
Ovidáol hetzte seine Widersacher, ohne zu wissen, wie lange und wohin. Wie lächerlich war es, hier in den Schatten auf irgendetwas Körperliches, auf Zeit und Raum zu vertrauen? Und wie lange mochte er es noch durchhalten, nun, da Noktámas Domäne ihm nicht einmal mehr die Dunkelheit bot, die Essenz, die ihn am Leben erhielt wie Luft zum Atmen?
Der Verfluchte war zu diesem Zeitpunkt kaum noch mehr als Geist, der durch ein paar wie zufällig verbliebene Körperfetzen zusammengehalten wurde. Eine Magie, die zusehends davon schmolz wie Eis in der Sonne. Ihm blieb nicht mehr als eine absehbar endliche Frist, um diesen letzten Fetzen seines Seins beieinander zu halten. Er durfte nun nicht aufhören! Mehr als einhundert Winter hätte er anderenfalls mit nutzlosen Mühen und Demütigungen seiner selbst verschwendet. Nur, um kurz vor seinem Ziel zu scheitern.
Der Verfluchte konnte sie in der alles überstrahlenden Helligkeit deutlich ausmachen. Was war das gewesen, was den Stab, seinen Stab, dazu gebracht hatte, den Schatten auszulöschen? Sicher war es nicht der Wille des Kindes gewesen. Wieso sollte das verfluchte Gör das Refugium, den Ort des Friedens und der Sicherheit, den Ort der Manifestation ihrer Schutzmacht so verwüsten wollen? Wenn der Vater der Meisterschüler von Askýn Lagoscyre gewesen war, dann hatte er das Balg ganz sicher in Demut und Dankbarkeit vor Noktáma und ihrem Spiel erzogen. Das Mädchen würde sich im größten Übermut nicht zu Vandalismus an einem so heiligen Ort hinreißen lassen. Nicht, solange es so jung und unschuldig war.
Nicht, bevor es Dinge erkannt und Fragen gestellt hätte.
Wieso reagierte der Stab überhaupt auf das Kind? Das konnte, das durfte nicht sein! Es war so nicht vorgesehen, nicht nach den Regeln, nach denen er und alle anderen Schattensänger gelernt hatten, ihre Magie nach Noktámas Willen und Billigung zu benutzen.
Es blieb nur eine Erklärung: Die Magie des Kindes war so unfassbar stark, dass sie sich in ihm regelrecht aufgestaut hatte. Der Stab wirkte wie ein Ablauf an einem Regenfass, konnte aber natürlich nicht bestimmungsgemäß funktionieren, solange er defekt war. Bei den Mächten, jemand musste den Stab reparieren! Nicht auszudenken, was das Kind damit anrichten würde, wenn es damit ins Weltenspiel geriet! Dazu war nicht einmal ein Vorsatz nötig!
Was war die Wahl? Das Weltenspiel bedrohen, so wie er es mit den Chaosgeistern versucht hatte? Oder Noktámas Reich verheeren und die Dunkelheit selbst aus ihrer Domäne vertreiben? Ovidáol wusste, der Schattensänger stellte sich gerade genau dieselben Fragen wie er, während er das Balg durch die ausgelöschten Schatten schleppte. Und ganz gewiss verfluchte er bereits das, was ihm noch vor ein paar Tagen wie sein höchstes Glück vorgekommen war. Vielleicht wünschte er sich jetzt gerade, das grässliche Gezücht sei niemals geboren worden!
Der Verfluchte erinnerte sich, wie es damals gewesen war, als er noch einen eigenen, intakten Leib besessen und die Großmeisterin, seine Meisterin ihn gelehrt hatte, in die Schatten zu tauchen. Noktáma selbst war er dort nie begegnet, aber ausgemacht hatte ihm das nichts. Es waren so viele Generationen vergangen, in denen die Dunkelheit niemals höchstselbst zu einem Schattensänger gesprochen hatte, dass sich mache im Geheimen – selbstverständlich theoretische! – Gedanken darüber machten, ob Noktáma überhaupt noch im Weltenspiel anwesend war. Vielleicht hatte sie, gelangweilt vom Weltenspiel, ihre Domäne längst verlassen, um irgendwo anders etwas Neues anzufangen. Vor anderen geäußert hatte das natürlich niemand. Eine unsägliche Lästerung wäre das gewesen, die die Großmeisterin streng bestraft hätte. Sogar, falls sie insgeheim selbst den Zweifel in sich getragen hätte.
Ovidáol Etaímalar war oft in den Schatten gewesen, und mit jedem Mal kam ihm mehr und mehr die Überzeugung, dass Noktáma das Weltenspiel verlassen hatte. Wie sonst ließ sich erklären, dass die Rotgewandeten so ungehindert unter den Unkundigen einhergegangen waren und sich die Zeit mit der Jagd auf Schattensänger vertrieben hatten? Wie anders ließ es sich erklären, dass sie zugelassen hatte, wie die Rotgewandeten Schattensängern nachstellten und sie bestialisch ermordeten, im Glauben, sie opferten dem Licht? Dem Licht, ihrer ungnädigen Schutzmacht, die sie vermutlich bereits ebenso lange gelangweilt verlassen und das Weltenspiel sich selbst überlassen hatte?
Ob es Noktáma jemals tatsächlich gegeben hatte? Oder Pataghíu? Oder das Licht?
Nun, zumindest daran gab es keinen Zweifel, sondern gleich eine ganze Reihe an Beweisen. Die fajíaé, die Regenbogenritter und die Chaosgeister ließen sich anders nicht erklären. Besonders die Chaosgeister, die hatten es Ovidáol schon in seiner Jugend angetan. Denn wenn eine Macht immer noch präsent war im Weltenspiel, echt und aufrecht und wahr, dann konnte es nur das Widerwesen sein. Das Widerwesen zeigte sich ganz offen und unverhüllt, in jeder Dummheit, jeder Grausamkeit, Gier und Lüge, die die Unkundigen begangen. Was den Mächten nicht gefällig war, das stärkte das Chaos und die Wesenheit darin, und das, was sie geschaffen hatte.
Die Chaosgeister …
Und so hatte sie damals begonnen, seine Faszination für die Ausgeburten des Chaos, die das Widerwesen aus den Abfällen des Weltenspiels geschaffen hatte. Zunächst waren es reine Phantasien gewesen, die hypothetische Überlegung, ob Schattenmagie dazu in der Lage sein würde, Chaosgeister zu bändigen, so wie es die Regenbogenritter mit der von Pataghíu geschenkten Magie taten.
Als es an der Zeit war, sich ein persönliches Werkzeug zu erschaffen, hatte es für ihn nahegelegen, einen Stab zu formen, einen Stecken, wie ihn Hirten verwendeten, um ihre Tiere gegen Wildwölfe und Waldbären zu verteidigen, wenn es nötig wurde, und das Vieh zu züchtigen, sobald es aus der Reihe tanzte.
Zauberstäbe waren unter Schattensängern nie bevorzugte Werkzeuge gewesen, zu unhandlich, zu hinderlich, wenn es darum ging, flink, elegant und unsichtbar zu sein. Allenfalls sehr alte Meisterinnen und Meister kombinierten manchmal Form, Magie und Material, sobald sie ohnehin eine Gehhilfe benötigten. Entsprechend überrascht war die Großmeisterin damals gewesen, als sie vom Werkstück ihres Schülers erfuhr, und von dem Material, das er dazu besorgen wollte. Silber, Holz und Eis … nun, warum nicht? Sie hatte ihn darauf hingewiesen, dass das Eis ihm möglicherweise Schwierigkeiten machen würde, sich sicherlich besser von einer Frauenhand würde führen lassen. Aber Schwierigkeiten hatten ihn damals nicht beschäftigt, mehr noch: Die Herausforderung hatte ihn angestachelt.
Und was für ein herrliches Werkzeug war es geworden! Wie hatten die Chaosgeister davor gekuscht, die er heraufbeschworen hatte, unter so vielen Opfern und Entbehrungen! Wie weit war er damit vorangekommen, er und die Gefolgschaft, die sich um ihn herum geschart hatte, manche aus Angst, die meisten aus unkundiger Unvernunft, aus Streben nach Macht, um sich ihre kleinen, zerbrechlichen und rücksichtslosen Wünsche zu erfüllen. Nützlich war das gewesen, amüsant und bis zuletzt überaus interessant. Bis sie sich verschworen hatten, um ihm sein Vergnügen zu stören. Bis Askýn Lagoscyre, auf ewig verflucht mochte der heuchlerische Kerl sein, es schließlich ruiniert hatte.
Ovidáol hetzte hinter Vater und Tochter her, soweit er es mit den kümmerlichen Resten seines alten Ichs noch vollbrachte. Der Körper! Er brauchte dringend den Körper des Mannes, nun, im äußersten Notfall vielleicht auch den des kleinen Mädchens. Die Überreste seiner Verkleidung, die des alten Mannes, eine kunstfertige Zauberei, hatte er in Noktámas verlassener Domäne nicht halten können, die der Greisin notgedrungen schon zuvor aufgegeben. Seine eigenen Reste würden ihm mit Glück noch eine Weile ihre Dienste leisten. Aber um wieder ins Weltenspiel zu kommen, benötigte er einen funktionierenden Körper als neues Gewand. Hier, jetzt und so, war er nicht mehr als eine Schnecke, die jemand aus ihrem Häuschen herausgerissen hatte.
Wo kam dieses Licht her, dieses Licht, so hell als habe jemand Tausende von Sommern und Wintern das Licht von Mond und Sternen geerntet und eine Essenz daraus gemacht? Hatte Noktáma allen Ernstes die Magie, die über die Zeiten all die vielen Schattensänger zurückgelassen hatten, zusammengesammelt und in diesem Kind verborgen, so prall gefüllt, dass die Magie sich zerstörerisch entlud, sobald sich ein Werkzeug dafür fand?
Angenommen, Noktáma war doch noch nicht fort. Warum schuf sie eine so verheerende Kraft und steckte sie in einen kleinen und unzulänglichen Kinderkörper? Was hatte sie vor? Und hatte sie geahnt, dass sie damit ihre eigene Domäne verwüsten würde?
Wo bist du, Schattensänger?, rief er zum Schein, denn er wusste ganz genau, wo sein Opfer sich befand. Das Kind in seinen Armen mochte seine Witterung übertünchen, war aber selbst hell strahlend wie ein im Moment erstarrter Blitz. Du kannst ewig umherrennen mit deinem Balg. Entkommen wirst du mir nicht!
Wir haben keine Angst vor dir, böser dummer Mann! Du bist nicht einmal ganz! Du bist kaputt, wie dein Stab! Ich hab keine Angst vor Scherben!
Was war das? Das Kind wurde frech und vorlaut? Ovidáol lächelte mit dem, was von seinem ursprünglichen Mund geblieben war. Das würde der Kleinen früher oder später nicht gut bekommen!
Schattensänger! Du kommst hier nicht heraus, solange deine Kreatur die Dunkelheit blendet! Nimm ihr den Stab ab und gib ihn mir. Lass uns kämpfen! Ich mit meinem Werkzeug gegen dein merkwürdiges Instrument! Wie findest du das?
Kämpfen willst du? Wie unbelehrbar bist du, Ovidáol Etaímalar? Um welchen Preis willst du dich mit mir anlegen?
Um deinen Körper! Habe ich das nicht deutlich genug gesagt? Ist das nicht ein wohlfeiler Einsatz? Und … verlockt dich nicht die Aussicht, den meinen im Gegenzug dazu endgültig zu zerschmettern, sollte ich zu überheblich sein? War das nicht deine Absicht, als du mich an diesen Ort verschleppt hast?
Nein. Das wäre ein unfairer Handel, Ovidáol Etaímalar. Es kann nicht dein Leben gegen meines eingetauscht werden. Nicht hier, nicht jetzt und nicht von dir. Das sage ich dir ehrlich. Ich mag ein überheblicher Dummkopf sein, der es nicht besser verdient. Aber ein Betrüger bin ich nicht!
Der Verfluchte stutzte. Betrüger?
Und dann war der Schattensänger plötzlich direkt hinter ihm.
Kannst du mich sehen, Ovidáol Etaímalar? Kannst du mich sehen, im Licht der Magie meiner Kreatur, wie du sie nennst?
Ovidáol musterte sein Gegenüber. Das Licht war so hell, dass selbst die pechschwarzen Gewänder des Schattensängers nicht mehr waren als ein aschfahler Schleier im Licht.
Das Kind hatte er losgelassen.
Ovidáol wusste nichts darauf zu entgegnen. Wo war die Kleine? Worauf wollte Askýn Lagoscyres Schüler hinaus? War das ein jämmerlicher Versuch, ihn abzulenken? Viel zu gelassen stand er da vor ihm, die Geige in der einen Hand. Die andere nestelte beiläufig an seinem Hemd, öffnete ein paar Knöpfe. Dann zog er seinen Kragen in Richtung seiner linken Schulter beiseite.
Die silbrige Narbe, die sich ungefähr dort über seine Brust zog, wo sich sein Herz befinden mochte, war dermaßen magisch, dass sie das gleißende Sternenlicht dämpfte. Ovidáol hatte eine solche Zeichnung schon oft gesehen, damals, wenn die Rotgewandeten auf der Jagd gewesen waren. Damals allerdings stets tief und von bleifarbenem Blut gesäumt. Der Todesstoß, wenn sie ihre Opfer gefunden und lange genug gequält hatten, um das Licht zu locken.
Du kannst mich nicht töten, Ovidáol Etaímalar. Du kannst meinen Körper nicht anlegen wie ein Stück Kleidung. Nicht, bevor ein Rotgewandeter dieses Werk beendet hat.
Verflucht!
Deswegen also war er aufgetaucht, der báchorkor, der offenkundig unsterbliche junge Mann mit seinen unbeholfenen Kräften. Nun ergab alles Sinn. Das Licht setzte einen neuen Magier ins Spiel, damit dies hier fortgesetzt werden konnte. Damit der hier, der Schattensänger, der Noktámas Ungetüm gezeugt hatte, sterben konnte. Allerdings … wahrscheinlich nicht jetzt, hier und nicht zu seinen Gunsten.
Verflucht sollst du sein, Yalomiro Lagoscyre, wisperte Ovidáol mit seinem gestückelten Mund. So wie ihr mich dereinst verflucht habt.
***
„Du kannst die Wirklichkeit zerteilen?” Advon war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Was Galéon da behauptete, war atemberaubend, unrealistisch und konnte nur aus der wilden Phantasie eines báchorkor entstammen.
„Nicht so, wie du es dir vorstellst. Nicht wie mit einer Schere oder einem Messer.”
Advon runzelte die Stirn. Woher wusste Galéon, dass er sich gerade im Moment eine große Schneiderschere vorge-
„Das Chaos grenzt an die Schatten und an Pataghíus Reich. Vermutlich auf der anderen Seite dieser seltsamen Einöde. Aber das ist egal, spielt für uns keine Rolle. Es sei denn, du hättest die Macht, den Glanz zu verdunkeln.” Galéon zögerte kurz: „Kannst du das möglicherweise?”
„Wie soll das gehen? Warum sollte ich das …” Advon unterbrach sich. Hatte Galéon nicht gerade eben gesagt, es spiele keine Rolle? Vielleicht war es gerade das, was die Eltern und die Sieben und Siledaú sowieso manchmal so ungeduldig gemacht hatte, sobald er eine Serie von Fragen nach irgendeinem Warum gestellt hatte. Es brachte nicht weiter. Seltsam. Wie erwachsen er sich plötzlich vorkam, nun, da ihm das bewusst wurde. Manchmal war es vielleicht so, dass auch berechtigte Fragen ihre eigene Zeit hatten.
„Irgendwo dazwischen sind Feuer und Wasser und Eis und ganz am Rand der Schüssel das Weltenspiel selbst.”
„Welche Schüssel?”
„Die, in der die Mächte alles zusammengemengt haben. Es ist ein ständiger Wirbel, immer in Bewegung. Das Chaos ist nicht ordentlich neben allem anderen, Advon Irísolor. Es ist kaum möglich, direkt von einem Punkt zum nächsten zu kommen, es sei denn, durch blanken Zufall. Aber ich will keinen Zufall. Aber … es wurde einst ein Durchgang geschaffen, zwischen dem Schatten, dem Weltenspiel und dem Chaos. Sozusagen ein Sprung in der Schüssel. Ein Ort, der immer noch existiert, auch wenn er jetzt verlassen ist. Und dorthin muss ich gehen, um an die Schatten heranzureichen.”
„Was habe ich damit zu tun?” Advon versuchte, sich das Weltenspiel, die Domänen der Mächte und das Chaos vorzustellen wie eine Gemüsesuppe in einem brodelnden Topf. Vielleicht meinte Galéon so etwas wie eine Luftblase, die sich dabei bildete, aufstieg und an der Oberfläche zerplatzte.
„Du”, sagte Galéon, „trickst die Mächte aus.”
Advon blinzelte verwirrt. Galéon aber redete schon weiter.
„Advon, ich möchte, dass du etwas tust, was nie zuvor geschehen ist, und ich rate dir dringend davon ab, so etwas jemals aus eigenem Antrieb zu machen. Aber ich komme hier ohne deine Magie nicht weiter. Wir müssen zusammenwirken, um Dýamirée und ihren Vater zu retten.”
„Meine Magie? Aber …”
„Ich will, dass du mich unter deinen Willen zwingst und mir gebietest, die Passage zwischen den Schatten, Pianmurít und dem Chaos zu öffnen. Du weißt, wo Dýamirée sich befindet. Du kennst das Wo. Ich kenne das Wie.”
„Was ist Pianmurít?”
„Die Luftblase in der kochenden Suppe, die du dir gerade vorgestellt hast. Advon, wir haben keine Zeit. Ich verfüge über Fähigkeiten, aber nicht über die passenden Fertigkeiten. Und es ist nicht die Zeit, in eine Lehre zu gehen. Du musst mit deinen Kräften bewirken, dass ich zaubern kann.”
„Wie soll das dann funktionieren?”
„Wenn du willst, dass ich es tue, werde ich es tun. Ich werde wahrscheinlich keine Ahnung haben, was geschieht und mich danach nicht mehr daran erinnern. Aber das ist völlig egal. Es muss nur einmal funktionieren.”
„Und wenn es glückt, dann ist Dýamirée befreit?”
„Wenn die Mächte gnädig sind und uns solcherlei Mogelwerk verzeihen, dann soll es so sein. Du wirst Dýamirée retten, so wie es dir bestimmt ist. Ich bin nicht mehr als ein Werkzeug des Lichtes, das mächtiger ist als Schatten, Farben und Chaos zusammen. Ich ergebe mich deinem Willen.” Der báchorkor griff sich seine Axt. Der rote Stein, den er dem Menschenmädchen abgenommen hatte, steckte nun unter seinem Hemd.
Advon schaute sich um. Die Unkundigen waren immer noch mit sich selbst und ihren Kindern beschäftigt und allem Anschein nach weiterhin geblendet. Niemand wagte sich vom Fleck. Alle waren miteinander beschäftigt, voller Glück und Erleichterung. Farbenspiel hielt sie alle beieinander. Die teirandanja hing nun ihrem Vater um den Hals und redete aufgeregt auf ihn ein.
„Ich … ich will, dass du deine geheimen Fähigkeiten nutzt”, sagte Advon zaghaft. „Ich will, dass du einen Zauber wirkst, der ein Tor zum Schatten aufmacht.”
„Inniger”, sagte Galéon ungeduldig. „Stell dir vor, dass Dýamirée nur einen Axthieb von dir entfernt ist. Stell dir vor, dass ich dir die Tür zu ihr öffne.”
„Ich will … Galéon, das ist so schwer! Ich … es ist nicht richtig, den Willen auf Menschen zu legen. Papa sagt …”
„Dein Vater hat vollkommen Recht. Magie darf niemals ohne einen wirklich sehr vernünftigen Grund oder in Notfällen an Unkundigen gewirkt werden. Aber das hier ist ein Notfall. Stell dir vor, wie ihr beide euch wieder in die Augen schaut, wie sich eure Hände berühren. Wie du für sie bist und sie für dich. Wie ihr miteinander geht und immer füreinander seid! All die Abenteuer, die ihr erleben werdet! All die schönen Orte, die ihr sehen werdet. Vorausgesetzt, wir verpassen jetzt die Gelegenheit nicht!”
„Das Meer”, murmelte Advon. „Wir wollten uns gemeinsam das große weite Meer anschauen.”
„Sehr gut. Farbenspiel trägt euch binnen weniger Tage dorthin. Willst du, dass ich euch diesen Wunsch erfülle, Advon Irísolor? Dann lass es mich spüren. Wenn du es willst, dann kommen wir alle hier heraus!”
„Und wenn ich dir weh tue?”
„Hast du báchorkoray gesehen, die hölzerne Puppen an Fäden beherrschen?”
„Nein. Aber Papa hat von einer erzählt, die hatte eine lange Nase, und …”
„Advon! Ich bin eine solche Puppe. Dein Wille ist der Faden, der mich lenkt. Das tut der Puppe nicht weh. Und jetzt gib dir Mühe! Für Dýamirée und das große weite Meer! Für das, was du willst!”
Advon schloss die Augen und konzentrierte sich auf die maghiscal um sich, die er fühlte wie eine weiche, wohlige, vor Magie knisternde Haut um sich. In seinem Geist stellte er sich vor, wie Galéon seine Axt erhob und sich eine mysteriöse, geheime Magie manifestierte, die Zeit und Raum zu überwinden in der Lage war. Er stellte sich vor, wie Galéon zuhieb und einen Geheimgang freilegte, so wie die Kinder in den Abenteuergeschichten des Vaters so etwas gelegentlich hinter Schränken oder losen Fußbodenbrettern fanden und dann in dunkle Stollen hinabkletterten, die seit Ewigkeiten vergessen waren und zu Höhlen mit Schatzkisten oder geheimen Verstecken führten.
Dýamirée! Ganz, ganz flüchtig empfand er etwas, das sich seltsam anfühlte, wie etwas, das noch gar nicht hergehörte. Für einen winzigen Moment fühlte er sich anders, schummerig, älter, erfahrener, wissender. Für einen Herzschlag war er kein Kind mehr. Für einen Atemzug ahnte er, wer und was er einmal sein würde. Konnte. Musste. Jetzt!
Seine maghiscal loderte hoch, wie das Feuer im Garten, wie ein Flammenmeer, wie Pataghíus Glanz. Es wurde so heiß, dass es die Unkundigen versengt hätte, hätte nicht das Eis im Sand alles ausgeglichen, was an Magie überfloss.
Ich will, dass du einen Geheimgang findest, der zu Dýamirée führt, dachte Advon angestrengt. Ich will, dass du die Geschichte zu einem guten Ende bringst. Ich will, dass du mit meiner Magie deine Magie wirkst. Pataghíu, gib Galéon die Kraft. Ich will es!
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