund, dass Erwachsene Kindern gewisse Dinge nicht erklärten. Ob Dýamirée sich wohl gefürchtet hätte?

Advon konzentrierte sich auf seinen Willen, darauf, Galéon damit zu stärken, wo auch immer der báchorkor gerade sein mochte. Er kam sich dabei etwas fehl am Platz vor. Hätte er nicht selbst etwas tun müssen?

Der Gedanke machte ihn unruhig. Wo immer Galéon sich gerade nun befand, er war auf sich allein gestellt. Der Junge hatte eine vage Vorstellung davon, dass die Magie, die das Licht seinen Dienern gewährte, einsam machte und viel schwerer zu verstehen war als Farben und Wärme und Sonnenfeuer. Irgendwie war das sehr traurig.

Sicher ist es so richtig, redete er sich ein. Vielleicht kann Galéon nicht zurück hierher, wenn ich nicht an der Stelle bleibe. Ich muss ihm die Tür aufhalten.

Er wandte sich den Unkundigen zu. Das Licht blendete sie offensichtlich immer noch, sodass niemand etwas sehen konnte. Es schien sich auch niemand daran zu erinnern, dass er und der báchorkor in der Nähe sein mussten. Aber die erste Euphorie, die Erleichterung darüber, die Kinder wieder in Armen halten zu können, die hatten sie nun gezügelt. Die Unkundigen besannen sich nach und nach wieder darauf, dass sie mitnichten in Sicherheit, sondern nach wie vor an einem Ort waren, an den sie nicht gehörten. Dass ihnen zusätzlich die Orientierung genommen war, beunruhigte sie umso mehr. Aber die erwachsenen Männer (vielleicht abgesehen von dem teirand, der zwar möglicherweise ein gütiger Herrscher, aber wohl kein großmächtiger Held war) waren unkundige Ritter, Kämpfer, Krieger. Sie waren es gewohnt, Gefahren zu trotzen und Abenteuer zu bestehen. Diese Nervenstärke und Disziplin merkte man ihnen an und sie schien sich auch auf die Söhne zu übertragen. Advon beäugte die vier Jungen verstohlen. Der Knabe mit der Brille, der wohl zu dem alten Ritter gehörte, passte nicht so ganz zu den anderen, aber auch er wirkte weniger verängstigt, als es der außergewöhnlichen Situation angemessen war. Advon rief sich ins Gedächtnis, dass diese Menschen keinerlei Vorstellung von Magie und Chaosgeistern hatten. Das waren Unkundige, deren alltägliches Leben ganz anders aussehen mochte als seines, und die auf die Mächte vertrauten, um sich darin zurechtzufinden.

Der Junge machte sich bewusst, dass jeder dieser unkundigen Knaben bereits in den Fußstapfen der tapferen Väter stand. Sie hatten längst begonnen, echte Ritter zu werden. Er hingegen, der Sohn des Goldenen … nun, er konnte auf einem Einhorn reiten. Aber das, so nahm sich Advon vor, sollte nicht das Einzige bleiben, das er diesen unkundigen Jungen voraushatte.

Pataghíu, dachte er zaghaft. Zu denen will ich einmal gehören! Ich möchte einer von denen sein. Nein. Ich will einer von denen werden!

Aber … ob es den Mächten gefällig war, wenn er sich mit unkundigen Kindern anfreundete? Ob Dýamirée sich so nach Freundinnen sehnte, wie er, dem angesichts der unkundigen Rittersöhne bewusst wurde, wie allein er all die Zeit gewesen war? Ob sie sich vielleicht lieber mit dem blonden Mädchen, dessen Anblick Galéon so verstört hatte, abgeben würde, anstatt Zeit mit ihm zu verbringen? Oder mit dem jüngeren Kind, das so liebevoll den Schnauzbart umarmte?

Advon erhob sich und fasste sich ein Herz. Vorsichtig, um niemanden zu erschrecken, ging er auf die Kinder zu, um sie aus der Nähe zu betrachten. Er wollte niemanden ansprechen. Er wollte sie nur ganz aus der Nähe betrachten, Kinder und ihre Eltern, ganz ohne Magie. Das war so schön anzusehen! Die Zärtlichkeit, die Liebe der Erwachsenen hüllte die fremden Kinder schützend ein. Die teirandanja hatte ihre Eltern umhalst. Es war nichts Herrschaftliches an den dreien, nur Innigkeit. Der schnauzbärtige Ritter hatte das kleine Mädchen auf dem Schoß. Niedlich war sie, mit ihren großen Augen und den langen dunklen Locken. Sie hob den Kopf und wandte sich in seine Richtung, als könne sie ihn wahrnehmen, schaute aber an ihm vorbei.

„Opa”, sagte sie dann ernst, „da ist die Musik wieder!”

„Musik?”, fragte der ältere Ritter. „Welche Musik?”

„Die Musik, der wir gefolgt sind, bis es so plötzlich hell wurde und wir hier bei euch ankamen.”

„Ich höre nichts.”

„Es scheint”, mischte sich der alte Ritter ein, „dass nur die yarlaranda diese Phantommusik hören kann. Sie fing vorhin schon einmal damit an, Herr Daap.”

„Was ist das für eine Musik, Tíjnje?”, fragte die teiranda aufmerksam. „Was hörst du an diesem furchtbaren Ort?”

„Ich weiß nicht. Ich glaube, es ist jemand, der auf einer Geige spielt.” Die Kleine lächelte. „Oh, das ist so schön! So fröhlich!”

Advon horchte. Wenn ein unkundiges Kind hier etwas hören konnte, dann musste er doch erst recht etwas wahrnehmen. Und tatsächlich. Es war so leise, dass das Geräusch seines eigenen Atems es übertönte. Aber tatsächlich. Da klang Musik, die hier nicht sein sollte. In Fetzen und verzerrt, so leise …

„Eine Geige?”, fragte der Ungerüstete mit der blauen Tunika beunruhigt.

„Was ist, Althopian?”

„Wenn es stimmt, dass Meister Yalomiro in der Nähe ist … Nun, ich habe ihn einmal auf seiner Geige spielen hören. Ich sah ihn mit Musik zaubern.”

„Wo war das?”

„Am Hof von Benjus von Valvivant.”

„Das fehlt uns noch”, murmelte der mit der Narbe. Advon schaute verwirrt von einem zum anderen.

„Oh ja”, kam es stattdessen aufgeregt von dem kleinen Mädchen. „Meister Yalomiro soll herkommen! Vielleicht macht er das helle Licht weg!”

„Das mögen die Mächte verhüten!”

„Meister Yalomiro ist nett”, zürnte das kleine Mädchen in Richtung des unwirschen Ritters, mit einer Nachdrücklichkeit, die den Mann zusammenzucken ließ. „Wir sind ihm in der Bibliothek begegnet, und er gab mir ein feines Lichtlein zum Spielen!”

„Aber das hier ist kein Spiel!”

„Bitte, Herr Andriér!” Das war die teirandanja. „Bitte! Lasst ihn uns suchen. Lasst Tíjnje uns zu ihm führen! Meister Yalomiro bringt uns hier heraus! Ganz bestimmt!”

„Majestät! Herr! Sagt Ihr doch etwas dazu! Der Kerl hat uns doch letztlich hierher gebracht!”

„Nein, Vater”, sagte der Junge, der zu dem Narbengesichtigen zu gehören schien. Er war deutlich älter als Advon und sicher schon ein guter Kämpfer. „Es … es war unsere Schuld.”

„Wie bitte?”

„Jándris!”, kam es von dem ältesten Jungen. „Wir sollten doch- “

„Wir waren es. Wir haben Merrit Althopian in den Turm gesperrt. Weil … weil wir es ihm heimzahlen wollten. Wegen des albernen Waffengangs mit dem Besenstiel. Nicht wahr, Láas?”

„Wir … aber … Ja. Ja, so war es. Vater, ich schäme mich dafür. Wir haben uns kindisch und unritterlich benommen. Wir waren in unserem Stolz verletzt und dachten, Merrit Althopian würde schon Furcht bekommen, wenn er die Nacht im Turm verbringt.”

„Und da ist euch nichts Besseres eingefallen als ein Raum, den zu betreten euch ausdrücklich verboten war?”, rief der teirand aus.

„Woanders wäre er uns doch ausgekommen”, sagte der Sohn dessen mit der Narbe, mit einer Harmlosigkeit, die Advon keck und beeindruckend fand.

„Ihr habt … Jándris! Láas!” Der Schnauzbart schwankte wohl zwischen Empörung und Verwirrung. Aber bevor er etwas sagen konnte, ergriff der blonde Junge mit den seltsamen, unwirklich blauen Augen das Wort. „Ich habe diese Lektion verdient, Vater. Ich hätte mich nicht mit den beiden anlegen dürfen. Ich habe mich überlisten und aus eigenem Leichtsinn in eine Falle locken lassen. Damit bin ich quitt mit den yarlandoray. Ich bin sicher, dass sie nicht gewusst haben, dass der Turm … hierher führt.”

Advon verstand kein Wort von dem, was hier geredet wurde. Aber zwischen den drei Jungen spielte sich etwas ab, das ihn faszinierte. Zwischen ihnen und der teirandanja, die verlegen und erleichtert zugleich zu sein schien. Was hatte das Mädchen zu verbergen?

Der Junge mit der Brille und das kleine Mädchen schwiegen. Offenbar hatten auch sie eine Rolle in dem gespielt, was all die Unkundigen hergebracht hatte. Dass sie nichts sagten, war von derselben Art wie die Rede der Rittersöhne. Da war etwas zwischen ihnen allen, das sie verband.

Ein Abenteuer, dachte Advon begeistert. Wie in den Geschichten von Papa. Die Kinder haben zusammen ein Abenteuer erlebt und einen Geheimgang gefunden, der hier hingeführt hat!

„Es war alles eine unglückliche Fügung”, sagte die teiranda. „Und die Schuld, edle Herren, liegt wohl nur bei uns, bei mir und meinem hýardor. Wir waren unachtsam, entgegen der Warnung des Meisters. Und nun lasst uns Tíjnje folgen. Wir wollen Meister Yalomiro finden und hoffen, dass er den Weg zurück ins Weltenspiel weiß. Wir …”

„Majestät”, sagte der alte Mann. „Still! Horcht!”

Offenbar hatte sein Wort Gewicht. Alle verstummten und es wurde still im Chaos.

Es kratzte. Es schabte. Es knurrte. Alle hörten es.

„Die Chaosgeister …”, wisperte der Junge mit der Brille. Der Blonde zog unter seinem Gürtel einen ramponierten Streitflegel hervor. Jeder Mann, der eine Waffe trug, zückte diese. Nur der Mann mit der blauen Tunika hatte nichts zur Hand. Mit seiner Axt war Galéon im Nichts verschwunden. Nun, er sah aus, als würde er seinen bloßen Händen vertrauen, wenn es nicht anders ging.

Farbenspiel schnaubte und kam auf Advon zu. Das Einhorn bleckte die Zähne und seine Flügel zitterten. Es war bereit.

Nur Advon, der hielt einen Lichtwächter an einem Faden aus schierem Willen fest wie an einer Treidelleine und wusste nicht, wie lange das noch glücken mochte.

***

Auf einem geflügelten Pferd zu reiten war etwas, das in meiner Welt allenfalls Akteure in alten Mythen oder Märchen bewerkstelligt hatten, bevor der Kitsch zupackte und zumindest für meinen Geschmack alles verdarb und infantilisierte. Genau in der Weise, in der es mir die Einhörner verdorben hatte.

Nun hatte ich beides in einem, ein geflügeltes Tier, ein Einhorn, und ich bangte um mein Leben. Oder eher, um meine Unversehrtheit, denn mir war bewusst, dass ich einen Sturz aus schwindelnder Höhe überleben, mir aber wahrscheinlich sämtliche Knochen brechen würde.

Dass ich gut achtgeben musste, Elosál nicht zu berühren, machte die Sache nicht einfacher. Sie hatte das Problem sehr pragmatisch gelöst, indem sie den vollkommen verwirrten Pferdeknecht angewiesen hatte, aus stabilen Lederriemen eine Art Haltegriff seitlich am hinteren Teil des Sattels zu improvisieren, sodass ich hinter dem Sattel sitzen und mich daran statt an ihr festhalten konnte. Das war sicher nicht besonders bequem für Sonnenstrahl und hatte zur Folge, dass mir der Schwingenschlag der Stute Böen ins Gesicht blies, an meinen Haaren zerrte und das Atmen erheblich erschwerte.

Ich tat das, was ich in solchen Situationen immer tat. Ich hinterfragte es nicht, versuchte, mir einzureden, dass ich träumte und diejenigen, die mir in eine solche Situation gebracht hatten, wohl wissen würden, was sie taten.

Abgesehen davon, dass Elosál mich solcherart mit sich schleppte wie ein hastig zusammengerafftes Gepäckstück, war es sehr beeindruckend, ein Einhorn in Aktion zu erleben. Sonnenstrahl, obwohl zierlicher als die wuchtigen Einhörner der Regenbogenritter, war immer noch weit größer als das Pferd, das Moréaval mit in den Wald Boscargén gebracht hatte . Die Bewegung ihres Körpers war eine seltsame Mischung aus geradlinigem Segelflug, den sie alle paar Sprünge mit ihren riesigen Schwingen neu anschob, und den rhythmischen Bewegungen eines Pferdes, das auf einem federnden weichen Untergrund galoppierte. Nach dem, was ich aus den wirbelnden Bewegungen der Regenbogenritter in dem Schwarm ableiten konnte, den ich aus der Ferne gesehen hatte, musste jeder Einzelne von ihnen als Reiter die Fertigkeiten eines Kunstfliegers oder Kampfpiloten haben. Sonnenstrahl rannte einfach nur geradeaus, und ich konnte nur erahnen, wie hoch oben wir über dem Erdboden waren.

Es war berauschend und furchteinflößend zugleich. Als ich mir die buntkitschigen Zeichentrickfiguren in ihren Zuckerwattewelten vorstellte, musste ich leise und ziemlich blöde kichern.

„Was amüsiert Euch?”, wollte Elosál wissen. Ihre Stimme klang verwirrt und war bemerkenswert deutlich zu hören.

„Nichts. Das … ist jetzt nicht so leicht zu erklären.” Ich rief mich zur Ordnung. „Wohin reiten wir?”

Ich hatte erwartet, dass Elosál sich ihrem Heer aus bunten Einhornreitern anschließen wollte, aber das hatten wir hinter uns gelassen. Die fajía lenkte Sonnenstrahl in Richtung Wüste. Der Cielástel lag zwischenzeitlich weit hinter uns. Das Portal war, nun nicht mehr ein schwarzer leerer Schlund. Eine leuchtende Scheibe hing über dem höchsten Turm, wie ein zweidimensionaler, riesengroßer Mond, und leuchtete unheilvoll.

„Sie wollen in die Wüste, an den Ort, wo die Wesen hervorgekommen sind. Sie werden versuchen, die Chaosgeister durch dasselbe Loch wieder ins Chaos zu treiben, aus dem sie gekommen sind.”

„Ihr meint, da ist sowas wie ein Eingang? Ein Tunnel?”

„Eher so etwas wie ein Windninchenloch.”

„Und Ihr wisst, wo das ist?”

„Ja.” Sie schwieg einen Moment und setzte hinzu: „Und ich kann nicht begreifen, wieso all das unter unseren Augen geschehen konnte.”

Ich schwieg, da es ohnehin anstrengend war, gegen den Schwingenschlag anzuschreien. Elosál nahm es als Aufforderung, weiter zu reden.

„Nach den Chaoskriegen”, begann sie, „haben wir den Unkundigen ein Versprechen gegeben. Damals erschien uns das angebracht und fair, denn niemand konnte damit rechnen, dass es sich wiederholen würde. Wir haben dem konsej und den Bewohnern von Aurópéa gelobt, dass niemals einer von uns ihre Stadt betritt und wir uns nicht mit Magie in ihre Geschäfte einmischen. Es sei denn, wir werden offiziell und ausdrücklich darum gebeten. Wir tun nichts ohne den ausdrücklichen Wunsch der Unkundigen.”

„Das ist bei den Schattensängern ganz ähnlich”, erklärte ich.

„Und? Hält sich Euer hýardor daran?”

„Ich weiß nicht. Zählt es, wenn er den Feldern und Gärten der Unkundigen ringsum heimlich etwas Kraft gibt, wenn sie kränkeln oder kümmern?”

„Also mogelt er. Er gefällt mir zunehmend gut, Euer hýardor. Hoffen wir, dass wir alle dies hier gut überstehen. Jedenfalls – arcaval’ay und fajíaé schummeln nicht. Die Unkundigen wollen und brauchen uns nicht. Nicht mehr. Zu viel ist durch Magie verheert worden. Nur eine Sache, die obliegt uns weiterhin. Eine, um die uns kein Unkundiger gebeten, sondern für die Pataghíu uns ins Weltenspiel gesetzt hat. Wir verteidigen die Grenze vom Rand von Soldesér zum Chaos hin, damit die Chaosgeister dort bleiben, wo sie hingehören. In der Spielzeugtruhe des Widerwesens.”

„Und das hat all die Zeit funktioniert?”

„Chaosgeister sind nicht besonders intelligent, Meisterin Salghiára, und Soldesér ist riesig. Würden sie an dieser Grenze ausbrechen, läge lange, lange Zeit nichts vor ihnen als Sand um Sand um Sand. Nichts, was sie verwüsten könnten. Verirrt sich alle paar Dutzend Sommer ein einzelner, scheuchen wir ihn zurück. Um Chaosgeister aus dem Chaos herauszuholen, müsste man sie lenken und treiben. Oder eben anlocken. Genau das ist geschehen. Ovidáol Etaímalar hat ihnen Köder geboten, und sie haben sich wohl durch das Chaos gebuddelt wie die Tunnelratten in einen Kornspeicher. Nun sind sie dort draußen, wahrscheinlich nur eine kleine Vorhut, die von dem geheimen Futterplatz wusste. Das Chaos ist dabei instabil geworden.”

Ich war gar nicht so sicher, ob ich es so genau wissen wollte. Trotzdem fragte ich: „Futterplatz?”

„Offenbar hat Ovidáol sie über längere Zeit mit Unglücklichen angelockt, die in Aurópéa ihr Leben verwirkt haben.” Sie lachte bitter auf. „Daran herrschte nie ein Mangel. Aber irgendwann haben die Unkundigen begonnen, die Urteile in der Wüste zu vollstrecken. An einem Ort, den Ovidáol Etaímalar dazu vorbereitet hat.”

„Aber wie denn? Ich denke, er hat seine Magie eingebüßt?”

„Sicher hat er den Ort schon während der Chaoskriege vorbereitet und neu belebt, sobald er die Gelegenheit hatte, in den konsej aufzusteigen und dort die entsprechende Zuständigkeit für die Gerichtsbarkeit zu erhalten. Und damit den Zugang zu geeigneten Ködern.” Sie schaute sich zu mir um. „Um diesen Posten haben die alten Leute sich sicher niemals gerissen. Das Alter macht milde, Meisterin Salghiára.”

„Aber er konnte sich doch nicht sicher sein, dass er seinen Stab zurückbekommt!”

„Doch, ziemlich sicher sogar. Er hat es lange vorbereitet. Er wusste, dass Cýelú erpressbar war.”

Das sagte sie so traurig, dass es mir taktvoller erschien, nicht nachzufragen. Doch offenbar wollte sie es aussprechen.

„Wir lieben einander sehr, Meisterin Salghiára. Das ist … so kostbar. Ovidáol Etaímalar konnte Cýelú mit der Liebe zu seinem Sohn und seiner Sorge um mich wohl bestens manipulieren. Cýelú hat die Schrecken gesehen, damals, und er weiß, was es zu verteidigen gilt. Bei den Mächten, wir haben ihm sogar Advon überlassen, damit dem Kind nichts zustößt. Wir haben uns von einer billigen Larve, von der Maske einer armen alten Frau täuschen lassen, die er sich für einen so arglistigen Zweck geholt hat. Wenn ich daran denke … ein Kind, das keine Magie hat, und Magier, der die seine verloren hat. Welchen Genuss mag es ihm bereitet haben, sich über Advon zu erheben und uns mit Sorge zu blenden. Wir hatten den Verfluchten zehn Sommer lang im Haus und keinen Verdacht geschöpft!”

Ich fühlte mich verpflichtet, etwas Tröstendes zu ihr zu sagen, aber mir fiel nichts ein. Ich stellte mir vor, wie beschämend es für ein übernatürliches Wesen wie eine fajía sein musste, von einem geächteten, entmachteten Magier überlistet zu werden. Wie furchtbar, zu erkennen, dass sie all die Zeit den Mörder ihrer Schwestern beherbergt und in der Nähe ihres Sohnes gehabt zu haben.

„Was machen wir, wenn wir an diesem Windninchenloch sind?”, fragte ich.

„Wir verschließen es hinter ihnen”, sagte sie grimmig. „Mit Pataghíus Feuer und dem Zorn der Farben!”