Als der Lichtblitz verloschen war und Advon sich wohl sicher, dass der Effekt von Elosáls Zauber vorüber, war der Junge aufgesprungen und, bevor ich ihn hätte erwischen können, an mir vorbeigerannt. Dýamirée besann sich ungefähr eine Sekunde lang, was sie tun sollte, flitzte dann hinter ihm her und tat so, als ob sie mich nicht hörte. Es blieb mir nichts Anderes übrig. Ich musste die beiden wieder einfangen. Nicht auszudenken, wenn sie ihren Eltern dort draußen beim Kampf gegen Siledaú oder wer auch immer nun wirkte, in die Quere kamen und womöglich von einem fehlgezielten Bann getroffen wurden.

Aber die beiden waren gar nicht weit fort. Advon stand bei dem nächsten Fenster, das sich draußen nur einige Schritte weiter abwärts in der Außenwand des Turmes befand. Dýamirée drängelte sich neben ihn, um ebenfalls hinaussehen zu können. Ich packte sie sicherheitshalber an der Schulter, überlegte noch, ob ich das bei Advon auch verantworten konnte, und sah dann selbst über die Kinder hinweg. Das Fenster bot einen seitlichen Blick auf den Sims, wenige Armlängen unter uns.

Elosál war in einer seltsamen Pose erstarrt, aber immerhin stand sie noch auf ihren eigenen Füßen. Cýelú Irísolor schien einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Was immer Elosál dort an Magie wirkte, was hier draußen noch nachhallte wie ein Hitzeschwall aus einem geöffneten Ofen, war wohl etwas so Furchtbares, dass es nicht nur den Jungen, sondern auch den Vater schockierte. Der báchorkor stand dabei und wirkte unglaublich fehl am Platz.

Und Yalomiro … Ich erschrak. Vorhin noch war ich besorgt über seine offensichtliche Entkräftung gewesen, aber nun war er offensichtlich auch verletzt. Die Ausläufer von Elosáls Bann hatten ihn hier draußen in voller Wucht getroffen. Wahrscheinlich machte es keinen großen Unterschied zu dem, was bei einem direkten Kampf gegen sie geschehen wäre.

„Papa!”, rief Dýamirée überrascht auf. „Mama, ich glaube, Papa ist nicht wohl!”

„Nein, kleiner Stern”, brachte ich hervor. „Nein, ich glaube … er hat sich schlimm weh getan.”

„Dann musst du ihn heilen!”

„Ja, Liebes … ja, das müsste ich.” Wenn ich könnte.

Yalomiro lebte, natürlich lebte er. Mir wurde klar: Wenn nicht Gor Lucegaths grausame Markierung auf ihm gelegen hätte, dann wäre es vielleicht um ihn geschehen gewesen. Aber vielleicht hätte er sich anderenfalls gar nicht diesem Risiko gestellt. Ich wurde nicht schlau aus dem, was er tat. Vielleicht hatte er gar keinen Plan.

Und der Verfluchte, die alte Frau? Siledaú dachte offenbar darüber nach, was sie als Nächstes tun sollte. Offenbar hatte ihr Elosáls Zauber überhaupt nichts ausgemacht. Aber warum nicht? War es nicht die Absicht der fajía gewesen, den Verfluchten in seiner makaberen Verkleidung zu besiegen?

Und dann bemerkte ich ein Detail im Hintergrund der Szene, das sich verändert hatte. Die äußeren Burgmauen zwischen den beiden vom Fenster aus sichtbaren Außentürmen lumineszierten. Ich blickte auf einen sanft wabernden Farbverlauf von Rot über Orange nach Gelb.

„Advon”, fragte ich leise, „was genau hat deine Mama gemacht?”

„Sie hat die Regenbogenritter losgeschickt”, erklärte er bedrückt.

„Alle sieben?”

„Nein. Alle. Das Heer. Sie … ach… das kann ich nicht erklären.”

„Ist deshalb die Burg wieder bunt?” Ich nahm an, dass sich rings um den Cielástel nun eine regenbogenfarbene Mauer zog, sich die Farben nach links und rechts außerhalb unseres Blickfeldes fortsetzten.

„Ja. Mama macht die Farben sichtbar. Aber das kann sie nicht lange. Sie ist ja ganz allein.”

„Schaut mal.” Dýamirée deutete aufgeregt nach unten. „Mama, was macht Papa da?”

Ja, was tat Yalomiro? Siledaú redete zu ihm, aber zu leise, als dass man es durch das Gewittergrollen bis hierher verstanden hätte. Er hielt ihr den Stab entgegen, gefährlich nahe. Vielleicht hätte sie ihn erhaschen können. Aber er schien sie damit reizen zu wollen.

„Meisterin”, fragte Advon, „was passiert, wenn Siledaú den Stab hat?”

„Ich glaube, Siledaú kann damit die Chaosgeister zwingen, ihr zu gehorchen. Oder zumindest dorthin zu gehen, wohin sie will.”

„Wie in der Geschichte von dem lustigen Flötenspieler, der all die Ratten aus der Stadt geholt hat, damit die Leute ihnen nichts antun?”

„Ja, wahrscheinlich genau s…” Ich stutzte. Kannte Advon etwa die Sage vom Rattenfänger und deutete sie tierlieb um? Oder gab es in dieser Welt ein ähnliches Märchen? Was wäre das für ein bizarrer Zufall!

„Siledaú will bestimmt, dass die Monster die Leute in der Stadt fressen”, dachte Dýamirée besorgt nach. „Aber es wäre besser, wenn jemand sie wieder in die Wüste führen und in das große Loch jagen würde, oder?”

„Ja”, bestätigte Advon. „Dann müssten die arcaval’ay nicht gegen sie kämpfen und Mama könnte aufhören, zu zaubern.”

„Ob Galéon den Stab benutzen könne?”, sinnierte Dýamirée.

„Jedenfalls besser als Siledaú”, sagte Advon gedankenvoll.

Was war das nur für eine sonderbare Obsession mit diesem báchorkor, dass meine Tochter sich nicht einmal fragte, ob ihr eigener Vater möglicherweise die Macht besitzen könnte, ein offensichtliches Schattensängerwerkzeug einzusetzen?

Yalomiro stand nun wieder aufrecht, hielt Siledaú den Stab fast spielerisch entgegen. Er würde ihn ihr nicht wirklich überlassen, mir war das klar, aber Cýelú Irísolor wohl nicht, denn offensichtlich wollte er sich soeben kampfbereit einmischen. Mir stockte der Atem.

Und dann ließ Yalomiro den verfluchten Stab einfach vom Turm hinabfallen.

Dýamirée holte überrascht Luft, schlüpfte unter meiner Hand durch und stürmte los. Die Treppe hinunter. Hals über Kopf.

„Dýamirée!” Ich wollte hinterher, aber Advon hielt mich auf. Er schickte sich an, Dýamirée nachzurennen, aber im Weglaufen rief er mir zu: „Vorsicht! Die Treppe ist glatt! Nicht rennen! Bleibt bloß hier oben! Ich hole sie zurück!”

Sprach’s und sprang ihr hinterher wie ein Windninchen.

„Advon!” Ich schickte mich an, ihm nachzurennen, etwas, das ich mir nur dank meiner schattensängerischen Fähigkeit, im Dunklen zu sehen, zutraute. Aber der Vorsprung, den die beiden mit ihrer kindlichen Agilität hatten, war jetzt schon zu groß. Und da war noch etwas anderes, das mich abrupt abbremsen ließ.

Noch jemand stürmte durch den Durchgang zum Sims in den Turm und brüllte vor Wut.

***

Tíjnje rannte, so schnell ihre Füße sie trugen. Sie schaute sich nicht um, dazu war keine Zeit. Sie musste weg, nur weg. Das merkwürdige Licht und der feuchte Sand unter ihren Füßen machten ihr keine Angst mehr. Aber die Monster, die Monster waren schlimm. Vor denen musste man weglaufen. Aber sie wusste genau, wohin!

Das kleine Mädchen keuchte, so außer Atem war es. Und doch ging es ihr nicht schnell genug bei der Jagd durch diese endlose Weite. Man sah nur wenige Schritte voraus, der Weg, den sie gekommen war, der verschwand hinter ihr, vielleicht für immer. Aber das war egal. Alles würde jetzt gut werden, alles, und … dann erwischte sie eine Hand am Röckchen, zog daran und brachte sie zu Fall. Tíjnje schlug der Länge nach hin und tat sich weh dabei, denn der nasse Sand war hart.

„Hab ich dich!”, japste Láas. Der Vater und der Schwertmeister legten großen Wert darauf, dass die Jungen ihre Ausdauer übten, aber wer konnte schon mit einem flinken kleinen Mädchen mithalten? Der Junge war bleich vor Schreck und schnappte nach Luft.

„Lass mich los!”

„Vater hat ausdrücklich gesagt, wir sollten stehen bleiben! Da kannst du nicht so einfach wegrennen!”

„Lass mich los! Du tust mir weh!”

„Nichts da!” Er zog sie auf die Füße und umklammerte sie so fest mit beiden Armen, wie er nur konnte, hob das strampelnde Kind vom Boden hoch und hatte alle Mühe, es zu bändigen. „Du bleibst jetzt bei uns!”

Jándris hatte seinen Freund eingeholt. Er war noch mehr außer Atem.

„Du kannst doch nicht einfach weglaufen”, stieß auch er hervor. „Was hast du dir dabei gedacht?”

„Lasst mich los! Ich muss weiter!”

„Wohin?”

„Zu Manjév! Manjév ist hier!”

„Unsinn! Das bildest du dir ein! Aber die Erwachsenen, die sind jetzt weg!”

Tíjnje runzelte böse die Stirn und versuchte trotzig, Láas vors Schienbein zu treten. Aber das machte dem Jungen nichts aus. „Jetzt gib Ruhe, Tíjnje. Sonst müssen wir dich festbinden.”

„Du hast gar kein Seil dabei!”

„Ich nehme meinen Gürtel!”

„Dann rutscht dir deine Hose runter”, sagte Jándris ernsthaft. „Also lasst den Blödsinn. Tíjnje, was ist in dich gefahren? Wieso bist du losgewetzt?”

Das kleine Mädchen gab seinen Widerstand auf. „Ich hab Manjév gesehen”, sagte es dann. „Ganz bestimmt. Sie ist hier!”

„Gesehen?”, fragte Láas ärgerlich. „Geträumt hast du das wohl! Hier ist doch gar nichts! Und dafür rennen wir wie die Narren ins Nichts hinein!”

„Das war dumm, Tíjnje, und leichtsinnig! Wie sollen wir denn jetzt die Erwachsenen wiederfinden?”

Tíjnje schwieg trotzig einen Moment. Dann konnte sie nicht mehr an sich halten und begann, zu weinen wie es nur ein kleines Kind konnte. Sie verzog greinend das Gesicht und schluchzte leise auf. „Glaubt Ihr mir denn nicht?”, brachte sie hervor. Denn wenn nicht, was sollte sie tun, um die großen Jungen zu überzeugen? Ganz deutlich hatte sie ihre Freundin Manjév im Nebel erkannt, wohl nur flüchtig und schemenhaft, wie aus den Augenwinkeln. Aber das war egal, war schon so oft genau so geschehen, wenn die Mädchen miteinander Verstecken gespielt hatten. Tíjnje würde Manjév immer und überall und im allerbesten Schlupfwinkel erkennen. Tíjnje war richtig gut beim Versteckspiel!

„Wenn du sie gesehen hast”, ärgerte Láas sich, „wieso hast du nichts gesagt und bist weggerannt?”

Tíjnje seufzte. Sie war noch nicht beredsam genug, um schnell die richtigen Worte zu sprechen. Wie konnte sie den beiden denn klar machen, dass es viel zu lange gedauert hätte, den Erwachsenen zu erklären, was geschehen war? Dass es schnell gehen musste, wenn sie die Vision nicht verlieren wollte? Im Nachhinein, das sah Tíjnje wohl ein, war es wirklich kein besonders kluger Einfall gewesen, kopflos loszurennen und dabei die Erwachsenen aus den Augen zu verlieren. Aber … Manjév war so nahe gewesen, und dann hatte sie so lange laufen müssen. Aber für all diese Beteuerungen fehlten ihr die Begriffe. Also schluchzte sie leise weiter und rieb sich mit ihrer kleinen Faust Tränen von der Wange.

Láas setzte sie vorsichtig nieder. Dass sie nun so verzweifelt war, das hatte er nicht gewollt.

„Nun wein nicht”, sagte er reumütig. „Ich hab’s ja nicht so gemeint. Tut mir leid, dass ich so grob war.”

„Wir sitzen trotzdem in der Klemme. Sie verliert die Nerven, und wir baden es aus. Was meinst du, was mein Vater mir für Vorhaltungen macht? Falls wir ihn jemals wiederfinden, versteht sich!”

„Die werden sich bedanken, dass wir Tíjnje erwischt haben, bevor …” , er senkte die Stimme, „etwas anderes sie erwischt!”

Jándris erhob sich wieder und legte dem weinenden kleinen Mädchen beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Hör schon auf, Tíjnje. Die bösen Monster tun dir nichts. Wir sind doch bei dir.”

„Ihr versteht das nicht!”, zürnte das kleine Mädchen. „Ich hab Manjév doch ganz deutlich gesehen!”

„Wann?”

„Als die Erwachsenen sich hingekniet haben! Als Herr Waýreth zu reden begann. Da … da war der Nebel weg, ganz kurz!”

„Und da willst du Manjév gesehen haben?”

„Ja. Will ich.”

„War sie allein?”, fragte Jándris geduldig.

„Nein, ich glaube nicht.”

„Was heißt, du glaubst nicht? Hast du jemand anderen bei ihr gesehen, oder …”

„Das war doch nur ganz kurz. Ich glaube, da waren noch andere, aber ich bin doch nur schnell losgelaufen, bevor sie wieder verschwindet. Aber da war es schon zu spät und der Nebel ist wieder zugezogen, und ich bin einfach weiter, und …und dann hat Láas mich festgehalten, und nun sind sie weg!”

„Das wird mir alles zu durcheinander”, sagte Láas. „Kommt, wir gehen zu den Erwachsenen zurück.”

„Großartige Idee. Und wie finden wir die jemals wieder?”

„Wir folgen einfach unseren Fußspuren, du Trottel”, schnaubte Láas, nahm Tíjnje bei der Hand und stapfte los. Jándris schaute sich verblüfft um. Tatsächlich. Im nassen Sand zeichneten sich ganz deutlich die Spuren ab, die sie bei der wilden Jagd hinterlassen hatten. Er klatschte sich ärgerlich mit der flachen Hand vor die Stirn und folgte dem älteren Jungen. Tíjnje weinte immer noch, aber nicht mehr wie ein trotziges kleines Kind, sondern so jämmerlich, dass es die Jungen anrührte.

„Wie kann es sein, dass wir hier Spuren hinterlassen haben?”, fragte Jándris schließlich misstrauisch.

„Weil wir nicht über den Sand geschwebt sind. Was denkst du denn sonst?”

„Ich traue der Sache eben nicht. Und wenn das wieder eine Falle ist?”

„Die Chaosgeister machen sich ganz bestimmt nicht die Mühe, unsere Spuren zu verwischen.”

„Ihr sollt nicht zanken”, schniefte Tíjnje. „Wenn wir hier zanken, dann freuen sich die bösen Monster und wir finden Manjév nicht, und Opa und die anderen auch nicht mehr.”

„Wer ist denn zuerst wegge…” Láas unterbrach sich und runzelte die Stirn. Dann heftete er seinen Blick wieder auf den Boden. Die Sicht reichte in dem Nebel nur wenige Schritte weit, sodass die Kinder sich besser nicht ablenken ließen. Eine Weile ging das gut. Doch dann fand sich Jándris in seinen Befürchtungen bestätigt.

„Ich sage doch, es führt in die Irre”, sagte er mit finsterem Blick auf den Boden. „Wir laufen im Kreis.”

„Aber wir sind doch ganz geradeaus gegangen!”

„Und wie erklärst du dir das da?”

Die Kinder schauten ratlos auf die Reihe an Spuren im Sand, die die ihren kreuzten. Láas versetzte den Abdrücken schließlich einen ärgerlichen Tritt, und benutzte ein Wort, das die Mächte sicher böse gemacht hätte, und wenn nicht die, dann ganz sicher die opayra.

„Ich bin ganz geradeaus gelaufen”, beteuerte Tíjnje eingeschüchtert über die Wut, die sie an den beiden großen Jungs spürte.

„Das sehe ich!”, knurrte Láas. „Und wir dir hinterdrein.”

„Und wenn das die Spuren von Opa und den anderen sind? Oder die von den bösen Ungeheuern?”

„Nein, sind sie nicht. Vater nimm t mich mit auf die Jagd, ich weiß, wie man Trittsiegel deutet. Es sind drei Kinder hier entlang gekommen, keine Erwachsenen mit großen Füßen und Stiefeln, wie die yarlay sie tragen. Das hier waren wir selbst!”

„Nein, waren wir nicht”, rief Jándris aufgeregt. Er hockte sich nieder und besah sich die Spuren aus der Nähe. Sie waren zwar unscharf und hatten sich schon ein wenig mit Wasser gefüllt, aber das Gesicht des Jungen hellte sich auf. „Láas, ich glaube, das waren tatsächlich Manjév, das Eulengesicht und das Wiegenkind.”

„Woher…”

„Weil wir drei alle unsere Schuhe am Fuß haben.”

„Hab ich euch doch gesagt!” Tíjnje kniete sich neben ihn und tippte in die Vertiefungen, die nackte Zehen in den Sand gedrückt hatten. „Manjév ist hier entlang gelaufen!”

„Nun gut.” Láas beruhigte sich sichtlich. „Aber was machen wir? Laufen wir zurück zu den anderen oder folgen wir denen hier? Und wenn das doch ein raffiniertes Trugbild der Chaosgeister ist?”

Sie überlegten einen Moment. Dann erhob Tíjnje sich energisch.

Ich will zu meiner teirandanja“, sagte sie. „Und ihr?”

„Mit uns”, gab Jándris schnippisch zu bedenken, „hat sie noch kein Brot geteilt.” Aber das meinte er im Scherz. Tíjnje war sehr erleichtert, als die beiden Jungen sich der barfüßigen Spur zuwandten. Sie wäre allein weitergegangen, wenn die beiden gezögert hätten. Aber so war es natürlich weit besser. Sie fasste vertrauensvoll Láas Hand und tappte neben ihm her.

Die Spur verschwand nicht, obwohl Jándris mehrfach unkte, dass all das viel zu einfach ginge und sie mit Sicherheit bald auf trockenen Sand stoßen würden, in dem man den Tritten nicht mehr folgen konnte. Stattdessen gelangten sie an eine Stelle, in der der Sand großflächig aufgewühlt war und von der sich die drei Kinderspuren in Begleitung einer vierten, tieferen Spur entfernten, der bestiefelten Spur eines Mannes. Tíjnje fragte sich, ob Manjév und die beiden anderen Jungen vielleicht auf den alten grimmigen yarl Emberbey gestoßen waren, der losgezogen war, um das Meer zu finden und nach Hause zu schwimmen. Sie hoffte, dass das so war und bat im Stillen die Mächte darum, dass auch Manjév und Merrit zu ihren Eltern zurückfinden mochten.

„Wir müssen alle zusammen von hier fort”, ließ sie Jándris und Láas wissen. „Wir müssen alle beisammen sein.”

„Was denkst du, was geschieht, wenn wir alle wieder zusammen sind?”, fragte Jándris.

„Dann gehen wir gemeinsam nach Hause.”

Die Jungen wechselten einen vielsagenden Blick miteinander, Tíjnje bemerkte das wohl. Aber sie entschied sich, nicht zu fragen.

***

Die sinora war es, als sei sie in einem Traum. Wie schlafwandelnd bewegte sie sich durch den Stall. Nachdem nach dem blendenden Lichtblitz, der durch die Mauern emporgezuckt war, ihr Augenlicht ihr wieder die Umgebung zeigte, hatten die Mauern des Stalles begannen, in einem zauberhaften, grüngelben Schimmer zu pulsieren.

Die Einhörner, die einige Zeit zuvor reiterlos auf dem Hof gelandet und wie selbstverständlich in den Stall getrabt waren, schnaubten unruhig. Der größere Hengst, herrlich schimmernd wie eine kostbare Perle, war in den Mittelgang gelaufen, ohne den Menschen Beachtung zu schenken. Der Maultierführer hatte ihm ehrfürchtig Platz gemacht, und auch der maedlor, der arme junge Bursche, der ganz offensichtlich mit seinen Nerven nicht mehr bei sich war und seine Berufswahl verfluchte, hatte sich in die hinterste Ecke verzogen. Das Einhorn stand nun vor dem Käfig, in dem das goldglänzende, zierlichere Tier wartete, und schnaubte es grollend an. Sie standen Nüstern an Nüstern und wirkten vertraut.

Das andere Einhorn, das bunt schillernde, das dem kleinen Jungen gehörte, stand bei ihr und Saháalír, der immer noch Schwierigkeiten hatte, etwas zu erkennen. Das Licht hatte seinen ohnehin schwachen Augen mehr zugesetzt als den ihren. Das riesige Tier blickte durch das Tor mit aufmerksam gespitzten Ohren nach draußen, als warte es auf etwas. Als wisse es etwas.

„Ob mit den Kindern alles in Ordnung ist?”, fragte die sinora und schaute ebenfalls hinaus. Oh, wie seltsam die Burg aussah. Jeder Turm, den sie von hier aus sehen konnten, leuchtete in einer anderen Farbe, und an den Mauern dazwischen verwirbelten die benachbarten Töne miteinander. Als von den Turmspitzen all die Ritter, so unglaublich viele an der Zahl, in den Himmel emporgestiegen waren und sich zu einem nächtlichen Regenbogen formiert hatten, war das Einhorn unruhig gewordern und hatte sehnsuchtsvoll gegrollt, so als wolle es mit ihnen mitlaufen. Aufgeregt gescharrt und seine Flügel ausgespannt hatte es. Aber … es war bei ihnen geblieben. Es wartete.

Die sinora streckte zaghaft die Finger nach ihm aus und strich über das bunte Fell. Staubtrockener Sand rieselte davon zu Boden. Der Körper des Geschöpfes war viel wärmer, als sie es erwartet hatte.

„Wollen wir die Mächte darum bitten”, sagte Saháalír. Als die Ritter von der Burg weg gen Südost geflogen waren, ein Spektakel, ein Schauspiel von unfassbarer Majestät, hatte die sinora hatte ihn danach gefragt, aber nur zur Antwort bekommen, dass es schlimm stand, wenn Pataghíu sein Regenbogenheer entsandte.

„Zuletzt”, hatte er erklärt, „ist das während der letzten Tage der Chaoskriege geschehen. Niemand hätte gedacht, dass es jemals wieder nötig sein würde, noch dass es noch einmal geschehen könne, nachdem die fajíaé fort waren, bis auf die einzige Überlebende.”

Sie streichelte das nervöse Einhorn, als hätte sie den Ehrgeiz, es beruhigen zu können. „Wie können es so viele sein?”, fragte sie.

„Es heißt, die fajíaè beschwören sie im Namen von Pataghíu selbst, wenn große Not herrscht. Dass die Großmeisterin allein dazu in der Lage ist, hat wohl niemand geahnt.”

„Was bedeutet das, Herr?”, fragte der maedlor, der sicher nicht damit gerechnet hatte, das Regenbogenheer einmal leibhaftig zu Gesicht zu bekommen. Sieben Magier waren vorhin noch im Stall gewesen, um ihre Reittiere zu holen. Wo all die anderen hergekommen und wie sie alle auf die Türme gepasst hatten, das war für einen Menschenverstand nicht zu fassen.

„Ich befürchte”, erklärte Saháalír der Runde, die das Schicksal hier im Stall versammelt hatte, „dass sie losgezogen sind, um die Chaosgeister zu besiegen, die der Junge erwähnt hat.”

„Ach”, jammerte der maedlor. „Was kann denn noch alles heute nur geschehen? Dieser Sandregensturm, Chaosgeister und nun noch das!”

Kaum hatte er das gesagt, erklang draußen ein sonderbares Geräusch, ein seltsam metallisches Schwingen, so als habe ein riesenhafter Lautenspieler eine Saite angeschlagen. Irgendetwas am Fuße des Turms blitzte kurz in einem hellen, klaren Licht auf und verlosch. Das Einhorn streckte den Kopf vor und wagte sich einen Schritt ins Freie.

„Was war das?”, erkundigte Saháalír sich.

„Ich weiß nicht. Da scheint etwas vom Turm herabgefallen zu sein. Soll ich nachsehen?”

„Nein, tut das nicht, ehrwürdige sinora!”, rief der maedlor aus. „Wer weiß, welche Ungeheuerlichkeiten sich da draußen zutragen!”

Saháalír schaute in ihre Richtung. Im Glimmen der Mauern sah sie das Verlangen in seinen Zügen.

„Könnte ich mich bewegen”, sagte er, „mich triebe die Neugier.”

„Auch angesichts der Gefahr?”, fragte sie.

„Was soll denn nun noch passieren?”

Sie lächelte. Ja, was sollte noch passieren?