
„Dýamirée!” Advon tat einen Schritt nach vorne und tastete verblüfft ins Leere. „Papa … wo ist Dýamirée hin? Und der alte Mann …”
Cýelú Irísolor ließ seine Flammenrüstung verlöschen, schlug ärgerlich mit der Hand einige große Hagelkörner weg und nahm den zitternden Jungen auf den Arm. Advon war leichenblass, seine Augen schreckhaft geweitet, und er bebte vor Schreck und Sorgen. „Papa …”
„Ins Haus, Advon”, mahnte der Goldene Ritter und drückte seinen Sohn an sich. „Geh hinein! Der Hagel …”
„Aber ich muss Dýamirée retten!”
„Nein!”
„Ich …”
„Du wirst jetzt hineingehen und nicht eher herauskommen, bis Pataghíus Glanz wieder erstrahlt.”
„Aber … aber ich muss!”
Der Goldene schüttelte den Kopf, und Advons Entsetzen wandelte sich unvermittelt in kindliche Wut. „Ich muss! Ich muss hinterher! Ich … ich … lass mich los!”
„Advon, sei nicht trotzig! Du …”
„Ich muss Dýamirée helfen!” Bewegung kam in den Jungen, er begann, zu strampeln.
„Advon! Sei vernünftig!”
„Ich will, dass du mich loslässt!”
Cýelú Irísolor schnappte überrascht nach Luft. Etwas Heißes war von Advons kleinem Knabenkörper ausgebrandet wie eine Schockwelle, nicht heftig genug, um seine maghiscal zu durchdringen, aber doch so ungestüm, um ungelenk dagegen zu rempeln. Eine ungezielte, spontane Eruption, ein Blitz, ein …. ein Bann. Ein Zauber, wie ihn ein Kind sich in seiner Phantasie vorstellen mochte, voller Kraft und Selbstüberzeugung, doch ohne Kunst. Sogar Farbenspiel scheute davor zurück und tänzelte schnaubend ein paar Schritte beiseite.
Advons Augen verdunkelten sich wieder. Das gleißend aufstrahlende Gold darin zerfloss wieder in dem gewohnten Himmelsblau. Dann sackte er in Cýelús Armen zusammen und lehnte erschöpft seine Wange an dessen Brust.
„Dýamirée”, kam es von seinen Lippen, so heiser, als habe er sich zuvor die Stimme aus dem Hals geschrien. „Papa … ich muss sie retten …”
„Advon”, flüsterte der Goldene besorgt. „Mein Junge …”
Der báchorkor eilte an ihm vorbei, ohne sich um den Ritter und das Kind zu kümmern, und auch nicht um den Hagel, der in Stücken von der Größe von Dornbeerkernen herab prasselte und auf dem Gold und Glas ringsum klirrte. Der junge Mann hatte nur Augen für die Menschenfrau am Boden. Er stützte den schlaffen Körper und hob ihn an, beschirmte ihn vor dem fallenden Eis. Ihr falsches Haar rutschte der alten Dame endgültig vom Kopf. Dünner, grauer Flaum auf fleckiger Haut kam darunter zum Vorschein.
„Saháalír!”, rief der Geschichtenerzähler gegen den Hagelschlag an. „So tut doch etwas!”
„Ist sie … tot?”, fragte Cýelú, seinen Sohn fest an sich gepresst.
„Nein”, gab der junge Mann zerstreut zurück. „Das hat noch Zeit.”
„Was?”
Der báchorkor blickte auf und mit einem ganz seltsam fiebrigen Blick ein gutes Stück an Cýelú vorbei. Der Goldene schaute sich irritiert um, aber da war sonst niemand.
„Seid Ihr nun endlich bereit?”, fragte er dann.
„Wozu? Ich …” Cýelú seufzte unwillig. Wie er hier stand und stammelte, musste er wirken wie ein Trottel. „Bitte. Hab Geduld mit mir. Ich bin nur ein Mensch. Was ist zu tun?”
Am Stalleingang spähten zwei fremde Männer heraus. Der Goldene wunderte sich kaum noch darüber, wie viele Fremde sich in dieser schrecklichen Nacht im trügerischen Schutz des Cielástel eingefunden hatten. Wer immer die beiden waren, sie waren so gelähmt vor Entsetzen, dass sie sich wohl nicht trauten, die alte Frau aus dem Hagel zu bergen, auch wenn drinnen im Stall eine Altmännerstimme fluchte, schrie und möglicherweise sogar weinte.
„Eure Ritter warten auf Euch”, sagte der báchorkor. „Ihr müsst sie anführen, wie damals, als die Chaosgeister sich das erste Mal losgerissen hatten. Holt Euer Ross und steht ihnen bei, solange Eure hýardora die Farben beseelt und die camat’ayra das Wasser zügelt.”
„Der Hagel? Das ist das Werk dieser Frau?”
„Ihr habt keine Zeit.”
Cýelú Irísolor nickte. Es hatte keinen Sinn, zu hinterfragen, wer dieser Mann war, wo er herkam und was er mit alledem zu tun hatte. Dieser schmächtige, zerlumpte Kerl strahlte eine bizarre Autorität aus, die zu hinterfragen sich verbot. Zumindest in diesem Moment. „Und mein Sohn?”
„Den überlasst nur mir. Ich werde verhindern, dass er … Unfug treibt.”
„Papa”, wisperte Advon schwach, wie benebelt. „Papa … ich … nimm mich mit! Ich will … Dýamirée …”
„Vergib mir.” Der Goldene setzte den Jungen ab, drückte ihn noch einmal fest an sich und bückte sich dann nach der alten Frau. Ohne sich noch einmal umzuwenden, hob er sie auf und rannte eilig mit dem so irritierend leichten Körper unter dem Hagel hindurch zum Stall, wo die Männer erschrocken zurückwichen. Die zerraufte Perücke blieb im Sand und Eis liegen.
„Papa!”, hörte er Advon schreien, aber es wäre nicht gut, das Flehen des Kindes nun zu beachten. Dazu war nun keine Zeit.
Die fremden Männer, einer in schlichtem Arbeitsgewändern, der andere offenbar ein etwas wohlhabenderer Bediensteter, wichen vor ihm zurück. Im Vorraum des Stalles saß hilflos, gelähmt auf einem Tragstuhl ein vornehm gekleideter uralter Greis und wusste offenbar nicht ein und aus. Hätte der Mann sich aus eigener Kraft bewegen können, das verstand Cýelú Irísolor, er hätte sich dem Mann, den er für Úldaise Tiáramalé hatte halten müssen, tapfer entgegengeworfen für diese alte Dame.
„Meister!”, brach es aus ihm heraus, „Meister …”
Der Goldenen bettete die Ohnmächtige, Haarlose eilig zu seinen Füßen auf den blanken Boden. Mehr Zeit war nicht. Er ließ die Unkundigen wortlos stehen und eilte in den Stall, wo Perlenglanz frei auf dem Gang neben dem Käfig von Sonnenlicht stand. Die Stute wirkte apathisch, stand regungslos und nur ihre aufgestellten Flügel zitterten bis in die Spitzen.
„Ich beeile mich, Geliebte”, wisperte der Goldene der goldschimmernden Stute zu, schwang sich wieder auf sein Reittier und preschte ohne Rücksicht auf die verschreckten Unkundigen durch das Gebäude ins Freie und vom Hof direkt in die Luft. Der anklagende Blick seines Sohnes, der mit geballten Fäusten hinter ihm her schaute, verfolgte ihn auf seinem Weg hinauf zu den Wolken, während Perlenglanz einen mattgoldenen Schimmer hinter sich her in den Nachthimmel zog.
***
„Ich will mit! Ich…” Advon war nahe daran zu weinen wie ein kleines Kind. Er hatte noch versucht, seinem Vater nachzurennen, aber Galéon hatte ihn gepackt und hielt ihn umschlungen. Bei den Mächten, wie heiß der Kleine war! Und wie stark!
„Bleib hier, Advon! Du kannst ihm dabei nicht helfen!”
„Lass mich los, Galéon! Ich will … ich will, dass du mich sofort loslässt!”
Und nun prasselte Energie auf den báchorkor ein, so als bearbeitete man ihn mit tausenden winzigkleinen Fausthieben. Das war unangenehm, aber Galéon hatte bei anderen Gelegenheiten schon größere Schmerzen erduldet. Er zog den Jungen an seine Brust und warf dem Traumphantom einen ärgerlichen Blick zu. Die geisterhafte Gestalt stand neben ihm und war offensichtlich amüsiert.
Was ist das? Was geschieht da?
Etwas, das er aus tiefstem Herzen will. Wenn er auch noch nicht so recht weiß, was er damit anfangen soll. Seine Mutter, sein Vater, seine hýardora. So viel Liebe und so ein kleines behütetes Kinderherz. Wohin nur damit, mit seinem Eifer, etwas zu tun, um die Dinge zu richten?
Seine hýardora?
Ist es nicht offensichtlich?
Galéon legte tröstend seine Wange an die des Kindes und spürte eine Träne darüber laufen. Der arme kleine Kerl. Wie entsetzlich musste diese Machtlosigkeit sein!
Er ist keine zehn Sommer alt!
Das, sagte das Traumphantom ernst, spielt überhaupt keine Rolle. Mach dir keine Gedanken über Zeit und Reife. Du hast Besseres zu tun.
„Farbenspiel!”, schimpfte Advon. „Farbenspiel, hilf mir! Mach, dass er mich loslässt! Ich will…”
„Ho!” Galéon drehte den Jungen sich zu und packte ihn fest an den Schultern. „Vorsicht, Advon Irísolor. Dein Wille ist kein Spielzeug! Und Farbenspiel soll keine Waffe sein, auch nicht im Zorn!”
„Ich … aber …” Advon stammelte ertappt und suchte dann den gelben Schlangenaugenblick des Einhorns. Farbenspiel fletschte seine Fangzähne und stieß unentschlossen mit dem Horn nach dem Hagel.
„Du kannst deinem Vater nicht gegen die Chaosgeister helfen. Das ganze Heer ist im Kampf, und jeder von ihnen weiß anzugreifen und zu zaubern. Es ist nicht wert, dass du dich in Gefahr bringst, nur um dabei zu sein. Nur, weil du neugierig bist.”
„Ich … aber ich bin doch nicht neugierig!”
„Doch”, behauptete Galéon. „Du bist ein naseweiser kleiner Junge, der es den Erwachsenen nachtun will. Das ist ganz in Ordnung. Unvernünftig ist es trotzdem.”
„Das …”
„Willst du, dass dein Vater, deine Mutter sich Vorwürfe machen, wenn dir etwas zustößt? Nach all der Zeit, die sie dich beschützen wollten?”
„Aber ich will doch nur …”
„Willst du, dass deine Eltern mich bestrafen, weil ich zugelassen habe, dass du Dummheiten begehst?”
Advon schaute beschämt zu Boden. „Nein”, gab der Junge zu. „Aber … aber was kann ich tun?”
Ja, hörte Galéon das Traumphantom. Was könnte er wohl tun?
Es klang nicht so, als sei es Spott oder Ratlosigkeit. Galéon ahnte, dass sein unheimlicher Begleiter die Lösung kannte. Aber er wollte offensichtlich, dass er selbst darauf kam.
„Dýamirée ist fort”, zürnte Advon. „Der böse Úldaise hat sie entführt. Bestimmt hat er sie zu seinen Chaosgeistern gebracht. Vielleicht kann er doch zaubern mit dem Stab und hat alle getäuscht. Und wenn Papa und die anderen-“
„Nein, Advon. Ich glaube nicht, dass du Dýamirée in der Wüste findest. Sie ist mit Sicherheit an einem anderen Ort.”
„Woher weißt du das?”
Der báchorkor wandte sich lautlos an das Traumphantom. Der Schattensänger hat den Verfluchten in den Schatten bannen wollen, habe ich recht?
Der Schattensänger hat eine verhängnisvolle Neigung zu leichtsinnigen Plänen, das ist wahr.
Und das Kind?
Beifang. Ein Missgeschick oder ein Plan der Mächte. Für dich und den Jungen einerlei.
Aber wir können den Schatten doch nicht betreten!
Das Traumphantom kam näher. Fast milde blickte es auf den zitternden Knaben in Galéons Armen herab.
Ich habe dich eingeweiht, wie du dem Gold gebietest, sagte es. Bist du bereit, ein weiteres Geheimnis zu empfangen?
Galéon schwieg überrascht. Das Phantom lächelte auf eine sehr beunruhigende Weise, erheitert und bitter zugleich.
Du weißt, wie man den Schatten betritt?, fragte Galéon verwirrt.
Ich weiß, wie man … Schleier verschiebt. Aber ich warne dich. Es ist ein Geheimnis, das ich einst einem Unschuldigen gewaltsam entrissen habe. Es zu wirken ist … bitter.
Kann es dem kleinen Mädchen und dem Schattensänger nützen?
Nur für das kleine Mädchen werde ich es dich lehren.
„Ich bin bereit, zu lernen”, murmelte Galéon demütig und erhob sich. Advon schaute verblüfft zu ihm auf.
Das Traumphantom nickte. Und schritt durch ihn hindurch.
Galéon wurde schwarz vor Augen, aber es war keine Ohnmacht. All seine Sinne waren scharf und wach und schmerzten, wie wund, wie als hätte man die Haut von ihnen abgezogen. Für einen Lidschlag spürte Galéon ein fremdes Bewusstsein in sich, ein anderes Leben, eine andere Persönlichkeit. Erinnerungen, Gedanken, Ahnungen strahlten in ihm auf, und Gefühle, die so schrecklich und schwer waren, dass er glaubte, sie nie und nimmer ertragen zu können. Eine fremde Seele rann durch den báchorkor hindurch, so als sei die seine ein Sieb, ein Kamm, ein Netz.
Dann war es vorbei, mit einem Schlag verschwand der Schmerz, bis auf das äußerst reale, nadelstechende Gefühl der Hagelkörner auf seiner Haut. Und etwas hatte sich in seinem Verstand verfangen. Ein Wissen. Ein Geheimnis. Ein unfassbarer Zauber.
„Galéon?”, fragte Advon unbehaglich und zupfte ihn am Hemd. „Was ist mit dir?”
Der junge Mann schrak auf und blickte sich um. Aber das Traumphantom war verschwunden. Das hieß wohl, dass er freie Hand hatte.
„Galéon? Du bist ganz blass! Sprich mit mir, bitte!” Advon tippte ihm zaghaft vor die Brust. „Bitte!”
„Dýamirée ist in Noktámas Domäne”, sagte Galéon schleppend, benommen von der Wucht der Lektion, die er soeben empfangen hatte. „Ihr Vater ist bei ihr. Mach dir keine Sorgen.”
„Und Úldaise? Der ist auch da, nicht wahr? Und der Stab …. Dýamirée hatte den Stab in der Hand …”
„Irgendjemand im Schatten hat jetzt den Stab”, bestätigte Galéon und schüttelte das Entsetzen ab. „Aber wir, wir haben das hier.” Er griff unter sein Hemd und ließ den Silberstern vor Advons Gesicht pendeln. „Der Stern und der Stab streben zueinander.”
Der Junge griff nach dem Schmuckstück. Ein zarter Goldschimmer blitzte zaghaft in seinen Augen auf.
„Damit finden wir sie?”
Der báchorkor nickte. „Ich wäre bereit, zu wetten.”
„Und wie kommen wir hin?”
Galéon erhob sich. Die Hagelkörner waren zwischenzeitlich groß wie Oliven.
„Wie hoch kann Farbenspiel denn fliegen?”
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