Der Lichtblitz zuckte aus dem Durchschlupf in der Finsternis herab, ließ den Cielástel unter sich verblassen und flutete dann über die Hügel und weit bis in das Hinterland und in die Wüste hinein, wie Wasser, das aus einem Eimer auf den Boden geschüttet wurde und sich in alle Richtungen verteilte, bis es auslief.

Für einen Herzschlag verharrte das ganze große Regenbogenheer mitten in der Bewegung. Cýelú war umgeben von verwirrt auf der Stelle tänzelnden Einhörnern und erschöpften Kämpfern mit halb zum Schlag erhobenen Schwertern und angelegten Lanzen, die alarmiert alle den Blick in Richtung von Pataghíus Heiligtum gerichtet hatten, so als habe jemand ihnen Einhalt geboten.

Bei allen Mächten. Was immer dieses Licht gesandt hatte, es war nicht Elosál gewesen. Unmöglich. Das war ihm klar, als er sich umblickte. Einige der arcaval’ay waren ihm nahe genug, dass er ihre buntgoldenen Augen hinter den Sehschlitzen ihrer Helme erkennen konnte. In jedem Blick stand exakt dasselbe verwirrte Erstaunen, das er empfand. Nein. Das war mit absoluter Gewissheit nicht Elosáls Magie. Wäre dem so gewesen, keiner der Ritter wäre nun so verwirrt, überrascht – verunsichert.

Auch die Chaosgeister hielten in ihrem unkontrollierten Tun inne, ihr ohrenbetäubendes Brüllen und Geifern verstummte für einen Atemzug. Die, die beweglich genug waren, wandten sich dem Licht zu, das auf sie zu brandete wie eine Sturmwelle. Um zu reagieren und die Flucht zu ergreifen, waren sie zu dumm. Sie standen, saßen und glotzten, bis das Licht die ersten erreichte, sie fortriss und umstieß. Das Licht überschwemmte die Kreaturen, ohne ihnen sichtbaren Schaden zuzufügen. Und doch begannen die Kreaturen, zu kreischen, zu jaulen und zu brüllen, sobald das helle Licht sie berührte. Sie schrien so entsetzlich, als habe nicht reinste, sauberste Magie sie getroffen, sondern jemand aus Kübeln siedendes Öl oder Säure auf sie ausgekippt.

Perlenglanz und all die Einhörner ringsum sprengten instinktiv ein Stück weiter in die Höhe. Ihnen tat das Licht nichts an, aber die Masse der Chaosgeister geriet in heftige Bewegung, begann, zu toben, sich zu winden und herumzuwerfen. Wie Fische, die jemand mit einem Netz aus dem Wasser zieht und die in Panik nach Luft und Leben schnappen, ging Cýelú durch den Kopf.

„Bei Pataghíus Glanz!”, rief jemand aus. „Was ist das?”

Cýelú riss sich vom Anblick der gepeinigten Chaosgeister los und entdeckte, gar nicht weit neben sich, den Gelben. Einen der Sieben. Was für eine Erleichterung!

„Schnell!”, gebot Cýelú. „Bevor sie nach Norden ausbrechen! Formiert euch! Lasst keinen entkommen!”

Der Gelbe nickte ihm knapp zu, reckte seine Lanze in die Höhe und rief nach seinen Kameraden. Der Ruf pflanzte sich über das Schlachtfeld fort, und dann begann über dem Wirbel aus panischen, ungestalteten Monsterleibern einer aus Farben, aus raschelnden Flügeln und Gold und Magie. Cýelú lenkte Perlenglanz so weit abwärts, wie es ihm vertretbar erschien, und ließ ihn dort, knapp außerhalb der Reichweite von unkontrolliert um sich schnappenden Zähnen und peitschenden Tentakeln einige Runden traben, um den anderen nicht im Weg zu sein.

Aus dem Strudel aus bunten Farben formte sich etwas Neues, etwas Geordnetes. Die Sieben versammelten alle um sich, die zu ihnen gehörten, schwärmten aus, vier nach Westen, drei nach Osten, und in einem weiten Bogen wurde aus der Kuppel ein langgestreckter Regenbogen, wunderschön und gestärkt durch das Licht hell strahlend in der Nacht, der die unbändige, schreiende und kreischende Masse umspannte.

„Bist du bereit, Perlenglanz?”, rief Cýelú. Das Einhorn hörte ihn, ungeachtet des Tumults. Der schimmernde Hengst schnaubte.

„Gut. Dann will ich, dass sie uns verfolgen. Ich will, dass sie uns einholen. Lauf, Perlenglanz! So schnell wie du kannst! Dorthin, woher sie kamen!”

Das Einhorn brüllte und machte einen Satz voran, legte die Flügel zurück und schoss im Gleitflug über die Monster hinweg nach Süden. Cýelú Irísolor holte tief Luft, befahl sich Pataghíu und ließ seine maghiscal auflodern, Sonnenflammen, die nicht zu übersehen waren und auch den kurzsichtigsten Chaosgeist nicht aus dem Blick geraten konnten.

***

Lass dich nun nicht ablenken, mahnte das Traumphantom.

Ist sie das? Ist sie das tatsächlich?

Die Schatten, mahnte das Phantom. Um alles andere kannst du dich sorgen, wenn es sich dann noch lohnt!

Du hast mir nicht gesagt, dass …

Du verlierst Zeit, die du nicht hast.

Galéon ächzte wütend auf und schaute sich um. Da kauerten und krabbelten sie einher, ihre unkundigen Augen unfähig, die Helligkeit zu ertragen, die in den Schatten losgebrochen war und schleunigst dort hinaus musste, bevor sie die Dunkelheit gänzlich verzehrte. Heiße Sorge um die Unkundigen überkam ihn, aber er hatte keine Zeit, sich um ihre Nöte zu kümmern. Zu sehr bestürzte ihn das, was er sah.

„Mama!”, kreischte das kleinere Mädchen in schrillen, panischen Tönen. „Mama! Mama!”

„Tíjnje? Tíjnje!” Der schnauzbärtige Ritter rappelte sich auf, tastete und taumelte umher. „Tíjnje! Wo bist du?”

„Opa?”

„Vater?” Das war der älteste und größte der Knaben. Auf allen Vieren war er und tastete herum. „Vater! Hier bin ich!”

„Láas! Tíjnje!”

Sie tapsten taumelnd umher, plötzlich waren sie alle auf den Beinen und riefen einander. Galéon fand sich mit seiner Axt inmitten eines Reigens aus blinden, flehend suchenden Kindern und erwachsenen Männern. Nur die Dame blieb still sitzen, wo sie war. Ihr Blick strich suchend umher, ihre Pupillen waren so eng geschlossen, dass die kaum noch zu erkennen waren.

„Manjév?”, rief sie, leise, zaghaft, zärtlich und hoffend.

Das ältere Mädchen hob den Kopf. Es lauschte durch das Stimmengewirr hinweg. Ihre Augen glichen der ihrer Mutter auf schockierende Weise. Sie schaute in Galéons Richtung und er war unfähig, sich von ihr abzuwenden,

„Mama?”

Es ist die teirandanja?, entsetzte Galéon sich.

Der Schatten, wiederholte das Traumphantom gnadenlos. Alles andere …

Warum hier? Warum gerade sie? Warum jetzt?

„Galéon?” Advon stand inmitten des Trubels, seine flammende maghiscal loderte die letzten Nebelfetzen hinweg. Der Junge wich den geblendeten Unkundigen aus und war offensichtlich überfordert. Farbenspiel schob mit seiner weichen Schnauze vorsichtig das ganz kleine Mädchen in Richtung des Ritters, der sein Großvater zu sein schien. Ein blonder Knabe mit einer blauen Tunika stieß ihm vor die Flanke und begann irritiert, das Fell unter seinen Händen zu betasten. Er runzelte die Stirn, wunderte sich wahrscheinlich über das vertraute Gefühl eines warmen, fellbedeckten Wesens. Advon blieb einen Moment an seiner Seite und musterte den Knaben aufmerksam. Sie waren etwa gleich groß und alt und vielleicht könnten sie gute Freunde werden. Später …

„Merrit? Merrit!” Der ungerüstete Ritter hatte wohl auch begriffen, was geschehen war, dass die anderen Erwachsenen ihre Kinder zu finden schienen. Er breitete die Arme aus und Hoffnung verlieh ihm neue Kraft. „Merrit! Bist du hier?”

„Vater!” Der blonde Junge ließ Farbenspiel stehen und rannte ungestüm und ohne ihn bemerkt zu haben an Advon vorbei auf die Stimme zu, rempelte um ein Haar Galéon um und schrie vor zaghafter Hoffnung. „Vater! Papa! Papa!”

Ganz abseits war ein magerer, schwächlicher Knabe in honiggelbem Hemd. Als Einziger stimmte er nicht in das Stimmengewirr ein. Er tastete besorgt nach dem alten Mann, der bewusstlos zu sein schien, fand mit zaghaft suchenden Fingern dessen Kopf. Er zögerte einen winzigen Moment. Dann nahm er die Brille ab, die ihm schief auf der Nase hing und legte hastig seine Stirn an die des Erwachsenen. Fast, als täte er etwas Heimliches, Verbotenes. Er musste seinen Vater nicht suchen, nur zu ihm finden.

All das erfasste Galéon mit seinen Sinnen, alle so scharf und blank wie Rasiermesser, so scharf, dass es wehtat. Der größte Schmerz, der ging von dem Mädchen aus, ein vornehmes, adrett herausgeputztes Kind, das aussah, als habe man es durch einen Dornenwald gejagt. Und der Schmerz ragte tief in das Herz des báchorkor, so als habe jemand ein heißes Eisen hinein gerammt.

Warum jetzt? Es ist zu früh! Viel zu früh!

Es geht nicht immer so, wie es gut und recht wäre! Das Traumphantom stand nun hinter der Dame und schaute sinnend auf sie hinab.

„Galéon! Galéon, was ist hier los!” Advon zupfte ihn ungeduldig am Hemd. „Was ist mit dem Mädchen? Warum starrst du das Mädchen so an? Tu doch irgendwas!”

„Manjév?”, rief nun auch der teirand und mischte sich in das wirre Getümmel. „Manjév! Manjév! Mein Kind! Komm zu mir! Komm zu deinem Vater!”

Farbenspiel prustete und begann, die Gruppe zu umkreisen wie ein kluger Hirtenhund, bevor alle sich im Chaos zu verstreuen begannen.

„Halt das.” Galéon legte dem verblüfften Jungen die Axt in die Hand, ließ ihn stehen und ging beklommen zu dem Mädchen hin, das immer noch wie gelähmt im Lichtschein saß und mit geblendeten, starren Augen umherschaute.

Deine Zeit verrinnt, tadelte das Traumphantom. Es stand, unbeeindruckt und unsichtbar, mitten zwischen den herzzerreißenden Szenen ringsum, Väter, die ihre Kinder umarmten und unter Tränen und Lobpreisen der Mächte ihr Kostbarstes ans Herz schlossen. Der beleibte Schnauzbart hatte gleich zwei Kinder wiedergefunden, das kleinste Mädchen, den ältesten Jungen. Der mit der Narbe herzte überschwänglich einen sehnigen Knaben mit dunklem Haar. Der teirand jedoch irrte noch umher, so weit weg von seiner Tochter, als führte ihn etwas in die Irre. Die Dame war erstarrt. Etwas hielt die Eltern auf Abstand. Es war so bestimmt. Gnadenlos und unausweichlich. Galéon gab sich einen Ruck und kniete vor ihr nieder.

„Mama?”, wisperte das Mädchen und streckte die Hand aus. Weich und kühl fühlte Galéon sie auf seiner Wange. Der blinde Blick der Kleinen veränderte sich. Sie runzelte die Stirn, spürte wohl die Bartstoppeln, die in den vergangenen Tagen gesprossen waren. Galéon keuchte innerlich auf. Ja. Sie war es. Anders ließ sich nicht erklären, was gerade mit ihm geschah und ihn verzweifeln ließ, gerade jetzt, in diesem Moment, in dem er es nicht gebrauchen konnte.

Ich habe dir gesagt, dass du keine Zeit dafür hast!

Warum hast du mich nicht darauf vorbereitet?, fragte Galéon matt.

„Wer bist du?”, flüsterte das Mädchen leise. Ihre Augen klärten sich ein wenig. Vielleicht konnte sie ihn sehen, wenn auch sicherlich nur als verschwommenes Schattenbild.

Der báchorkor wimmerte stumm. Sie durfte ihn nicht weinen hören, ihn auf gar keinen Fall erkennen oder sich gar an ihn erinnern. Es reichte, dass Advon Irísolor seine Tränen sah, aber taktvoll genug war, zu schweigen. Der Junge hatte die Schultern gesenkt, seine Magie knisterte wie ein kleines Lagerfeuer und er schaute drein wie einer, der die Pointe eines Scherzes nicht verstand.

„Kommt, Majestät”, brachte Galéon leise hervor. „Ich bringe euch zu Eurer Mutter.”

Er hob sie auf, ohne dass sie Widerstand leistete. Sie war zutiefst verstört, das konnte er deutlich spüren. Aber sie hatte keine Angst vor ihm. Bei den Mächten, sie saß hier im Chaos, hatte sicher Furchtbares jenseits ihres unschuldigen Kinderverstandes gesehen und erlebt und nun war da ein wildfremder Mann, der es wagte, sie anzutasten.

Sie lächelte verträumt. Vertraut. Ihre Hand tastete von seiner Wange zu seiner Nase, seinen Lippen.

Einen ganz kurzen Augenblick zögerte Galéon. Dann legte er seine Stirn an die ihre. Und gab sein Schicksal in die Hände der Mächte. Für einen kostbaren Augenblick erfasste ihn tiefer Frieden und linderte den Schmerz und das Entsetzen in seiner Seele.

Advon hob befremdet die Brauen, verzichtete aber auf einen vorlauten Kommentar.

„Verzeiht mir”, flüsterte Galéon und nahm ihr sacht den roten Stein aus der Hand. „Und vergesst mich. Bitte, vergesst mich!”

„Galéon!”, drängte Advon. „Sie kann doch wohl allein laufen! Das …. was soll ich denn mit der Axt?”

„Manjév!” Nun endlich kam Bewegung in die Dame. Sie erhob sich, schien jetzt genau zu wissen, wo ihr Mädchen war, und stolperte dem Narbengesicht und seinem Sohn über die Füße und auf Galéon zu. Er legte ihr das Mädchen wortlos in die Arme, wurde im selben Moment ebenso heftig wie zufällig von dem teirand beiseite gestoßen und ergriff die Flucht aus ihrer Reichweite, während Eltern und Kind in die allgemeine Erleichterung einstimmten.

Na endlich, kommentierte das Traumphantom sarkastisch.

Galéon riss dem verblüfften Kind die Axt aus der Hand. Oh, wie trieb es ihn, der verfluchten rotgewandeteten Erscheinung die Schneide zwischen die Rippen zu hauen!

Du hast es gewusst!, fauchte er in unbändigem Zorn. Du hast es gewusst und mich hergeführt wie einen Idioten!

Ich hätte es nicht verhindern können, sagte das Traumphantom kühl. Ich bin nicht der Schöpfer deines Schicksals. Bedank dich bei dem, der das Chaos entfesselt und die Ordnung durcheinander geworfen hat!

„Galéon!”, drängte Advon. Das magische Feuer um ihn loderte wieder heißer, unruhiger. „Dýamirée … was ist denn nun? Sie ist hier, ganz nahe! Der schöne salzige Duft … er ist ganz stark!”

Und wessen Zukunft soll ich ruinieren?, schäumte Galéon. Vor wem werde ich mich verantworten müssen? Vor einem dieser Kinder?

Wenn du noch lange zögerst, vor niemandem. Denn dann wird der Junge nicht alt genug werden, als dass es noch eine Rolle spielen würde.

„Galéon!”, erboste sich Advon. „Konzentrier dich endlich!”

Das kam so scharf von den Lippen des Knaben, wie er es sich sicher von Siledaú abgeschaut hatte. Der báchorkor zuckte zusammen und warf einen Blick zurück auf all die Unkundigen. Dass sie blind und immer noch im Chaos gefangen waren, das spielte für keinen von ihnen eine Rolle, nicht einmal für den Knaben mit der Brille, der nun mit merklicher Erleichterung verstohlen seine stumme Umarmung um den Alten löste, der wieder zu sich kam. Der Knabe mit dem blauen Hemd, der schluchzend seinen Vater so fest umklammerte, der eindrucksvolle Recke, der das Kind fest an sich drückte und ungehemmt weinte und die Mächte dafür pries, seinen Sohn wieder bei sich zu haben.

Galéon fühlte sich elend und wandte sich ab.

„Galéon”, drängte Advon. „Ich glaube, Dýamirée hat nicht viel Zeit.”

„Gut.” Der báchorkor nickte matt. „Dann brauche ich jetzt deine Hilfe.”

„Was soll ich tun?”

„Hilf mir, die Mächte zu überlisten.”