Advon hatte sich so tief auf Farbenspiels Hals zusammengeduckt, wie es nur möglich gewesen war. Sand und Hagel waren so auf ihn eingestürzt, als beschössen ihn Heerscharen von winzigen Bogenschützen mit nadelfeinen Pfeilen. Das war unerträglich geworden, und er hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als den tobenden Elementen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und sich zusammenzukauern wie ein ängstliches Wiegenkind. Galéon hatte ihn fest im Arm gehabt und so wahrscheinlich einen guten Teil des Chaossturms von ihm abgehalten. Farbenspiel hatte sich so mühsam bewegt, als galoppiere er einen unfassbar steilen Hügel hinauf, die Flügel nicht mehr benutzt, um er auf ihnen in der Luft dahinzugleiten, sondern als gebe er seinem massigen Körper verbissen Schwung, um voranzukommen.

Und dann war es von einem Augenblick auf den nächsten ganz still. Der Sturm versiegte. Farbenspiel tat noch zwei, drei Sprünge, dann strauchelte und stürzte er. Advon verlor den Halt und schlug auf harten Boden auf, so fest, dass es ihm möglicherweise für ein paar Augenblicke das Bewusstsein nahm. Jedenfalls wurde ihm einen Moment schwarz vor Augen und blieb es so lange, bis Galéon sich über ihn neigte.

„Hast du dir weh getan?”, fragte der báchorkor, doch die Besorgnis in seiner Stimme war gering.

„Ja”, murmelte der Junge. Dann begann er, die Kälte wahrzunehmen, die nach seinem Körper griff. Das war ihm zutiefst unheimlich, denn Advon hatte nie zuvor gespürt, wie sich Eis anfühlte. Am Rand von Soldesér schmolz Schnee, bevor er den Boden erreichte. Advon Irísolor hatte niemals gefroren und ahnte nun, dass auch Eis einem Regenbogenritter nicht wohlgesonnen war.

Der junge Mann half ihm auf die Füße. Jetzt erkannte der Junge, dass die bodenlose Finsternis, die er gerade noch für Bewusstlosigkeit gehalten hatte, sich über ihnen erstreckte, eine erschreckende, gleichförmige, farbenverschlingende Leere. Die Schwärze war so unbegreifbar groß, dass das Kind zutiefst erschrak und schnell zu Boden schaute. Dort war steinharter Sand, von dem ein merkwürdiges Schimmern ausging, diffus, gedämpft und ohne sichtbaren Ursprung. Ringsum, so weit das Auge sah, erstreckte sich diese Weite. Advon war schon einige Male mit dem Vater in der Wüste außerhalb der Sichtweite der Hügel gewesen, dort, wo es nur noch Sand gab. Dies hier erinnerte ihn ein wenig an diese Gegend, jedoch erstarrt, sodass kein Sandkorn sich vom anderen lösen könnte. Neben ihm lag reglos das Einhorn. Sein seifenblasenschillerndes Fell wirkte fast schmerzhaft grell zwischen Schwärze und Zwielicht. Der rechte Flügel stand steif in die Höhe, der andere war unter dem Pferdekörper abgeknickt begraben.

„Farbenspiel!”

Advon taumelte zu seinem Reittier hinüber. Dessen gelbe Reptilienaugen waren geschlossen, das Maul weit geöffnet, die Fangzähne blitzten hervor, seine Zunge hing heraus. Farbenspiels duftige Mähne, der Schweif und die Behänge an seinen Fesseln waren pappig wie Fuchszahnschirmchen, die jemand in Wasser getunkt hatte. Das Einhorn regte sich nicht.

„Farbenspiel!” Advon kniete auf dem Eissand nieder und versuchte, den mächtigen Kopf seines Rosses anzuheben. „Farbenspiel! Bitte … bitte … beweg dich! Steh auf!” Er umschlang die Schnauze mit beiden Armen und warf Galéon dann einen zornigen Blick zu. Wenn Farbenspiel bei diesem irrsinnigen Ritt ernsthaft Schaden genommen hatte, dachte der Junge, dann mochte Pataghíu den báchorkor bestrafen, sein Feuer senden und ihn verbrennen!

„Lass ihn”, forderte Galéon ruhig.

„Ich lasse ihn nicht zurück!”

„Er hat sich verausgabt, um uns sicher her zu bringen. Er muss sich einen Moment ausruhen. Ihm geschieht hier nichts. Wir hingegen haben keine Zeit.”

„Aber …” Advon wollte etwas entgegnen, aber im selben Moment kam ihm in den Sinn, dass es kindisch und unreif wäre, sich nun mit dem báchorkor anzulegen. Auch Farbenspiel schien so zu denken. Er schnaubte und blinzelte mit dem der Schwärze zugewandten Auge. Advon fiel ein Stein vom Herzen. Er schmiegte sich an den Kopf des Tieres und koste es innig. Es lebte. Es hatte sich bei seinem Flug nicht selbst zu Tode gehetzt. Farbenspiel schnaufte. Dann schnappte er vertraut und behutsam mit seinen weichen Lippen nach Advons Haaren. Advon ließ es geschehen.

Galéon wartete, bis der Junge sich wieder etwas gefasst hatte. Dabei schaute er sich ruhig in alle Richtungen um, bis sein Blick eine Richtung zu finden schien.

„Wo sind wir hier?”, fragte Advon.

„Das hier sollte das Chaos sein.”

Der Junge vermied es so gut wie möglich, die Schwärze anzuschauen, von der er nur wusste, dass es kein sternloses Firmament war. „Ich hatte mir das Chaos anders vorgestellt”, sagte er dann.

„Wie denn?”

„Aufregender. Das hier ist so … still …”

„Es ist in Bewegung. Mehr noch, es ist in Aufruhr. Allerdings ist hier gerade nichts mehr so, wie es sein soll. Es ist hier weit weniger langweilig, als mir lieb wäre.”

„Und wo ist Dýamirée?”

„Wir finden sie. Aber zuerst müssen wir weiter. Komm.” Er wandte sich ab und setzte sich in Bewegung, so sicher, als wisse er genau, welchen Weg er einzuschlagen hatte.

„Und wenn die Chaosgeister Farbenspiel angreifen?”

„Dann kommt es darauf an, wie gut er und sie kämpfen. Es sind nur mindere Geister hier, Advon. Mit denen wird er fertig.”

Advon zögerte. Es war ihm nicht wohl dabei, das entkräftete Einhorn einfach zurückzulassen. Andererseits war Dýamirée in Gefahr.

Farbenspiel nahm ihm die Entscheidung ab. Er grollte, begann zu strampeln und wuchtete sich dann wieder hoch. Energisch schüttelte er sich Eiskristalle aus dem Fell und versuchte dann, die Flügel wieder einzuklappen. Ein paar verknickte Federn waren dabei hinderlich. Advon half ihm dabei, sie zu sortieren, und ging dann Galéon hinterher. Farbenspiel trottete erschöpft hinter ihm her. Sicher hatte er jedes Wort verstanden. Ganz offensichtlich wollte der Hengst nicht allein zurückbleiben.

Galéon wartete, bis die beiden zu ihm aufgeholt hatten.

„Wenn das hier das Chaos ist, müsste das Widerwesen dann nicht auch hier sein?”

„Es ist hier, Advon. Und es weiß auch, dass wir hier sind. Aber offenbar hat er gerade etwas anderes, womit es spielt. Es wird wohl noch früh genug auf uns aufmerksam werden.”

„Ernsthaft? Wie kannst du so ruhig sein?”

„Ich bin nicht ruhig. Aber was bringt es, vorsorglich nervös zu werden? Wir haben beide unsere Aufgabe zu erfüllen, Advon. Du findest Dýamirée. Such nach ihr. Versuche, sie zu spüren.”

„Spüren?”

„Du wirst sie bemerken, wo immer sie ist.”

„Und was machst du?”

„Ich suche nach allem anderen, was hier nichts zu suchen hat. Ich versuche, wieder Ordnung ins Chaos zu bringen.”

Advon war verwirrt. Für jemanden, der stets behauptete, nur ein einfacher báchorkor zu sein, benahm Galéon sich ausgesprochen seltsam. Seit der Konfrontation mit Siledaú auf dem Turm schien sich etwas mit der Persönlichkeit des jungen Mannes grundlegend gewandelt zu haben. Das war unheimlich. Der Junge wandte sich fragend Farbenspiel zu, aber der Hengst trottete nur ermattet über den gefrorenen Sand. Seine Klauen klopften sonderbar dumpf auf der Oberfläche.

„Und woher weißt du, wohin du gehen musst?”, fragte Advon.

„Ich folge einem Signal.”

„Einem Signal?”

Galéon nickte. „Jemand war so umsichtig, ein Leuchtfeuer hierher zu bringen. Und nun komm. Wer zu lange steht, zieht Chaosgeister an. Und die können wir jetzt noch nicht gebrauchen.”

***

Cýelú fühlte sich wie in einem kunterbunten Alptraum. Nachdem er den Schwarm erreicht hatte, war er eingetaucht in einen Wirbel von Farben, heißer, goldstrahlender Magie und viel zu viel Blut und anderen schleimigen und klebrigen Substanzen, von denen er nicht wissen wollte, was es war.

Die Regenbogenritter, die in unübersichtlicher Zahl rings um ihn herum auf ihren Einhörnern durch die Luft jagten, hatten ihn mit großem Jubel empfangen, sobald sie seiner gewahr wurden. Sie waren erleichtert, aber die Situation blieb ernst. Die Chaosgeister waren viel zu stark, und dort, wo sich ihnen die Möglichkeit bot, holten sie die Hellen Magier vom Himmel und löschten sie aus. Cýelú versuchte, den Gedanken zu verdrängen, was mit ihm selbst geschehen würde, sollten sie ihn erwischen. Er war in ihrer Mitte der Schwächste, nur ein sterblicher Mensch mit etwas besserer Bewaffnung und Fertigkeiten als ein unkundiger Menschenritter, einer, der mitnichten unverwundbar war. Solange er im Cielástel war, machte die Zeit einen Bogen um ihn. Hier, außerhalb von Pataghíus Heiligtum, war er das einfachste Opfer, das sie packen konnten.

Wo in diesem Schlachtengetümmel wohl die Sieben waren? Hoffentlich weit, weit außerhalb der Reichweite der Monster.

Perlenglanz kämpfte ebenso verbissen, keilte mit seinen messerscharfen Klauen um sich, biss und stieß sein Horn nach den Chaosgeistern, aber im Endeffekt schienen die Kreaturen den wehrhaften Einhörnern nicht mehr Beachtung zu schenken als einem Mückenschwarm. Einmal erwischte ein aus dem Getümmel in die Höhe schießender Tentakel den linken Hinterlauf des perlmuttfarbenen Einhorns und riss es ein Stück abwärts, aber ein arcaval’ay, so zartviolett wie Fliederblüten, kam ihm zu Hilfe, hieb den Fangarm durch wurde im selben Moment von einem anderen Monster mit Gliedmaßen wie Krebsscheren gepackt. Cýelú hörte noch, wie sein goldener Brustpanzer knackte und dann war er schon vorbei, und Perlenglanz hetzte auf das nächste Monster los.

Aber hier, inmitten des Kampfes, konnte Cýelú Elosáls Anwesenheit spüren. Sie war überall, sah durch die Augen jedes ihrer Ritter und kontrollierte das Geschehen, etwas, das so unglaublich komplex und schwierig sein musste, dass er es sich nicht im Ansatz vorstellen konnte. Aber bei alledem war er sich voll bewusst, dass Elosál ihn nun auch in ihrem Blick hatte. Und dass sie den fliederfarbenen Ritter geopfert hatte, um ihn zu retten.

Cýelú jagte auf das Scherenmonster zu und stieß das Schwert in eine Fuge seiner Panzerung, die verletzlich aussah. Der Chaosgeist brüllte und stürzte auf die Seite. Der Goldene ließ sich von Perlenglanz wieder in die Höhe tragen und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Die Chaosgeister unter dem Schwarm zu attackieren würde dauerhaft nichts bringen, außer die arcaval’ay unnötig zu schwächen. Die unsterblichen Chaosgeister würden sich regenerieren, während die Hellen Magier immer weniger würden. Es hatte dazu getaugt, die verstandlosen Monster auf dem Weg nach Aurópéa zu bremsen, aber nun mussten sie sie wieder dorthin zurück schaffen, wo sie keinen Schaden anrichten konnten.

„He!”, rief Cýelú. „Keine Attacken mehr! Alle nach Norden! Wir treiben sie zurück!”

Er musste seine Anweisung nicht wiederholen. Es genügte, dass sie auch nur einer der arcaval’ay vernommen hatte. Hatte einer seine Worte gehört, waren sie an aller Ohren gedrungen. Auf sein Kommando hin formierte sich der Schwarm und stieg auf, ließ unter sich mehr oder weniger stark verwundete Chaosgeister zurück, und begab sich mit einer atemberaubenden Präzision auf den Weg in Richtung Aurópéa.

Die Menschen in den Hügeln sahen das und gerieten so sehr in Panik, dass niemandem auffiel, dass der Sandregen von einem Moment auf den nächsten aufgehört hatte und die Gewitterwolken, die seit vielen Gongschlägen den Himmel völlig bedeckt hatten, sich vor Noktámas juwelenbesetzten Schleier zerstreuten.

***

Die sinora kam endlich zu sich. Lange, bedrückend lange hatte das gedauert.

„Liebe”, flüsterte Saháalír erleichtert und strich ihr über die Wange.

„Was ist geschehen?”, brachte sie benommen hervor und tastete um sich. Sie lag im Stallvorraum auf losem Stroh, etwas anderes hatten sie wohl hier nicht zur Hand gehabt, um der alten Dame ein halbwegs weiches Lager zu bereiten.

„Úldaise hat dich niedergeschlagen, als du dem Kind helfen wolltest”, erklärte er. Er hatte sich mühsam in seinem Tragestuhl vorgebeugt, um sie erreichen zu können. Ob er von allein wieder aufrichten konnte, würde sich später zeigen und sicher rächen. Auch sie, obwohl wider alle Wahrscheinlichkeit nicht ernsthaft verletzt, kam nicht allein hoch, dazu taten ihr die Knochen zu sehr weh. Auch ihr Kopf schmerzte offenkundig. Sie fasste sich an die Schläfe, bemerkte dabei, dass ihre Perücke verschwunden war, und errötete schamhaft.

„Ich schenke dir eine neue”, versprach der Stadtälteste. „Die deine wird vom Sand und Hagel verdorben sein.”

„Was ist mit dem kleinen Mädchen?”, fragte sie verwirrt. „Wo ist Úldaise?”

„Der maedlor sagt, sie seien verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.” Saháalír richtete sich stöhnend wieder auf. „An allen Ecken ist hier Zauberei! Es macht mir Angst!”

„Lieber, wir sind im Cielástel”, erinnerte sie ihn und stemmte sich gegen ihren Schmerz an. Aufstehen wollte sie. „Wir sollten nicht hier sein. In der Stadt müssten wir ausharren, bei denen, über die wir zu wachen haben!”

„Die Mächte haben uns an diesen Ort geschoben. Aber wie es scheint, kommen wir zur Unzeit.”

„Es ist so still!” Sie zog sich mühsam an der Armlehne seines Sessels hoch und schaute sich um. Die Stalllaternen erhellten den Raum leidlich. Bei den Tierkäfigen bewegte sich etwas. Das goldene Einhorn tänzelte unruhig umher. Die Maultiere und die beiden Pferde hatten sich in die hintersten Winkel zurückgezogen.

„Die Regenbogenritter sind ausgerückt”, sagte der sinor. „Es muss ernst sein.”

„Wo ist der maedlor? Und der andere Mann, der Maultierführer? Wo sind die beiden?”

„Ich habe sie nach draußen geschickt. Sie sollten auf den Mauern nachschauen, was vor sich geht.”

„Es ist so still”, stöhnte sie. „Ich glaube, es fällt gar nichts mehr aufs Dach!”

„Schon seit einer Weile nicht mehr.”

Die sinora schaute sich um, fand dann an die Wand gelehnt einen groben Schrubber und griff danach. Besser das als gar kein Halt. Sicher hatte sie seit Ewigkeiten kein solches Gerät mehr in der Hand gehalten; seit vielen, vielen Sommern kümmerte sich das Hausgesinde in ihrer Villa um all das. Nun wollte sie den Stiel als Behelfsstock nutzen. Sie humpelte hinüber zur Tür und schaute hinaus.

„Der ganze Hof ist voller Sand”, berichtete sie. „Und die Mauern leuchten, als wäre Glut in ihrem, Inneren. Bei den Mächten, wie seltsam und schön das aussieht.” Sie zögerte. „Nur der große Turm ist finster. Das ist unheimlich.”

„Wir können nur warten.” Er gab ein mutloses Schnauben von sich. „Bei den Mächten, wäre ich doch nur zehn, zwanzig Winter jünger. Was ist mit dem Unwetter? Mit den Wolken?”

Sie schaute empor und antwortete eine ganze Weile nicht. Sie hätte nicht die Worte gehabt, um ihm zu beschreiben, was sie sah.

Unmittelbar über dem Turm, hoch darüber, schwebte ein ringförmiges Gebilde. Es wurde von den bunten Türmen von unten angeleuchtet, in seinem inneren pulsierte das Wetterleuchten, aber es war keine Wolke. Dazu wirkte es zu massiv. Ab und zu reflektierte etwas darin, als fiele ein Lichtblitz auf Kristalle.

Die alte Dame schauderte. Der Ring sah aus wie Schaum, der zu Stein erstarrt und dann von einer Frostschicht überzogen war, aber wenn dem so wäre, dann war er gewaltig und so schwer, dass es sogar unvorstellbar war, dass Magie ihn so hoch am Himmel hielt. Rings um das verstörende, der Natur hohnsprechende Gebilde lösten sich die Gewitterwolken langsam auf, und dort, wo sich bereits größere Lücken gebildet hatten, blitzten Sterne hervor.

Im Inneren des Ringes jedoch war nichts als absolute Schwärze, ein bodenloser Abgrund über ihr, entsetzlicher als alles, was die sinora in ihrem Leben jemals gesehen hatte.

***

Gefrieren … verlieren … Regen … Eis…

Aber da war kein Regen mehr und auch kein Eis. Es hatte sich aus-geeist. Hatte ich den Regen weggezaubert? Hatte ich das Gewitter zum Stillstand gebracht? Ich, Salghiára Lagoscyre, die unfähigste Schattensängerin aller Zeiten?

Ich konnte mich nicht mehr aufrecht halten, lag auf dem Rücken und schaute hinauf in die gespenstische, bodenlose Schwärze. Ich glaube, ich habe dabei sogar blöde gekichert.

Was machten die Schatten da oben am Himmel, vor Noktámas sternenbesetzten Schleier, von dem die Wolken abfielen wie Staub? Das war doch ganz verkehrt herum. Daheim, im Boscargén, am See, da lag der Widerschein des Sternenschleiers auf dem Wasser, und darunter war die Schwärze, die Tiefe, die Bodenlosigkeit, die an Orte führen mochte, die nie ein Mensch betreten hatte und auch nicht erreichen würde, denn niemand konnte so tief tauchen.

Was sollte die Tiefe am Himmel? Wohin ging es da? Sah ich dort Noktámas Domäne, sozusagen von außen? Angenommen, ich hätte Flügel – könnte ich durch dieses absurde Wolkenportal hindurch fliegen, wie es zuvor der báchorkor und der Junge mit dem Einhorn getan hatten? Konnte ich von dort in die Schatten tauchen, und nach Dýamirée und Yalomiro suchen?

Yalomiro hatte mir mit sehr viel Geduld versucht beizubringen, wie ich eine Tiergestalt hätte anlegen können. Er hatte mir das Ganze raffiniert schmackhaft machen wollen und mir davon vorgeschwärmt, wie es sei, als Vogel fliegen zu können oder die nützlichen Fähigkeiten eines anderen warmblütigen Tieres zu nutzen. Es sei ein sehr mühsamer und aufwendige Fertigkeit, hatte er zugegeben, aber behauptet, es wäre so lohnenswert, es zu versuchen.

Weit gekommen war er damit nicht. Gescheitert war er an meinem winzigen Selbstvertrauen und daran, wie schnell ich mich selbst von Misserfolgen entmutigen ließ. Ich glaube, er hatte es schließlich aufgegeben, als er bemerkte, wie sehr ich mich selbst unter Erfolgsdruck setzte. Er hielt das wohl nicht für die geeignete Voraussetzung, um das Ziel zu erreichen, und hätte es wahrscheinlich später noch einmal versucht. Nun bereute ich es, denn ich wäre liebend gern hinaufgeflogen, um mir die Sache genauer anzuschauen. Wenn Dýamirée irgendwo außerhalb des Weltenspiels war, dann konnte sie nur mit ihm in den Schatten sein.

Ich setzte mich auf. Ovidáol! In all der Aufregung und Anstrengung hatte ich gar nicht mehr daran gedacht, dass der Verfluchte bei alledem auch noch eine, wenn auch nur marginale Rolle innehatte. Wahrscheinlich hatte er den Wirbel ausgenutzt, um unverrichteter Dinge erneut zu fliehen. Was war schon ein Magier, der nicht mehr zaubern konnte, angesichts der Chaosgeister?

Ich schaute zu Elosál hin und wünschte mir, sie könnte mir ein paar erklärende Worte dazu geben, was genau sie dort gerade tat. Es sah immer noch unfassbar eindrucksvoll aus, obwohl sie unbeweglich und erstarrt war. Sie anzusprechen wagte ich nicht, wollte sie nicht ablenken – falls sie mich überhaupt bemerken würde. Aber was konnte ich stattdessen sinnvolles tun, wenn der Regen vorerst gebannt war?

Ich stand auf, ging so nahe, wie ich mich traute an den Rand des Simses heran und schaute hinab. Es war zwar dunkel, aber das war für Schattensängeraugen kein Problem. So sah ich auch schräg gegenüber auf den bunt glimmenden Mauern zwei Gestalten stehen, unkundige Menschen offensichtlich, die vielleicht in der Burg Zuflucht gesucht hatten. Sie beobachteten gespant ein Spektakel aus schillerndem, wabernden Licht, das sich in der Ferne auftürmte wie ein hinabgesunkenes, vielfarbiges Nordlicht. Mir war, als trüge der Wind Fetzen von Kampflärm und unmenschlichen Schreien herbei.

Ob das Elosáls Werk war? Und ob Cýelú Irísolor darin eine Rolle spielte?