„Majestät”, raunte Andriér Altabete diskret, „was machen wir hier eigentlich?”

Asgaý von Spagor blickte sich verstohlen um. Kíaná ging ein paar Schritte voraus, neben Daap Grootplen, der die kleine Tíjnje auf dem Arm trug. Das Kind war vor Erschöpfung schläfrig geworden. Die beiden Jungs schritten voran, vollkommen ziellos und mit sinkendem Mut. Anfangs hatte Jándris noch mehrfach versucht, Láas mit dem abgehauenen Monsterfuß zu foppen, bis sein Vater dem Unfug Einhalt gebot. So konnten die Jungen sich nicht einmal mehr ablenken und schritten schweigend und abwesend voran.

Althopian sicherte die Gruppe nach hinten ab. Seine Gedanken waren offenbar längst nicht mehr bei ihnen. Möglicherweise hörte er immer noch die Stimme seines Sohnes. Oder er machte sich Vorwürfe, Alsgör Emberbey nicht zurückgehalten zu haben. Der teirand wusste, dass die beiden Männer eine tiefe, wenn auch seltsam distanziert erscheinende Freundschaft verband. Die Sorge und Verantwortung, die die beiden sich all die Zeit als seine Wächter, Lehrer und Beschützer geteilt hatten, hatte die ungleichen Ritter verbunden.

„Wir laufen”, flüsterte der teirand zurück und fügte hinzu, nachdem Altabete sich damit nicht zufriedengab: „Ich weiß, dass das keine befriedigende Antwort ist. Aber was sollen wir anderes machen? Sobald wir stehen bleiben, kommen die Chaosgeister sicher wieder.”

„Wir zögern es also heraus”, sagte der Ritter. „Wenn wir hier bis zur Erschöpfung ziellos herumlaufen, dann werden die Kreaturen uns am Ende doch erwischen.”

„Sollen wir es etwa Emberbey nachtun und aufgeben?”

„Vielleicht hat er seinen Ausweg gefunden.”

„Vielleicht schleicht er auch beständig um uns herum. Ich vermag nichts zu sehen in diesem Zwielicht. Gerade, dass ich noch den Rücken von Grootplen erkennen kann.”

Kíaná drehte sich zu ihnen um. Er hatte wohl nicht leise genug geredet. Sie blieb stehen und ließ Asgaý und Altabete herankommen. Althopian schloss zu ihnen auf.

„Wir müssen uns beraten”, sagte sie ruhig. „Grootplen! Kommt her!”

Grootplen hielt die beiden Jungen zurück und setzte Tíjnje ab. „Hier”, hörte Asgaý ihn zu Láas sagen. „Bleib du einmal bei deiner Nichte, während wir reden. Bleibt in Sichtweite! Keiner geht weiter!”

„Opa”, protestierte Tíjnje.

„Ich bin gleich wieder da, mein Mäuschen!”

Die teiranda scharte die fünf Männer um sich. Mit einem raschen Blick zur Seite vergewisserte sie sich, dass die Kinder außer Hörweite waren. Dann wisperte sie: „Es hat keinen Zweck. Ohne irgendetwas, das uns leitet, kommen wir hier nicht heraus. Wir müssen es anders angehen.”

„Was haben wir für eine Wahl?”, fragte Grootplen. „Planlos loslaufen wie Emberbey? Aufgeben?”

„Nein”, sagte sie. „Aber denkt doch einfach nach. Vielleicht können wir von hier aus nicht aus eigener Kraft entfliehen. Doch denkt Ihr nicht, dass wir derweil in Wijdlant vermisst werden? Mindestens Eure Tochter, Grootplen, wird sich fragen, wo Ihr und Tíjnje geblieben seid. Sicher suchen spätestens morgen unsere maedloray auch nach Asgaý und mir, sobald die spreghenay aus den Dörfern erscheinen. Wir haben kein Geheimnis daraus gemacht, dass es uns zum Turm gezogen hat.”

„Ich denke doch”, meinte Asgaý eifrig, „dass es genügend Radau gegeben haben sollte, als der Boden eingebrochen ist und all der Sand fiel. Das müssen sie doch gehört haben.”

„Scht!” Kíaná legte die Finger an die Lippen. „Leise. Nicht, dass die Kinder beunruhigt werden.”

„Und wenn?”, fragte Althopian müde. „Auch wenn man uns sucht, sie werden an der Tür scheitern. Und ob die Tür noch in den Turm führt oder in das, was davon übrig ist, würde ich nicht ohne zu zögern glauben, bei all dem Lug und Trug. Wir haben alles verloren, was uns wahr und echt erschien.”

Altabete verschränkte die Arme und schaute nachdenklich zu seinem Sohn hin. Láas und Jándris waren der kleinen Tíjnje aufmerksam zugewandt. Die drei tuschelten miteinander. Das kleine Mädchen stand still und blickte starr in das diffuse Licht, das über dem endlosen Sand schwebte. Das arme Ding. Sie war noch viel zu klein, um zu begreifen, in was für einer absurden Lage sie sich befanden. Mochten die Mächte geben, dass all dies nur ein verwirrender Traum für sie blieb, bis es endete. Asgaý seufzte und wandte sich dann wieder seiner hýardora zu. Wie gefasst, wie besonnen sie blieb. Was war es, dass sie nicht gänzlich verzweifeln ließ?

„Moréaval wird eine Lösung finden”, sagte Kíaná. „Wenn er von der Sache hört, wird er sofort alles in Bewegung setzen, uns zu befreien.”

„Das kann aber noch eine Weile dauern”, unkte Altabete. „Wer weiß, wo der Bursche sich gerade herumtreibt.”

„Dann liegt es womöglich nur an der Zeit. Und die werden wir herum bekommen. Moréaval weiß, dass ich dem Schattensänger von Herzen vertraue. Er wird ein Mittel finden, mit ihm in Kontakt zu treten.”

„Mit dem Schattensänger? Der, der diese Falle aufgestellt hat?”

„Altabete! Fällt Euch etwas anderes ein? Wenn Magie im Spiel ist, wer sonst sollte dagegen etwas tun? Wisst ihr denn etwas, das die Fähigkeiten eines Magiers überstiege?”

„Natürlich”, kam es von Althopian, leise, müde.

Asgaý wandte sich dem Ritter überrascht zu. „Und das wäre?”

Althopian legte seine Axt ab und kniete nieder. „Bitte, ihr Mächte, bitte beschützt mich“, begann er die uralten Worte der Not und blickte in die Runde. „Ihr wisst, in welcher Lage wir sind.”

„Oh nein.” Grootplen schüttelte missbilligend den Kopf. „Ihr werdet doch nicht ernsthaft erwarten, dass die Mächte etwas darauf geben, was jenseits des Weltenspiels geschieht?”

„Wenn da etwas ist, was mächtiger ist als ein Magier”, sagte Althopian, „dann die Mächte, die den Magiern die Macht verliehen haben. Habt Ihr es nicht auch so gelernt?”

„Althopian, wenn das hier das Chaos ist, dann ist das gerade der Ort, an dem die Mächte keine Macht haben. Die Mächte würden es nicht zulassen, dass Menschen hier … herein geraten. Wenn sie es verhindern könnten, dann wären wir nicht hier, sondern lägen von Trümmern erschlagen und von Sand erstickt im Turm. Dann wären wir hinter den Träumen, wie es sich gehört!”

„Gut”, sagte Althopian. „Bitte geleitet mich durch die Träume und lasst mich nicht im Chaos irren.

„Vielleicht hätten wir das aufsagen sollen, bevor wir in den Turm gegangen sind”, seufzte Grootplen.

„Es ist mehr, als uns sonst einfällt”. Asgaý fühlte sich verpflichtet, seinem getreuen Dienstmann zur Seite zu stehen. Er legte seinen Dolch ordentlich neben die Axt und fuhr fort: „Nimm mich unter deinen Schild, Pataghíu, verhülle mich mit deinem Schleier, Noktáma.”

Altabete seufzte. Dann schloss er sich an. „Nimm mich sacht vom Weltenspiel, Licht, und lasst nicht zu, dass ich zerbreche.

„Genau das”, sagte Althopian nachdenklich. „Es sind nicht Pataghíu oder Noktáma, die uns hie jetzt helfen können. Es ist das Licht, das uns hier herausholen muss.”

Nun sahen sie ihn verblüfft an. Der Ritter bemerkte es nicht. Er war vertieft in die Gedanken, für die er keine rechten Worte fand.

„Waýreth”, sagte Altabete, „wir wissen alle, welch großen Verlust du erlitten hast. Aber es schickt sich nicht für einen Sterblichen, das Licht zu beschwören.”

„Und wenn gerade das Unerhörte den Ausweg brächte?”

„Nun, dann ist Emberbey ja auf einem guten Weg.”

„Seid nicht so zynisch!”, tadelte die teiranda und kniete ebenfalls nieder. „Er hat ja recht. Wenn wir vom Weltenspielbrett gefallen sind, dann muss uns jemand aufsammeln. Wir gehören entweder zurück ins Spiel oder hinter die Träume. Es ist nicht recht, wenn wir … fehlen.”

„Fehlen?”

„Ja. Habt Ihr Euren Sohn nicht gelehrt, hinabgefallene Steine aufzusammeln, wenn jemand ans Brett gestoßen ist? Selbst wenn sie aus dem Spiel waren, so müssen sie doch zurück. Für die nächste Partie.”

„Wollt Ihr damit sagen, wir flehen zu jemandem, der für das Licht aufräumt und unter den Tisch gefallene Steine sucht?”, fragte Grootplen verblüfft.

„Kann es schaden?”

„Aber das Licht wird uns nicht hören! Hier ist nichts, was dem Licht angehört! Emberbey wird selbst vergebens danach suchen!”

„Streitet nicht! Was sollen die Kinder denken?”

Asgaý blickte hinüber, dorthin, wo die Kinder gerade noch gestanden hatten.

„Sei uns gnädig, Licht”, sagte er matt.

***

Manjévs Gedanken drifteten umher wie Nebelschwaden. Nicht wie der dicke, kaltnasse Nebel, in dem man sich so leicht verirren konnte und die Erwachsenen nicht ohne Not das Haus verließen. Von solchem Nebel erzählte Jándris manchmal gruselige Geschichten, von Wanderern, die sich im Moor verirrten oder in sonderbar fremden Gegenden wieder hervortraten. Das Mädchen wusste nun, dass es nichts Grässlicheres gab als die Chaosgeister, nichts Wunderlicheres und in seiner Stille und Weite Verstörenderes als diese seltsame Gegend.

Die Gedanken der teirandanja waren leicht und flüchtig wie der Dunst über den Feldern in der Morgendämmerung, kurz bevor Pataghíus Glanz sich nach einer kalten Nacht im Süden erhob und die Welt erwärmte. Der lange, ziellose Weg hatte sie in einen sonderbaren Zustand irgendwo zwischen Erschöpfung und Langeweile versetzt und ihren Geist in eine Trägheit gehüllt, die sie daran hinderte, über etwas Greifbares nachzudenken. Vielleicht war das besser. Vielleicht hielt diese Betäubung sie bei Verstand.

Nun, da Alsgör Emberbey bei ihnen war, fühlte die teiranda sich sogar etwas getröstet. Zwar war es ausgerechnet derjenige Dienstmann ihrer Eltern, zu dem sie die geringste Sympathie verspürte; dessen gestrenge, freudlose Art das Kind immer etwas eingeschüchtert hatte, ungeachtet dessen, dass er ihr gegenüber artig und dienstbeflissen war. Aber dass nun doch ein Erwachsener bei ihnen war, mehr noch, dass auch ihre Eltern und die anderen ebenfalls irgendwo mit ihnen an dieser Stätte waren, beruhigte das Mädchen. Nun hatten sie ein Ziel. Die Stimmen ihrer Eltern die sie, die des Vaters, die Merrit Althopian gehört hatte, waren nicht gänzlich Betrug gewesen. Sie konnten sie finden.

Manjévs nebelleichte Gedanken streiften den Sohn des anderen Ritters, des mutigen, gerechten yarl Althopian, schauderten und schämten sich davor. Dieser Widerwillen gegen den Jungen, gepaart mit einem Gemenge aus Dankbarkeit und etwas Mitleid, diese widerstrebenden Gefühle waren schwer zu ertragen. Sie juckten in ihrer Seele wie der Sand auf ihrer Haut.

Osse Emberbey trug sein Brett, schlurfte mit gesenktem Blick und hängender Schulter schweigend vor seinem Vater her. Manjév bemerkte, dass er versuchte, das unhandliche Ding ordentlich in der Hand zu halten wie ein Schwert. Aber vorerst musste er sich nicht eines weiteren Angriffs erwehren. Die Chaosgeister ließen sie in Frieden. Vielleicht hatte Merrit recht, und sie griffen nur an, wenn man zu lange stille stand. Aber wie lange konnte ein Mensch laufen? Irgendwann würden sie zu erschöpft sein, um in Bewegung zu bleiben. Und dann?

Die teirandanja betrachtete den Karfunkel in ihrer Hand. Ob sie damit noch einmal einen schrecklichen Chaosgeist würde abwerfen können? Oder war ihr Treffer pures Glück und Zufall gewesen? Und was, wenn sie verfehlte? Merrit konnte seine Dornenkugel an der Kette wieder einholen. Aber was, wenn ihr der rote Stein aus der Kammer des Magiers abhandenkam? Dieses kuriose Ding, das ihr einen Lidschlag einer möglichen Zukunft gezeigt hatte? Dieses …

Der Karfunkel leuchtete.

Nicht grell und hell wie ein Feuer oder eine Laterne. Im Inneren des Steines meinte Manjév, ein mattes, winziges Lichtlein zu erkennen. Doch so winzig es war … es war mit Sicherheit keine pure Einbildung.

Sie blieb stehen und brachte damit die ganze Gruppe zum Halten.

„Majestät?”, fragte Merrit Althopian.

„Schaut mal.” Sie hielt den Jungen und dem Erwachsenen den Stein hin. „Seht ihr das auch?”

„Was denn, Majestät?”

„Das kleine Lichtlein. Nicht größer als ein Wimpernhaar.”

Herr Alsgör beugte sich über den Stein. „Ja, ich sehe es, Herrin. Was ist damit?”

„Es ist neu. Vorhin war der Stein noch ganz klar.”

„Das ist kein Licht”, sagte Osse und rückte seine Brille zurecht.

„Natürlich ist es ein Licht”, widersprach Merrit. „Ich sehe es doch auch.”

„Ja, aber es ist kein Licht. Es ist ein Widerschein.”

„Ist das nicht das Gleiche?”

„Nein. Das ist, als ob ein Sonnenstrahl oder Kerzenschein auf einen Spiegel trifft.”

„Darf ich es näher ansehen, Majestät?”, fragte der Ritter.

Manjév zögerte einen Moment. Was würde wohl geschehen, wenn sie den Stein aus der Hand gab?

„Schaut es Euch an, Herr Alsgör”, sagte sie dann artig und gab ihm den Stein. Zu ihrer großen Erleichterung ging das Leuchten dadurch nicht weg. Der Ritter prüfte das Juwel eingehend.

„Er ist beschädigt”, sagte er dann und gab ihn ihr zurück. „Ein Jammer. Ein so großer Edelstein, wo immer Ihr ihn hergenommen habt, wäre ein unfassbares Vermögen wert.”

„Beschädigt?”

„Er hat einen Sprung im Inneren. Ich habe einst im Dienste Eurer Großeltern, mögen sie hinter den Träumen ohne Sorgen sein, bisweilen für sie wertvolle Steine begutachtet. Ich weiß, wie so etwas aussieht.”

„Das ist bestimmt passiert, als Ihr den Stein dem Chaosgeist an den Kopf geworfen habt.” Merrit schien beeindruckt. „Entweder haben die Kreaturen ganz schön harte Schädel. Oder Euer Arm die Kraft eines Katapults.”

Er meine das gewiss als Kompliment, aber Emberbey rügte ihn mit einem so strengen Blick, dass es den Jungen beschämt zum Schweigen brachte. Osse ließ sich den Karfunkel geben und betrachtete ihn von allen Seiten. Dann lief er damit ein paar Schritte hin und her.

Sie beobachteten ihn einen Moment, bis sein Vater ungeduldig fragte: „Was machst du da, Osse?”

„Ich frage mich, wo das Licht ist, das den Widerschein auslöst, Vater. Hier ist doch weder Sonne noch eine Flamme. Aber der Schein verändert sich nicht, auch wenn ich den Karfunkel bewege.”

„Dann zeigt der Stein uns Licht, das wir mit unseren Augen nicht sehen können?”

„Es scheint so, Merrit. Es ist sonderbar.”

„Warum sollte der Stein sich so verhalten?”, fragte Emberbey, der dem Urteil seines Sohnes wohl nicht ganz glaubte.

„Der Stein”, erklärte Manjév, „hat einem Magier gehört, Herr Alsgör. Wir haben ihn aus der verbotenen Turmkammer.”

„Wie bitte?”

„Meine Mama sagt, in dem Turm hat einmal ein Magier gewohnt. Merrit hat in der Kammer den Stein gefunden.”

„Dann war die Rote Dame vielleicht doch kein Traum”, murmelte der Junge. „Vielleicht ist sie doch echt …”

„Welche Rote Dame?”, fragte der Ritter und sah nach Manjévs Meinung plötzlich unnötig verstört aus.

„Nachdem ich in dem Zimmer einge-… als die Tür hinter mir zugefallen war und ich nicht mehr heraus kam, hatte ich eine Weile geschlafen. Ich hab von einer gütigen schönen Frau in einem vornehmen roten Gewand geträumt. Wahrscheinlich wegen dem alten Gemälde an der Zimmerdecke. Und …”

„Merrit Althopian!”, unterbrach Alsgör Emberbey hastig. „Was für ein Verderben folgt dir und deinem Vater nach!”

Der Junge schaute bestürzt zwischen ihm und dem Stein hin und her, den Osse immer noch in der Hand hielt. „Da war kein Verderben,” sagte er dann, fast ein wenig trotzig, wie um sich zu verteidigen. „Die Rote Dame war gut zu mir!”

„Aber du hast sie geträumt, Merrit”, sagte Manjév rasch. Irgendetwas ließ sie ahnen, dass es nicht gut sein würde, wenn der Junge zu viel von seinem Traum preisgab. Dann sah sie zu Osse hinüber und war verwirrt. Er sah so … betroffen aus.

„Gibt es etwas über den Stein, das wir wissen sollten, Herr Alsgör?”

„Einiges. Aber nichts davon für Eure Ohren, Majestät. Nicht, bevor ich Eure Eltern dazu befragt habe.”

„Gut. Dann lasst uns weiter gehen. Wir suchen sie.”

„Majestät”, fand Osse seine Sprache wieder, „ich frage mich, ob es eine Bedeutung hat, dass der Stein gerade jetzt angefangen hat zu leuchten.”

„Vorher war er noch nicht kaputt”, gab Merrit zu bedenken.

„Vielleicht ist es jetzt der vorbestimmte Zeitpunkt.” Osse umfasste den Stein fasziniert mit beiden Händen und bestaunte die kleine Reflexion, die so noch besser zu sehen war. Dann gab es ihn Manjév zurück. „Entscheidet Ihr, was damit zu tun ist, Majestät!”

Sie betrachtete dieses winzige Leuchten im Stein. Was immer es war, es gefiel ihr besser als alles, was die bedrückende Umgebung ringsum zu bieten hatte. Aber es brachte nichts, wenn sie es in der Hand hielt.

„Herr Alsgör … Ihr denkt doch auch, dass es Magie ist, oder?”

„Ich wünschte, ich hätte es nie gesehen. Ja, Majestät. Es kann nur Magie sein.”

„Dir, Merrit, ist im Traum eine gute Rote Dame erschienen, nachdem du den Stein gefunden hattest?”

Er nickte.

„Dann glaube ich, dass es eine gute Magie ist, oder zumindest eine, die uns nicht weiter in die Irre führt.” Sie überlegte kurz, ob sie erzählen sollte, was der Stein ihr selbst gezeigt hatte, aber sie entschied sich anders. Das war im Augenblick nicht von Belang. Sicher wäre es vernünftig gewesen, mehr aus Alsgör Emberbey herauszubekommen, aber die teirandanja fürchtete, er könne sie von ihrer zarten Hoffnung abbringen, wenn sie nach seiner Meinung fragte.

„Osse, denkst du, es … es könnte so etwas wie ein Signal sein? So wie das Feuer auf den Leuchttürmen nachts für die Schiffe?” Manjév hatte einmal das Leuchtfeuer von Virhavét gesehen, auf einem dicken Turm, der höher war als der der väterlichen Burg und war davon überaus beeindruckt gewesen. „Bringt er uns dahin, wo das unsichtbare Licht herkommt?”

„Nein, Majestät. Das kann nicht sein.”

„Warum nicht?”

„Wie wir den Stein in Händen haben. Wohin sollte er uns leiten? Wir sind bereits da.”

„Es hat also gar keinen Sinn, ihn herumzutragen wie eine Laterne?”

„Nein. Das habe ich gerade eben ausprobiert.”

„Ich weiß etwas!” Merrit hängte sich seinen Streitflegel um den Hals und steckte die Hand nach dem Stein aus. „Gib mir das Bötchen, Osse.”

„Das Bötchen?”

„Es muss auch von irgendwo her zu uns gekommen sein, oder?”

Er bekam das Gewünschte, nahm aber nur den Rumpf des verlorenen Kinderspielzeugs. Den setzte er in den Sand und stellte den Stein darauf. Das Leuchten blieb, aber sonst passierte zu Manjévs Enttäuschung nichts.

„Wie soll es fahren, ohne Segel und Wind?”, fragte Alsgör Emberbey milde. „Was erwartest du von diesem Spiel, Merrit Althopian?”

„Wir müssen es anstupsen, damit es fährt.” Osse legte sein Brett nieder.

„Können wir es anstupsen?”

Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein, wir selber vielleicht nicht. Aber wir können jemanden bitten, es zu tun.”

„Aber wen?”

Bitte, ihr Mächte, beschützt uns“, begann Osse demütig.

„Osse!”, entsetzte sich sein Vater. Der Junge verstummte erschrocken. Aber Merrit fuhr fort, und zwar mit eigenen Worten, Worten, die so noch nie in der Not gesprochen wurden.

„Ihr Mächte”, sagte er, „danke, dass ihr uns das Lichtlein gegeben habt. Lasst uns jetzt damit dorthin finden, wohin wir nach eurem Willen gehen sollen.” Er machte eine Pause und fügte dann hinzu: „Und haltet bitte die Chaosgeister von uns fern. Ich hab langsam keine Kraft mehr. Mir tun die Arme weh!”

Manjév kniete sich neben ihn.

Bitte, ihr Mächte, dachte sie, ich will zu Mama und Papa! Bitte, bitte, wem auch immer der Stein gehört hat, lasst ihn gut mit uns sein und uns nicht wie ein Fahler Fuchs in die Irre führen!

Alsgör Emberbey besah sich kopfschüttelnd die drei Kinder. Für ihn sah es wohl nicht anders aus, als hätten sie begonnen, sich mit einem Spielzeug zu vergnügen. Zumal das Boot sich nicht rührte. Osse schaute enttäuscht drein. Merrit hatte die Augen geschlossen. Vielleich machten beide in Gedanken ihre eigenen Beschwörungen aus.

Bitte, fügte Manjév hinzu. Bitte, lasst uns weiter mitspielen. Holt uns zurück ins Weltenspiel.

„Wir sollten weitergehen”, sagte Herr Alsgör. „Sonst kommen die Chaosgeister zurück.”

Die Kinder erhoben sich enttäuscht. Osse nahm sein Brett wieder an sich, Merrit seine ramponierte Waffe in die Hand.

„Bitte”, wisperte Manjév. „Ich vertraue euch. Zeigt uns, wo das Licht herkommt!

Und das Bötchen setzte sich in Bewegung. Der Widerschein im Karfunkel begann seine Fahrt über den Sand, als säße er auf einem Schlitten, gezogen von einer unsichtbaren Macht. Vielleicht die der Roten Dame.