Aurópéa war menschenleer. Innerhalb der Stadtmauern hielt sich niemand mehr auf, sah man von ein paar Katzen, Ratten und verirrtem Geflügel ab, das es im letzten Moment in höher gelegene Stockwerke und auf Dächer geschafft hatte. Innen an den Mauern hatten sich Unrat, Trümmer und weggespülter Hausrat gestaut. Es würde viele, viele Tage dauern, um diese Unordnung zumindest oberflächlich zu beseitigen.

Immerhin: Die Mauern hatten gehalten. Das Wasser war durch die Tore abgeflossen und hatte aus der sanften Anhöhe Furchen herausgewaschen, Hohlwege, die nun an die große Überschwemmung gemahnten, und war anschließend im sandigen Boden versickert.

Die Bewohner und Besucher von Aurópéa, die in dieser furchtbaren Nacht erst vom Regensturm, dann von der großen Flut überrascht worden waren, beschauten sich aus sicherer Entfernung von den Stadtmauern, wie das Wasser und das eine oder andere kleinere Trümmerstück vorbeischwamm. Dann leuchtete das Licht auf, versetzte abermals alle in Panik und alles Gold, das in Aurópéa verbaut war, gleißte auf wie feurige Blitze in eisigem Weiß.

Oben in der Stadt, da sprudelte das Wasser nur noch in schmalen Rinnsalen aus dem alten Brunnen, bis es mit einem letzten knappen Gluckern versiegte und die Mauern des Palastes des konsej zu vibrieren begannen.

***

Als Elosál Irísolor wieder zu sich kam, hatte sich das Weltenspiel verändert. Die fajía lag auf dem Rücken, starrte in die Höhe und schauderte. Der zentrale Turm des Cielástel, der mit Pataghíus Halle unter seinem Dach, war durch eine Säule aus blendendem, kühlen Licht nach oben verlängert, ein Licht, das mitten durch das Wolkenportal hindurch ragte – oder von dort herniederfiel.

War dies das Licht des Nachthimmels, ein Widerschein von Noktámas Juwel und Sternenschleier? Dermaßen hell? Das konnte doch nicht sein? Aber doch, was immer es war, es verletzte sie zwar nicht, aber es fühlte sich auch nicht besonders angenehm an. Es passte nicht mit Pataghíus Glanz zusammen. Also kam es wohl in irgendeiner Weise aus dem Schatten. Bei den Mächten, was ging dort nur vor?

Die fajía wandte sich stöhnend ab und kroch dann aus dem Licht heraus, zurück ins Gebäude, von dem Sims weg in die Sicherheit der bunten Glasburg. Dort ließ sie sich matt auf den Stufen der Wendeltreppe nieder, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und fühlte sich leer und unfassbar erschöpft.

Aber nein! Müdigkeit, Erschöpfung, das konnte sie sich jetzt nicht erlauben! Sie durfte jetzt nicht rasten, nicht ausruhen, Cýelú und die arcaval’ay allein lassen! Etwas war geschehen, etwas Wichtiges, etwas von so starker Magie, dass es sich nur durch das Eingreifen der Mächte erklären ließ. Aber was hatte es zu bedeuten? Stand es gut für sie – oder waren sie besiegt worden?

Elosál schloss die Augen und versuchte, die arcaval’ay zu finden. Sie spürte hinaus in die Ebene, dort, wo der Kampf unvermindert andauerte, wenn er sich auch verändert hatte. Hatten die Regenbogenritter zuvor versucht, den Chaosgeistern den Weg nach Aurópéa abzuschneiden, bewegten sie sich nun nicht mehr auf der Stelle. Sie hatten die Richtung gewechselt. Die Wüste! Ja, sie trieben die Monster zurück in die Wüste, weg vom Cielástel, weg von den Hügeln, weg von der Stadt, wo viel zu viele verstörte Menschen waren. Was sollte die Unruhe in Aurópéa? Was geschah dort draußen in der Stadt, das die Unkundigen aus den schützenden Mauern hinaus trieb?

Elosál versuchte, die Ritter zu spüren. Pataghíu hatte seine schützende Hand über die Sieben gehalten. Viele, viel zu viele von den Übrigen waren erneut den Chaosgeistern zum Opfer gefallen. Elosál spürte jeden der gefallenen Ritter wie eine frische Wunde in ihrer maghiscal. Aber noch war sie stark genug. Noch konnte sie etwas bewirken. Solange den Sieben nichts zustieß, ließen sich alle Wunden heilen.

Cýelú war nun bei ihnen. Was immer zwischenzeitlich geschehen war, er hatte sich auf seine Pflicht besonnen und war nun bei ihnen, führte sie an, hatte sicherlich auch einen Plan bei dem, was er tat. Das war gut. So konnte sie ihren Blick einen kostbaren Moment lang von den Kämpfern abwenden und sich um die camat’ayra kümmern. Die bemerkenswerte Frau, die den Regensturm gebannt hatte.

Elosál spähte über die Schulter zur Tür auf den Sims hin. Da war es hell, zu hell, so hell, dass alle Farben überstrahlt wurden. Hier konnte sie vorerst nichts ausrichten.

Was nun?

Advon! Bei den Mächten, wo war der Junge hin? Sie hatte ihn mit dem kleinen Schattensängermädchen in die Sicherheit seines Schulzimmers geschickt. Danach hatte sie ihn buchstäblich aus den Augen verloren, während ihr Blick die Regenbogenritter geführt hatte.

Ob er gehorsam gewesen war und mit dem Mädchen Zuflucht gesucht hatte? Hatte dessen Mutter ihrem Sohn so sehr vertraut, dass sie sich selbst an dem Kampf beteiligt hatte, nachdem sie ihr Kind in sicherer Obhut wusste?

Elosál verzog die bleichen Lippen zu einem kraftlosen Lächeln. Ganz sicher nicht. Sie kannte ihn gut genug, ihren Sohn, um zu ahnen, wo er nun war. Sie hätte es genauso getan. Sicherheitshalber, und nur für den Fall, dass sie sich irrte, schleppte sie sich die Treppe hinauf in Pataghíus Halle.

Natürlich war niemand mehr hier. Nur das Schmusetier, das dem kleinen Mädchen gehörte, saß auf Cýelús Thron, fehl am Platz und einsam, so als habe es jemand dort in großer Eile zurückgelassen. Die fajía hob das abgegriffene, offensichtlich heiß geliebte Spielzeug auf und dachte nach. Es würde gefährlich werden. Nie zuvor hatten sie alle gemeinsam den Cielástel verlassen.

Aber es hatte auch nie zuvor eine solche Gefahr gedroht.

***

Der junge maedlor und der Knecht waren Hals über Kopf von der Burgmauer hinab über den Hof und zielstrebig in den Stall geflüchtet. Da mir kurzweg nichts Besseres einfiel, hatte ich mich ihnen angeschlossen. Für einen ganz knappen Moment war mir dabei der Gedanke gekommen, dass ich am Morgen mir nicht hätte träumen lassen, dass ich heute so viel Zeit in einem Stall verbringen würde. Zeit … wie viel Zeit war eigentlich zwischenzeitlich vergangen? Seit dem Losbrechen des Sandsturms hatte ich keine Orientierung mehr anhand des Sonnenstandes oder der Position des Mondes. Wie lange war ich schon hier in einem Heiligtum, wo ich beim besten Willen nichts zu suchen hatte?

Details. Die Tageszeit war wahrscheinlich das letzte, was jetzt irgendeine Bedeutung hatte. Es gab wichtigere Fragen. Wo waren alle anderen gerade?

Elosál! Die fajía oben auf dem Turm war dem Lichtschein so nahe. Brauchte sie Hilfe? Hätte ich eigentlich den ganzen weiten Weg die Treppe wieder hinauf hetzen sollen, um nachzusehen? Oder war sie selbst diejenige, die das Strahlen ausgelöst hatte und es wäre vernünftiger, Abstand dazu zu halten?

„Komm!”, rief mir der maedlor ungeduldig zu. „Komm rein hier!”

Die Stalltür stand weit offen. Die Männer rannten dort hinein, als könnten sie dort dem blendend hellen Licht entrinnen, das durch das Himmelsportal strahlte und die Burg in blankes weißes Licht tauchte. Die beiden taumelten, stolperten, es war ein Wunder, dass sie ohne größere Unfälle die Treppe auf der Mauerinnenseite hinab in den Hof bewältigten. Vielleicht wäre es naheliegender gewesen, gleich ganz aus der Burg zu flüchten, aber die geschlossene Zugbrücke war in der Eile und Panik unüberwindbar. Sie waren gefangen. Oder in Sicherheit, wie man es nahm. Wahrscheinlich hatten sie davon eine andere Vorstellung als ich.

Ich hatte es nicht ganz so eilig und ließ mir etwas mehr Zeit mit den Stufen. Das Licht war so unglaublich gleißend, dass ich ein seltsames Nachstrahlen vor Augen hatte, als ich in den halbwegs durch seine massiven Wände abgeschatteten Stall betrat. Darin war es allerdings auch nicht allzu dunkel, denn die Fenster über den Verschlägen, die an normalen heißen Sonnentagen für angenehmes Schummerlicht sorgen mochten, wirkten nun fast wie grelle Leuchtkörper. Ich hatte in dieser Welt niemals einen derart lichtdurchfluteten Innenraum betreten.

Im Vorraum saßen ein uralter, vornehmer Mann und eine glatzköpfige alte Dame mit wild verschmierter Schminke. Die teuren Gewänder der beiden waren unordentlich und nass, und doch strahlten sie mehr Würde aus, als man hätte erwarten können. Beide schützten ihre Augen mit beiden Händen vor dem hellen Licht. Der maedlor versuchte hektisch, seinem Herrn zu erklären, dass ein gewaltiges weißes Feuer vom Himmel gekommen sei, um das Weltenspiel zu vertilgen.

Das waren dann wohl dieser sinor Saháalír und die Dame, die maedlor und Knecht hierher begleitet hatten. Ich nutzte die Gelegenheit, unbemerkt an ihnen vorbei zu schlüpfen und hinten in den Stall zu laufen. Dort randalierten wiehernd und röhrend mehrere Tiere. Solche absonderlichen Laute hatte ich nie zuvor gehört, und als ich nachschaute, stellte ich fest, dass es Maultiere waren, die nun gemeinsam mit Úldaise Tiáramalés bedauernswertem Pferd hier untergestellt waren. Der Knecht mühte sich, die verängstigten Tiere zu besänftigen. Dass die ihm wichtiger waren als der vornehme Ratsherr und seine Begleitung, ließ tief blicken.

Ein einziges Einhorn stand in seinem Käfig und schaute sich das Spektakel an, das seine entfernten Artgenossen veranstalteten. Es war die Stute mit dem goldblonden Fell, die Elosál Irísolor gehörte. Neben den Reittieren der Regenbogenritter war mir das geflügelte Geschöpf fast zierlich erschienen; nun, im Angesicht des gewöhnlichen Pferdes gegenüber wurde mir bewusst, wie groß es tatsächlich war. Als ich mich seinem Käfig näherte, wandte es sich mir zu und musterte mich mit aufmerksam aufgestellten Ohren. Sein gelber Reptilienblick war überraschend beredt, fast als wollte es seinen Unwillen über die nervösen Tiere mitteilen.

Ich konnte nicht widerstehen und streckte meine Hand nach der fast weißen Samtschnauze aus. Wie wunderschön die Stute war! Dýamirée wäre sicher begeistert, wenn sie dieses Tier sehen und streicheln konnte. Vielleicht wäre es ihr sogar möglich, sich mit ihm sinnreicher zu unterhalten als mit den geduldigen Windninchen, Fischen und Vögeln. Das Einhorn sah aus, als wisse es ganz genau, was mir an Gedanken durch den Kopf ging.

Wie mochten solche Tiere in dieses Weltenspiel geraten sein? Nach allem, was ich wusste und von Yalomiro über die Jahre gelernt hatte, gab es hier keine Tiere, die sich im Wesentlichen von denen unterschieden, die mir vertraut waren. Sicher, meist gab es graduelle Abweichungen, die ich als exotische Arten einer gängigen Gattung akzeptieren konnte. Aber was mochten sich die Mächte bei Einhörnern gedacht haben? Gab es irgendwo wilde Herden davon? Ich hatte Fragen!

„Meisterin Salghiára?”

Durch die hintere Stalltür war Elosál in den Stall gekommen, unbemerkt von den Menschen im Vorraum. Sie war bleich, ausgezehrt, bewegte sich schwankend und warf einen verwunderten Blick auf den Pferdeknecht, dessen Anwesenheit sie sich wohl nicht erklären konnte. Der Mann war von den panischen Mulis so abgelenkt, dass er das Erscheinen der fajía zunächst überhaupt nicht bemerkte. Kein Wunder. Sie strahlte nicht mehr so wie zuvor. Das grelle Licht schien sie geradezu ausgeblichen zu haben. Ihr Gesicht wirkte schmal und ihre Wangen hohl. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen in ihrem bleichen Gesicht. Bei alledem war sie weiterhin von einer atemberaubenden, ätherischen Schönheit. Sie hatte Dýamirées Kuscheltier im Arm.

Ich besann mich, lief zu ihr und wollte sie instinktiv greifen und stützen, aber sie schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand.

„Es ginge nicht gut aus”, scherzte sie matt. „Eure maghiscal ist bei Weitem zu stark für mich.”

„Meisterin, was ist geschehen? Kommt das Licht von Euch?”

Sie warf einen zerstreuten Blick zu dem Unkundigen mit seinen Maultieren und schlurfte auf mich zu. „Nein. Aber … ich erkenne das Licht. Ich habe es schon einmal gesehen. Aber da war es … gemäßigter.”

Mehr an Erklärungen schien ihr das nicht wert zu sein. Ich wartete, bis sie vor mir stand. Sie bemerkte die übrigen Menschen vorn im Vorraum.

„Die sind alle aus der Stadt gekommen. Ich glaube, es ging um eine Audienz oder so etwas.”

Sie lächelte erschöpft. „Advon ist nicht hier, nicht wahr?”

„Nein.”

„Ich hatte ihn bei seinem geliebten Einhorn vermutet. Dann brauche ich wohl auch nicht zu fragen, wo Eure Tochter ist.”

„Nein.”

„Sind sie beieinander?”

„Ich … fürchte nicht. Aber mein hýardor und der sonderbare Geschichtenerzähler … Advon ist jedenfalls nicht allein.”

Sie nickte. Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass Advon und sein Ross durch das Portal geflogen waren, kurz bevor das Licht aufgeflammt war. Oder ahnte sie das schon von selber? Sie streckte mir das Spielzeug entgegen. Ich griff zögerlich zu.

„Mein hýardor“, sagte sie und legte die Hand an die goldene Käfigtür, „führt die Ritter an.”

„Ja, das habe ich mir gedacht. Es scheint, als ob sie die Chaosgeister in der Ebene treiben.”

„Sie locken sie mit einem Köder.” Sie zögerte kurz. „Begleitet Ihr mich?”

„Begleiten? Wohin? Wie?”

„Sonnenstrahl wird uns tragen.”

Sie meinte wohl das Einhorn, denn die Stute schnaubte erwartungsvoll und lüpfte die Flügel.

„Ihr wollt dahin fliegen?”

Sie nickte. „Und es wäre mir wohl, es nicht allein zu tun. Oder habt Ihr Höhenangst?”

„Es hat mich einmal ein Drache durch die Luft getragen”, entschied ich mich für die vage Wahrheit. Sie hob die Brauen.

„Mein hýardor hielt es für eine gute Idee.”

„Euer hýardor scheint ein einfallsreicher Mann zu sein.”

„Wisst Ihr, wo er ist? Wo meine Tochter ist?”

„Nein. Nicht mit Sicherheit. Aber finden wir einen, findet sich alles andere.” Sie blickte auf und räusperte sich. „He! Du da, bei den Maultieren.”

Der Pferdeknecht zwischen seinen brummenden und quietschenden Tieren hörte sie nicht sofort. Ich ging hinüber, griff mir einen Besen und klopfte damit gegen die Gitter, bis ich seine Aufmerksamkeit hatte. Aufgeschreckt drehte er sich um, bemerkte die fajía, ließ aber allen gebührenden Respekt vermissen. Wahrscheinlich erkannte er die abgekämpfte Magierin nicht als das, was sie war. Er starrte verwirrt und war offensichtlich nicht darauf vorbereitet, was sie als Nächstes sagte.

„Du scheinst eine gute Hand für Tiere zu haben. Würde es dir etwas ausmachen, mir das Einhorn zu satteln?”

***

Die Menschen in den Hügeln beobachteten atemlos, wie sich die wirbelnde Masse aus Farben gen Süden entfernte, ebenso wie das unerträgliche, unwirkliche und unheimliche Brüllen, Röhren und Kreischen, das unmöglich von lebendigen Wesen kommen konnte. Die Obstbauern, die sich noch vor wenigen Tagen große Zukunftspläne um den Anbau von exotischen Samtäpfeln gemacht hatten, begriffen, dass sie für den Augenblick wohl mit dem Leben davongekommen waren und am nächsten Morgen vielleicht damit fortfahren konnten, sich bescheiden um schnöde Palmbeeren und Süßfeigen zu kümmern.

Dann war das Leuchten über sie hinweg gebrandet und hatte die Hügel, die Gärten, die Bäume taghell erleuchtet, alles ringsum in ein scharfes, überhelles Licht getaucht und bewirkt, dass Schwärme von Prachtvögeln trompetend aus den Büschen, wo sie wegen des Sandregensturms Unterschlupf gesucht hatten, in den Himmel aufgestoben waren. Das war beinahe ebenso ohrenbetäubend gewesen.

Unter dem grellen Licht stach der Hügel mit Úldaise Tiáramalés abgebranntem Garten unheimlich zwischen den anderen hervor. Was dort geschah, war aus der Entfernung nicht zu erkennen. Aber es klang unheilvoll.