
Ich hatte mir bislang nur sehr vage Vorstellungen davon gemacht, was die Chaosgeister letztlich sein mochten. Wie sie aussehen würden, wie groß sie waren, wie schnell und wie zahlreich. Yalomiro hatte zwar gesagt, dass es sich schlichtweg um Monster handele. Anders als zu erwarten gewesen wäre, waren es also keine obskuren, übernatürlichen Gespenster, sondern fleischliche, physisch existierende Wesen. Ich stellte mir sehr verschwommen darunter so etwas Ähnliches vor wie überproportional große Raubtiere, die möglicherweise etwas bizarr aussahen.
Nichts hatte mich darauf vorbereiten können, was sich uns tatsächlich mit einer ohrenbetäubenden, entsetzlichen Geräuschkulisse näherte. Es war schon lange zu hören, bevor es in Sicht kam, und sich dann im Widerschein des magischen Regenbogenschimmers über den Grat der die Senke umschließenden Hügel hinweg wälzte.
Die Kreaturen waren riesig! Zumindest fielen mir die größeren Exemplare zuerst ins Auge, jedes Einzelne gewaltiger als ein Elefant – das größte Lebewesen, das ich jemals vor mir gehabt hatte, in einem Zoo und aus sicherer Distanz. Dass sich zwischen diesen Giganten auch eine Menge wesentlich kleinerer Wesen bewegte, fiel mir in meinem Entsetzen zunächst gar nicht auf, denn die schiere Größe der Kreaturen war nicht einmal das Besorgniserregendste. Es stimmte so vieles an ihnen nicht! Viel zu viele sahen nicht einmal aus wie Tiere oder, um es neutraler zu formulieren: Lebewesen. Manche erschienen mineralisch oder metallisch, andere sahen einfach aus wie separate Gliedmaßen, Tentakel oder Gebisse, die ein Eigenleben entwickelt hatten. Es war ekelerregend, surreal und auf eine ganz sonderbare Weise faszinierend. Obwohl mich schieres Grauen ergriffen hatte, konnte ich einfach nicht wegschauen.
Und natürlich bewegte sich keines von ihnen einfach wie ein Mensch oder Tier. Das Absonderlichste, was ich in all dem Getümmel bemerkte, war eine Art Tausendfüßler mit mehreren aneinanderhängenden Leibern, der wie auf Kufen dahinglitt. Der Sand sprühte unter dem, was auch immer er zur Fortbewegung nutzte.
Diese verstörende, in großen Teilen abstoßende Stampede ergoss sich nun in die Senke, und zwischen ihnen wuselten, kullerten und schlängelten sich die übrigen Kreaturen, wie Miniaturausgaben der großen Wesen. Nun … die kleineren hatten immer noch das Format großer Hunde oder Raubkatzen.
Und dann hörte ich die Stimmen der Ritter in der Luft, den Schwingenschlag der Einhörner. Die arcaval’ay schrien und feuerten ihre Reittiere und die Wesen an, die sie vor sich her trieben. Es waren so viele! Sie flogen dicht und schnell und kurvten umeinander herum wie große Starenschwärme, die sich zum Flug in den Süden sammelten und dabei ungefähr ein ebensolches Getöse von sich gaben. Als der Ritterschwarm über uns war, war das fast noch verstörender als die Monster, denn statt kleiner, wendiger Vogelleiber waren da plötzlich die großen, massigen Einhörner und stampften in der Luft über uns hinweg, wirbelten mit einer solchen Präzision durcheinander, dass nirgends kaum eine Handbreit Platz zwischen ihnen zu sein schien. Hufschlag war nicht zu hören, natürlich nicht. Dafür erzeugten die zahllosen riesigen Flügel, das metallische Klappern des Rüstzeugs, der Waffen und das Geschrei der Ritter ein beängstigendes Dröhnen.
Der Lärm, das beinahe psychedelische Licht über uns, die schiere Erkenntnis, welche Masse sich da über unseren Köpfen bewegte, während eine Welle aus absurden Ungeheuern auf uns zu walzte – all das war eine Reizüberflutung, die ein nichtmagisches Wesen vermutlich außer Gefecht gesetzt hätte. Bei mir reichte es immerhin aus, um mich sprach- und bewegungslos zu machen. Die Monster würden uns überrennen und den Einhörnern sicher im gleichen Moment einfallen, dass sie, den Naturgesetzen folgend, flugunfähig hätten sein müssen. Sie würden abstürzen und uns unter sich begraben.
Elosál nahm meine Schockstarre zur Kenntnis. „Wartet”, rief sie mir zu. „Noch nicht!”
Noch nicht was? Was hätte ich denn Voreiliges tun können? Wir standen am südlichen Rand der Senke, die Wesen stürmten auf uns zu, und wenn ich nun hätte wegrennen müssen, hätte ich weder rechtzeitig nach links oder rechts gekonnt, ohne von ihnen niedergetreten zu werden. Denn so schnell und massig, wie sie heran fluteten, würden sie über die Senke hinweg strömen und weiter in die Wüste laufen.
„Haltet das Wasser fest!”, beschwor Elosál mich. „Wartet! Wartet!”
Aus dem Farbgewimmel löste sich ein einzelner Ritter mit seinem Ross, im Sturzflug glitt er nieder und über unsere Köpfe hinweg. Ich erkannte Weiß mit Gold und ahnte, eher als ich es sicher wusste, dass es Cýelú Irísolor sein musste. Ich sah das Einhorn bedrohlich nahe auf mich zukommen, zog den Kopf ein und kniff die Augen zusammen. Es galoppierte so dicht über mich hinweg, dass ich mir einbildete, seinen Atem zu spüren.
Das Wasser festhalten … wie lange denn noch? Ich hatte, ohne so recht zu wissen, wie ich es fertig brachte, meine Magie in den Wüstenboden versenkt und das Grundwasser herbei beschworen. Aus meiner maghiscal war dazu eine Art Strohhalm geworden, zugleich hielt ich das Wasser gepackt, als hätte ich es mit den Händen aus einem Eimer geschöpft und wagte nun kaum, mich zu bewegen. Wie leicht hätte ich es verschütten können.
So kalt und klar und gut war das Wasser … und so entsetzlich schwer zu packen!
„Ihr macht das hervorragend!”, rief Elosál aufmunternd. Ihre maghiscal war ganz nahe, hatte sich um das Wasser geschlungen wie ein Netz. Ich spürte das wie eine leichte Spannung, es kribbelte. Daran merkte ich, wie nervös auch sie wohl war. Aber in ihrer Stimme, mit der sie mir Motivierendes zurief und mich lobte, lag eine Gelassenheit, die mir imponierte. Hatte sie denn gar keine Angst?
Wo auch immer sie ursprünglich hergekommen, wie sie auch aus einer anderen, einer äußeren Welt in dieses Weltenspiel gelangt war – Pataghíu hatte sich jemanden erwählt, der besonnen und machtvoll für ihn einstand.
Die arcaval’ay formierten sich neu. Sie flogen nun wild kreuz und quer über der Senke hin und her, bildeten eine Art Gitter, unter dem die Wesen nicht mehr ausbrechen konnten. Dann hörte ich links und rechts neben mir schwere Körper niedergehen und traute mich, zu blinzeln. Ich fand mich flankiert von zwei arcaval’ay, der eine feuerrot, der andere strahlend orange wie die untergehende Sonne. Zerrauft und abgekämpft sahen beide aus. Doch trotz alldem, was sie in den vergangenen Stunden erlebt und geleistet haben mochten, schienen sie keinesfalls zu schwächeln. Beide hatten ihre Lanzen zur Hand und gen Norden gerichtet. Vermutlich bildeten sie entlang der Senke mit den übrigen fünf und Cýelú eine Barriere, welche die Chaosgeister nicht so einfach durchbrechen konnten. Ich spürte, dass eine separate Magie sich zwischen ihren Waffen ausspannte wie … ja, ein bisschen wie ein Weidezaun, der unter Strom stand. Die bunte Magie des hellen Tages knisterte an mir vorbei wie ein kunterbunter Lichtbogen.
„Alles in Ordnung?”, hörte ich Cýelú Irísolor rufen. „Elosál, bist du wohlauf?”
„Bleibt zurück!”, antwortete sie ihm, gebieterisch, aber doch mit einem liebevollen, besorgten Unterton in ihrer Stimme. „Ihr müsst sie nur eine kurze Weile halten!”
Die ungezählten anderen Ritter flitzten, stürzten und stiegen über der Senke hin und her. Ab und zu versuchte eines der Monster, hochzuspringen und nach ihnen zu haschen, einem gelang es tatsächlich, eines der Einhörner aus der Luft zu schlagen, ein olivgrünes. Es trudelte, aus der Balance gebracht, abwärts und verschwand mitsamt seinem Reiter in einem tobenden, geifernden Pulk. Ich zuckte zusammen, schrie wohl auch auf und war dankbar, dass all das weit genug fort geschah, dass ich keine Einzelheiten sah. Elosál stöhnte, leise, beherrscht. Ganz zweifellos verspürte sie Schmerz.
Die arcaval’ay, die von Norden nachdrängten, trieben die Nachhut der Wesen in die Senke. Die Kreaturen stauten sich auf, als die nachdrängenden mit Wucht hinzukamen, ohne dass die vorderen ausweichen konnten. Der Schwarm über uns schloss sich erneut zu einer Kuppel zusammen, wie ich sie von den Mauern des Cielástel aus in der Ferne hatte beobachten können. Die Chaosgeister brüllten und bewegten sich durcheinander, bemerkten wohl, dass sie in keine Richtung mehr fortkamen. Wie große Fische, die jemand in einen kleinen Badezuber geworfen hatte, schoss es mir durch den Kopf. Das wirkte so … absurd! Wäre es nicht so monströs, so groß, so verstörend, es wäre … mitleiderregend.
„Wir brauchen Feuer, Cýelú!”, rief Elosál. „Bitte … ich kann das nicht allein.”
„Feuer?”
„Meisterin Salghiára beschwört Wasser. Wir brauchen Hitze! Viel Hitze …”
Ich schaute zu ihr hinüber. Sie kauerte weit genug weg von mir, sodass wir unsere Kräfte hatten auffächern und unter der Senke verteilen können. Der Violette und der Indigofarbene waren an ihrer Seite, weiterhin im Sattel. Cýelú war abgestiegen, aber sein Einhorn wich ihm nicht von der Seite. Ich sah, wie er zu ihr hinüber eilte und mir einen ganz sonderbaren, fast vorwurfsvollen Blick zuwarf. Er stellte keine Fragen, wusste wohl ganz genau, was er zu tun hatte. Sicher zauberten sie nicht das erste Mal gemeinsam. Er kniete sich zu ihr nieder, griff um sie herum und legte seine goldgepanzerten Hände auf ihre zierlichen weißen Finger, berührte den Boden. Sie legte den Kopf zurück und schmiegte ihre Wange an seinen Helm. Trotz des Metalls zwischen ihnen sah das zärtlich, vertraut und liebevoll aus. Was hätte ich darum gegeben, wenn nun auch Yalomiro bei mir gewesen wäre. Fast versetzte mir Neid einen Stich, der meine maghiscal ganz kurz flimmern ließ. Nein, tadelte ich mich selbst. Mit Wasser kann Yalomiro nicht helfen. Das hier ist mein Meisterstück.
Und dann stutzte ich.
Elosál konnte das nicht allein? Sie brauchte Cýelús Hilfe für ihren Feuerzauber? Aber was, wenn er nun nicht hier gewesen wäre? Was – und wie viel hatte Elosál geplant oder selbst bewirkt? Improvisierte sie und verließ sich auf ihr Glück?
Die Monster röhrten, glucksten, tobten und kreischten. Die Flügelschläge der Einhörner wurden immer hektischer und schneller, die koordinierte Flut zunehmend zu einem wilden Geflatter. Wo kamen all diese Regenbogenritter eigentlich her? Wie konnten es so viele sein, so unübersichtlich viele, und wie lange würden sie die Chaosgeister noch zusammentrieben und am Ausbrechen hindern? Und … war dies wirklich der Ort, um sie zurückzutreiben, einen Durchgang aufzustoßen in eine andere Welt, in eine Domäne, an einen Ort, der nicht existieren sollte?
„Meisterin Salghiára!”, rief Cýelú Irísolor, „seid Ihr bereit?”
Bereit? Nun ja. Ich hatte keine Ahnung, was genau ich machen und was daraufhin geschehen würde. Ich hatte sozusagen nur ein bisschen fehlgeleitetes Wasser in der Hand, etwa so viel, wie in einen Baggersee gepasst hätte. Etwa in zweifacher Burgturmtiefe, unter diesem Sand befand es sich.
„Bereit!”, rief ich zurück und versuchte, unbekümmert zu wirken. Vor den Regenbogenrittern wollte ich mir keine Blöße geben, keinen Grund für sie, camat’ay zu belächeln oder zu verspotten. Meine Stimme klang fremd, so als gehörte sie nicht zu mir.
Und dann zuckte Elosáls Magie, und es fühlte sich ganz ähnlich an wie heute Mittag, als Yalomiro und ich durch die Tür in den Cielástel gestolpert waren und das Gold uns den Atem genommen hatte. Die mit Noktámas Gaben unverbindliche Kraft des Hellen Tages drohte, mich zu versengen. Aber das durfte nicht geschehen. Nicht jetzt. Nicht hier. Und nicht so.
Ich ließ meine maghiscal aufgleißen, schleuderte das Wasser mit Wucht nach oben durch den Boden und sang, so heftig und wütend, wie ich konnte.
Einen Lidschlag später explodierte die Senke mitsamt den Chaosgeistern wie ein riesiger Geysir aus Matsch, Sand und kochend heißem Wasserdampf.
***
„Meister Yalomiro!”, rief Manjév erschrocken aus. Ausgerechnet sie war es, die nach dem Schrecken als erstes wieder zu Worten fand. Die Erwachsenen waren instinktiv zurückgezuckt, sogar die Ritter, die in ihrem Leben schon oft beobachtet haben mochten, wie sich jemand weit schlimmer an irgendetwas Scharfem oder Spitzem verletzte.
„Zurück”, zischte Yalomiro zwischen den Zähnen. „Es ist alles in Ordnung. Und, bei den Mächten, lasst das Holz nicht los, sonst ist all das hier müßig!”
„Aber Ihr habt Euch weh getan!”, sagte Tíjnje mitleidig. „Und da kommt flüssiges Silber aus Eurer Hand heraus!”
„Ich weiß”, keuchte er, während rasender Schmerz durch seine Hand, seinen Arm, seinen ganzen Körper pulsierte. Das Blut, das aus der Wunde quoll, verband sich mit den magischen Staubpartikeln aus der Wirklichkeit, dem Wüstensand, vermischt mit Schmutz aus dem Etaímalon, der den Weg in Gor Lucegaths altes Turmgemach gefunden hatte und die Menschen umschlossen hatte wie die Gespinste winziger Spinnen, ganz leicht und sacht. Im Grunde ein sehr einfacher Zauber, fast derselbe, mit dem er vor absurd lang vergangen erscheinender Zeit Salghiáras Weltenschlüssel mit der Einhornfeder verbunden hatte, die im Boscargén am Boden gelegen hatte. „Nicht schlimm.”
„Meister Yalomiro”, drängte Kíaná von Wijdlant, „was zaubert Ihr da? Was wird geschehen?”
„Ich … heile”, sagte er und rang mit sich. Das Gold nahm ihm die Kraft, nicht nur ihm, sondern jedem Zauber, den er im Weltenspiel zurückgelassen hatte. „Ich … öffne die Tür!”
„Aber die Tür gibt es nicht mehr!”, sagte Waýreth Althopian. „Der Turm ist eingestürzt, mit allem, was an Bauten darinnen war!”
„Das hier”, wisperte Yalomiro und tippte mit der unversehrten Hand auf das Brett, „ist die Tür. Zumindest ein Stück davon. Von allem, was ins Chaos gerissen wurde, hat Osse Emberbey das Beste geborgen.”
„Ich?”, flüsterte Osse. „Aber das war Zufall.”
„Nein, Junge”, sagte sein Vater leise. „Es gibt keinen Zufall. All das hier ist Wille und Wirken der Mächte.”
„Aber die Tür”, beharrte Andríer Altabete, „ach was – der ganze Turm, der ist jetzt hinüber!”
„Jetzt”, ächzte Yalomiro. „Aber ich öffne die Tür nicht jetzt!”
„Was soll das heißen?”, fragte yarl Grootplen.
Yalomiro richtete sich stöhnend auf. Ihm wurde schwindelig, so als habe er in kürzester Zeit bereits viel zu viel Blut verloren. Nun, so verkehrt war das nicht. Die Verbindung zu der nicht mehr existierenden Tür in Wijdlant, an der er all die verstörten Unkundigen aus dem Chaos herausziehen musste wie an einer Leine, kostete viel, viel zu viel Kraft. Der Zauber, den er wirkte, war ein Wagnis, vielleicht sogar eine Mogelei. Aber was tat das in einem Spiel, in dem Täuschung und Trug zu den Regeln gehörte? Sein Plan war geglückt, aber wie lange mochte er halten? Und würde seine Kraft ausreichen?
Das Widerwesen beobachtete, zuerst voller Wut, dann voller Interesse. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, die fragile Verbindung zu kappen, aber das tat es nicht. Es schien sich vielmehr daran zu ergötzen, wie er sich selbst überschätzte und scheitern musste, wenn die Unkundigen nun nicht genau das taten, was notwendig war.
Ganz am Rande des Geschehens regte sich etwas. Die minderen Chaosgeister schienen, im Gegensatz zum Widerwesen, nach und nach das Interesse an den Menschen zu verlieren. Es wurden immer weniger. Sie hatten ein neues Ziel gefunden und strebten darauf zu wie Motten einer Flamme, wie die schönen Nachtfalter mit den samtenen Flügeln Noktámas Juwel in einer Sommernacht. Mochten die Mächte diesem sonderbaren jungen Rotgewandeten gnädig gesonnen sein!
„Ich kann Euch die Erinnerungen an das, was ihr hier erlebt habt, nicht nehmen”, murmelte Yalomiro träge. „Obwohl es besser für Euer aller Verstand wäre. Zu viel ist im Weltenspiel geschehen, um es als Traum abzutun. Dennoch … versprecht mir, nur untereinander darüber zu reden.”
„Warum?”, wollte Láas Grootplen wissen.
„Weil man Euch alle für verrückt halten wird. Kein Schutzbefohlener möchte einen wahnsinnigen Schutzherrn über sich wissen. Behaltet diese Schwäche für Euch, wenn Ihr die Dinge bewahren wollt, wie sie sind!”
„Das klingt vernünftig”, gab Andriér Altabete zu.
Yalomiros Blick begann, sich einzutrüben. Wenn nicht jetzt, dann wäre es zu spät.
Ein Herzschlag nur, Noktáma, flehte er. Ein einziger Herzschlag nur!
Er begann, mit letzter Kraft zu singen und zurechtzubiegen, was Raum und Traum und Zeit verzerrt hatte. Das Widerwesen beobachtete fasziniert. Es verhöhnte ihn und spottete, aber dafür hatte er nun keinen Sinn. Solange er lange genug singen und die Unkundigen an der Leine führen konnte …
***
Saháalír hatte sich von dem jungen maedlor und dem Maultierführer mit seinem Stuhl hinaus auf den Hof tragen lassen. Die sinora hatte es, gestützt von den beiden, ebenfalls ins Freie gezogen. Sie schaute hinauf zu der Schwärze hinter dem schimmernden Ring am Himmel. Er hatte seinen Lesestein zur Hilfe genommen, in der Hoffnung, irgendwelche Details auszumachen, aber das war natürlich müßig gewesen.
„Sie sind alle fort”, sagte die sinora. „Es ist kalt.”
Er nickte, zögerte dann kurz und löste den Tuchgürtel, den er über seinem Gewand trug. Nachdem er sich nicht erheben konnte, war es unerheblich, ob er einen trug, und sie konnte damit ihr kahles Haupt ein wenig bedecken.
„Gegen die Kälte”, sagte er sachlich, noch bevor sie die Geste missverstehen konnte.
„Ob sie wiederkommen?”, fragte sie und schlang sich das Tuch, warm von seinem alten gebrechlichen Leib, um Kopf und Stirn.
„So, wie die geritten sind, brechen die sich Hals und Bein”, grummelte der Maultiermann, ohne gefragt worden zu sein. „Mörderisch, sich auf solche Viecher zu setzen, noch dazu als Weibsbilder.”
„Bitte”, tadelte Saháalír. „Wo sind deine Manieren?”
Der Mann brummte etwas Unverständliches. Seinen Respekt vor dem gebrechlichen sinor aufrechtzuerhalten, fiel ihm wohl zunehmend schwer. Saháalír war es egal, solange er sich friedlich benahm. Was sollten nun noch Unterschiede in Stand und Würden für ein Gewicht haben? Letztlich waren sie alle unkundige, machtlose Menschen, verlassen von den Mächten, die hier aus der Entfernung über sie gewacht hatten. Mit der fajía und ihrer schwarzgewandeten Begleiterin war das Heiligtum des Hellen Tages nun von sämtlicher Magie verlassen.
Hatte es nicht seit jeher geheißen, dass jener Tag, an dem alle Magier zugleich den Cielástel verlassen würden, das Schicksal von Aurópéa und des Weltenspiels besiegeln würde?
Der maedlor hatte sich wieder auf die Mauern gewagt, um das verstörende Licht über der Wüste zu beobachten, nachdem das Gleißen verloschen war. Es entferne sich gen Süden, hatte er ihnen in den Hof hinunter gerufen, wobei seine Stimme entlang der hohen gläsernen Wände reflektierte. Es verlagere sich über die Wüste und tobe kunterbunt umeinander, sodass es einem schwindelig würde.
Saháalír seufzte und schaute wieder bang zu dem Wolkenreif empor, diesmal ohne seinen Lesestein. Hatten die arcaval’ay nicht nur die Burg verlassen, sondern machten sie sich auch auf, das Weltenspiel aufzugeben? Was gab es im Süden? Welches Ziel steuerten sie an?
Die sinora schien etwas Ähnliches zu denken. „Wenn sie nicht zurückkehren”, fragte sie leise, „was wird dann aus der Burg?”
„Nun”, entgegnete er, „das ist nach wie vor Pataghíus Heiligtum.”
„Selbst, wenn seine Diener fortgegangen sind?”
„Ich weiß, woran du denkst. Aber ich glaube nicht, dass wir Fremde hier hinein lassen sollten. Wir … müssen die Burg gegen Eindringlinge bewachen lassen.”
Sie lachte lautlos auf. „Wir? Du und ich? Ob es uns noch möglich sein wird, so etwas lange zu bestimmen?”
Saháalír schaute zu ihr hinüber. Im Licht der Laterne erkannte er nicht viel von ihrem Gesicht, aber sicher war es so kummervoll wie ihre Stimme.
„Es werden die nächstälteren folgen, aus der Stadt”, sagte er. „Wer immer das ist. Das müssen wir herausfinden, sobald …”
„Ja”, murmelte sie. „Solange wir noch können.”
„He!”, rief der maedlor. „Da kommt jemand! Auf der Straße.”
„Auf der Straße? Hierher?”
Sie erahnten schemenhaft, wie er auf der Mauer in Richtung des östlichen Tores lief, um von dort besser schauen zu können.
„Reiter!”, rief er dann. „Reiter aus Aurópéa.”
„Vielleicht sucht man uns!”, sagte sie und fasste aufgeregt nach seinem Ärmel.
„Stadtwächter?”, rief der sinor zweifelnd.
„Das weiß ich nicht, Herr. Ich sehe nur Fackeln in der Ferne. Sie sind viel zu weit weg.”
„Sollen wir die Zugbrücke wieder runterlassen?”, fragte der Maultierführer.
„Nein”, entschied Saháalír. „Nicht, bevor wir wissen, wer da kommt.”
„Wer da kommt? Leute aus Aurópéa, natürlich! Unsere Leute.”
„Unsere Leute – in der Nacht”, gab die sinora zu bedenken. „Vielleicht zwielichtiges Volk.”
„Vielleicht auch nicht.” Der Maultierführer schien gekränkt. „Kann doch keiner was dafür, dass es nicht hell wird.”
Der maedlor setzte dazu an, noch etwas hinab zu rufen, aber dazu kam er nicht mehr. Ein ohrenbetäubender Knall, zugleich mit einem gewaltigen Donnern und Krachen schallte unvermittelt durch die Nacht und brachte die Mauern des Cielástel zum Erbeben, sodass es klang wie eine große, mächtige Glocke.
Hinterlasse einen Kommentar