
Das Wasser floss nun auch aus den Fensterscharten des Turmes ab. Sehr viel langsamer, als es die Regeln der Natur eigentlich vorgegeben hätten. Die Flut, die hätte wie ein Schwall hervorstürzen müssen, rann als feuchter Film die Mauern herunter, nicht mehr, als wringe jemand dort oben jeweils einen Putzlappen aus.
Jóndere Moréaval hielt seine hýardora fest im Arm. Die strahlende Scheibe über dem Turm erleuchtete den Burghof, blendete sie aber nicht mehr. Eine Weile waren Moréaval bunte Farbkleckse vor dem Augenlicht hin und her geschossen, aber das wurde nach und nach immer weniger. Die Mächte hatten sie also nicht dauerhaft blind gemacht. Aber etwas anderes tun, als einfach nur zuzuschauen, wie das Wasser quälend langsam endlich den Weg ins Freie fand, das konnten die beiden nicht. Moréaval hatte zwischendurch noch einmal versucht, die Tür mit der Axt zu bearbeiten, aber das hatte nach wie vor zu nichts geführt.
Das Wasser spülte Sand, Stroh und kleinere Gegenstände vor die Mauern, die am Boden zurückgeblieben waren. Die Halle stand sicher daumenhoch unter Wasser, und die tiefer gelegenen Räume, die Küche etwa, wieder trockenzulegen würde Tage in Anspruch nehmen. In dem alten Verlies und den Vorratskellern würde man es mühsam herausschöpfen müssen. Die Lebensmittel darin hatte die Flut dort sicherlich verdorben, und das Salzwasser würde sicher auch dem Boden nicht gut tun, in dem es versickerte.
Was für nebensächliche, banale Gedanken! Tíjnje und Láas waren im Turm, die anderen Kinder, alle yarlay und die teiranday! Wenn die Mächte nicht an ihnen ein Wunder gewirkt hatten, dann war es unmöglich, dass sie überlebt hatten. Wenn Noktáma, Pataghíu und das Licht nicht Gnade mit den unschuldigen Kindern gehabt und den Vätern und der teiranda etwaige geheime Missetaten vergeben hatten, würden sie im Turm nur noch ihre Leiber vorfinden.
Was ist ihnen zugestoßen, den teiranday und den Herren ihrer yarlmálon?, würde er, der Überlebende der Hochedlen von Wijdlant, sich von den anderen teiranday fragen lassen müssen. Insbesondere Benjus von Valvivant wäre daran interessiert, angesichts all der herrenlosen yarlmálon an seiner südöstlichen Grenze. Jóndere Moréaval war sich recht sicher, dass ihm niemand abkaufen würde, dass die anderen Herren, die Majestäten und deren Nachkommen allesamt in einem Turm ertrunken waren.
Und dann würden sie vielleicht beginnen, sich für die verwaisten yarlmálon zu interessieren, Benjus von Valvivant von der einen und – mögen die Mächte bewahren – jene, welche auch immer in Rodekliv und Ferocrivé im Osten das Sagen haben mochten. Ein leichtes Spiel mochten sie dort haben, insbesondere mit Althopian und Emberbey, wo nicht einmal mehr eine Dame zurückgeblieben war, um die Geschicke zu leiten. Die Burg des teirand, Spagor, die würde sich wohl die Stadt Virhavét einverleiben. Vielleicht, so dachte Moréaval, wäre dies das Gnädigste, das passieren konnte. Die yarlmálon von Grootplen und Altabete … vielleicht käme es Benjus von Valvivant in den Sinn, jeweils einen der zahlreichen Brüder aus der Familie Lebréoka dort als Statthalter in seinem Sinne einzusetzen.
Und er? Als verwaister yarl mit einem recht kleinen yarlmálon würde ihm bald nichts anderes übrig bleiben, als sich einem der neu geordneten Nachbarreiche anzuschließen. Entweder das, oder einer der anderen würde es sich holen. Spätestens dann, wenn das Licht ihn selbst zu sich befahl, denn Tíjnje war fort, und einen Sohn gab es nicht. Und selbst wenn die Mächte ihm und seiner hýardora noch ein zweites Kind geben sollten, wäre die Frist zu kurz, einen wehrhaften Nachfolger seiner selbst daraus zu machen.
Und wenn die anderen teiranday ihm nicht glaubten, was geschehen war, auch wenn er eine gesamte Burgbesatzung als Zeugen aufbringen konnte? Wenn sie am Ende, aus Unglauben oder Kalkül, ihm, dem Überlebenden, auf irgendeine Weise die Schuld, vielleicht einen heimtückischen Vorsatz unterschoben und ihn vor ein yarlpénar stellten, ihn für etwas verurteilten, was sich nicht erklären ließ? Was sollte dann aus seiner geliebten hýardora werden?
Moréaval schaute auf den Zauberstein, der immer noch in der Lücke lag, die der Steinmetz aus der Mauer gebrochen hatte, vor dem hinabrinnenden Wasser geschützt wie hinter einem kleinen Sturzbach, und begriff mit zunehmendem Entsetzen, dass es nicht nur um Tíjnje, seinen größten Schatz ging. Die Zukunft und der Frieden, die lebten und starben mit den Leuten, die der Turm gefangen hatte und die vielleicht darin umgekommen waren.
War das ein absurder Zufall? Oder ein großer, ein sehr großer Plan, den jemand von langer Hand vorbereitet hatte? Ein Plan, ein so großer Rahmen, dass selbst Meister Yalomiro, was auch immer er dazu beigetragen hatte, es ebenso arglos und in guter Absicht getan hatte, weil er das Gesamte in seinen Ausmaßen unmöglich hatte überblicken können?
„Sie lebt doch noch, nicht wahr, Jóndere?”, fragte die yarlara bang und so leise, dass er es kaum hören konnte. „Sie leben doch alle noch, nicht wahr? Tíjnje und mein Vater und mein kleiner Bruder …”
„Mögen die Mächte es geben”, murmelte er. „Möge dieser Turm nicht das Weltenspiel ins Wanken bringen.”
***
Ovidáol reagierte nicht, als der Schattensänger erneut die Geige zur Hand nahm und zu spielen begann. Yalomiro lächelte grimmig. Damit hatte der Verfluchte also nicht gerechnet, nicht geahnt, dass er die Schatten nicht so einfach mit einem neuen Körper verlassen konnte. Von den wenigen Fragmenten, die von dem alten, ursprünglichen Körper noch vorhanden waren, erkannte der Schattensänger kaum noch etwas in dem blendenden Licht, aber die Ratlosigkeit, die wütende Enttäuschung, die frustrierte Mordlust, die das verbliebene Wesen ausstrahlte, die war nicht zu ignorieren.
Nun musste er den Verfluchten nur noch so lange an einer Stelle halten, bis Dýamirée ihren Plan vollendet hatte. Ein süßer Plan, so kindlich und unschuldig, dass es Yalomiro nicht gewundert hätte, wenn sie Erfolg damit haben würde.
„Ich rede mit Noktáma”, hatte sie ihm anvertraut. „Ich bitte Noktáma, dass sie uns hier heraus lässt!”
„Vielleicht ist das nicht in ihrer Macht”, hatte er eingewandt, sehr vorsichtig, um sie einerseits nicht zu entmutigen und andererseits Enttäuschung vorzusorgen. Noktáma redete nur sehr selten zu Schattensängern. Er selbst hatte zwar einmal, in einer ähnlich dringlichen Lage, ihre Stimme gehört und ihre Gegenwart erfahren. Er wäre vermessen, von ihr zu erwarten, dass sie ihm diese Gunst noch einmal gewährte. Aber Dýamirée … die überstarke Magie, die musste doch ein Zeichen sein, etwas, womit Noktáma das Kind gewappnet hatte. Vielleicht machte die Dunkelheit bei Kindern mit kristallklaren Herzen noch eine Ausnahme.
Für einen sehr kurzen Moment hatte Yalomiro in Erwägung gezogen, die Gelegenheit zu nutzen und Ovidáol Etaímalars bescheidene Reste zu töten, um Dýamirée und sich selbst aus dieser absurden Sackgasse herauszubringen. Er hatte den Gedanken schnell wieder verworfen, denn einerseits war er sich sicher, dass Noktáma es nicht gutheißen würde, wenn an ihrem heiligen Ort ein Leben, so ruiniert es ohnehin schon sein mochte, genommen wurde. Andererseits würde die schrecklichste Kunst, die sie selbst ihren Dienern verliehen hatte, die Fähigkeit, mit einem Blick zu töten, möglicherweise ohnehin nicht funktionieren. Einerseits, weil es letztlich ebenfalls Magie war. Zum anderen, weil Ovidáols Augen vielleicht gar nicht mehr dazu geeignet waren, den Blick zu entgegnen. Und zum Dritten, weil er selbst dann sein eigenes Herz beflecken würde, vielleicht ohne dass es Not tat.
Was soll das?, fragte der Verfluchte wütend, als Yalomiro die ersten lautlosen Töne spielte. Du kannst hier nicht zaubern!
Ich zaubere nicht. Ich habe dieses Werkzeug nicht nur für Magie geschaffen. Zuvorderst ist es für Musik da.
Lächerlich! Was für eine alberne Idee!
Weißt du, sagte Yalomiro, strich zart über die Saiten und ließ die Melodie um sich fließen, das hat Meister Gíonar damals auch gesagt. Gíonar Boscargén. Erinnerst du dich an den Meister oder die Meisterin, die deinerzeit diesen Namen trug?
Ich erinnere mich, wie ich sie auslöschte.
Nun, Meister Gíonar hatte es etwas taktvoller ausgedrückt, da er mein Werkzeug wohl für zu extravagant hielt. Meister Askýn hat mich gewähren lassen. Er hat mich stets ermutigt, wenn mir neue Ideen kamen. Sie waren wohl nicht ganz so zerstörerisch wie die deinen.
Und was willst du nun damit bezwecken, indem du hier herum fiedelst?
Nichts weiter. Ich finde es lediglich angenehmer, als wenn wir einander hilflos anschweigen.
Verflucht sollst du sein! Du hast uns in diese Lage gebracht! Hättet ihr mir den Stab überlassen, längst wäre ich am Ziel!
Ovidáol, fragte Yalomiro und spielte, lockend, zärtlich, machtvoll, bist du eigentlich jemals dem Widerwesen begegnet?
Dem Widerwesen selbst? Warum sollte ich?
Nun, ich nahm an, dass es bemerken würde, dass du ihm einem Teil seiner Spielsachen fortgenommen hast, wie ein Kind, das dem anderen die Murmeln stibitzt. Hattest du niemals Angst, dich vor dem Widerwesen für diese Dreistigkeit verantworten zu müssen?
Und wenn es dem Widerwesen ganz recht gewesen wäre? Wenn es ihm möglicherweise sogar gefallen hat, was ich getan habe?
Möglich, sagte Yalomiro und erfüllte die strahlenden Schatten mit seinem Lied. Mochte Noktáma Dýamirée anhören und ihrer unschuldigen Bitte geneigt sein. Aber darauf verlassen würde ich mich nicht.
Die Töne fluteten lautlos durch das magische Licht und verwirbelten damit. Yalomiro stellte sich vor, dass die Melodie sich durch Noktámas Unendlichkeit schlängelte wie ein endloser Faden Spinnenseide, stark und ein wenig klebrig.
Yalomiro ließ seine Gedanken schweifen. In seinen Sachen, daheim im Etaímalon, da hatte er einige Magnetsteine, einer davon dünn und spitz wie ein Schreibgriffel. Meister Askýn hatte ihm damals, als er selbst noch ein Knabe gewesen war, der seine Lehre gerade begann, gezeigt was sich damit und einem flachen Kistchen voller Metallkrümel anstellen ließ. Als er beides später Dýamirée zum Spielen gegeben hatte, war sie ebenso fasziniert gewesen.
Er schloss die Augen und konnte die Musik sehen, sie strich und streichelte durch das silbrige Gleißen und leuchtende Partikel begannen, daran anzuhaften. Und er sah Dýamirée, sie stand hinter Ovidáol und der Stab in ihrer Hand leuchtete und blendete, doch das Licht … es wurde mürbe. Es zerfiel, begann, in Fragmente zu zersplittern und zu schimmern, wie Morgentau, nur dass das Leuchten aus seinem Inneren drang.
Ovidáol stöhnte und streckte hilflos seine sonderbare Hand auf, als er sah, was Dýamirée mit dem Stab, seinem Stab anstellte, wie sie begann, damit auf kindliche, unschuldige Weise und ein wenig unbeholfen die Magie zu formen, das Licht in viele, winzige Prismen aus Glas oder Eis oder Kristall, so genau wusste Dýamirée das selbst wohl nicht, einzuschließen. Buntes Gefunkel begann Dýamirée zu umflimmern und um sie herum zu wogen, wie die winzigen Algen, wie Partikel im Wasser.
Yalomiro spielte. Seine Melodie begann, die bunten Lichtlein zu fischen und an sich zu ziehen. Wo sie an der Musik hafteten, begannen sie sich zu filigranen Kristallen zusammenzusetzen, wie Eisblumen, wie Sternchen aus Mondlicht und Farben. Fröhlich und lebendig sah das aus, nicht wie Schattenmagie, aber wie etwas, das Noktáma in ihrem Reich duldete. Yalomiro war fast amüsiert darüber. So mochte Magie, gute, kraftstrotzende, unschuldige Magie aussehen, wie die Phantasie eines Kindes sie sich vorstellte.
Das ist sehr hübsch, mein kleiner Stern, lobte Yalomiro. Er begann, sich zu bewegen, seine Melodie wurde fröhlicher, schneller. Warum machst du das so?
Sie freute sich über das Lob, lachte ihn an, als stünde der zerfetzte verfluchte Schattensänger nicht zwischen ihnen und litt Qualen und Ekel vor dem, was geschah.
Ich dachte, Advon würde das gefallen, antwortete sie. Bei Advon daheim ist alles so bunt und schimmert in der Sonne. Guck, bei mir schimmert es im Mond und ist trotzdem bunt. Darf das so sein, Papa?
Es ist wunderschön, kleiner Stern! Sollen wir es einsammeln und mitnehmen, damit du es Advon zeigen kannst?
Sie nickte eifrig und machte noch viel mehr Stückchen buntes Licht. Es umflirrte sie, und sie wurde mutiger. Sie formte und lenkte es, und unter die Lichtkristalle mischten sich flatternde Schmetterlinge aus Licht, ein ganzer Schwarm, und der wurde zu einem galoppierenden Einhorn. Einem etwas unförmigen mit dünnen Strichbeinchen und übertrieben viel Mähne und Schweif, aber einem, das Dýamirée selbst geschaffen, es mit ihrer Magie gemalt hatte. Sie lachte.
Was tut ihr?, rief Ovidáol mit wachsendem Entsetzen. Welcher Frevel! Welche Verschwendung!
Yalomiro spielte und ließ seine Musik dem Phantasieeinhorn übermütig nachjagen. Wie gut fühlte sich das im Herzen an! Ja, es war vollkommen nutzlose Zauberei, eine jedoch, die Noktáma gutzuheißen schien, denn sie ließ zu, dass Dýamirée im Schutz ihrer Domäne ausgelassen ihre neuen Kräfte ausprobierte. Längst tanzte Dýamirée, den Stab in der Hand, zu seinem Lied, zu ihrer beider Lied, in dem auch Salghiára anwesend war. Sie beide tanzten und wichen dem Scherbenmann aus, der sinnlos nach dem Stab und der Geige haschte, um das Spiel zu unterbrechen.
Doch mit jedem Lichtlein, das sich mit der Melodie vermischte, veränderte sich etwas in Noktámas Domäne. Das grelle Leuchten wurde immer dichter, immer kleiner, je mehr die Musik davon einfing. Die Magie blieb daran hängen wie in einem Sieb, in einem Filter, und mehr und mehr kehrten die Schatten zurück, verdunkelte sich Noktámas Domäne zurück zu der warmen, schützenden Finsternis. Aus der ungezügelten Magie aber war durch Dýamirées Wirken und ein wenig Anleitung durch seine Kunst ein nächtlicher Regenbogen geworden, der um sie herum glühte und dabei seltsam unwirklich schimmerte. Ab und zu blitzten silberne Sternchen darin auf.
Seid ihr fertig mit diesen Narreteien?, zeterte der Verfluchte. Schaut doch nur, was ihr getan habt! Wie ihr die reine Magie besudelt und verdorben habt! Das ist … kindisch! Und hier heraus bringt es euch auch nicht!
Nein, sagte Dýamirée. Sie streckte die Hand aus und fing den Schattenregenbogen so ein, als schöpfe sie Wasser aus einem Bach. Ungelenk formte sie eine verbeulte Kugel daraus. Aber jetzt können wir es tragen. Jetzt ist es meines! Jetzt ist es aus deinem bösen Stock heraus!
Wohin willst du es tragen?, höhnte Ovidáol. Du bist hier gefangen! Niemals kommt ihr hier heraus!
Und als sei dies ein Stichwort gewesen, klaffte genau dort, wo er stand, ein Riss in Noktámas Domäne auf, und sie alle, der Verfluchte, Dýamirée und Yalomiro, wurden mit einem Ruck, wie durch einen gewaltigen Sog, aus den Schatten hinaus in ein abgestandenes, graues Zwielicht gerissen.
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