Der Regen soll zu Eis gefrieren

damit die Ritter nicht verlieren!

Natürlich, dieser Zauberspruch, den ich mantraartig immer und immer wieder im Geist aufsagte, war im Nachhinein betrachtet unglaublich blöd und lächerlich. Aber ich war keine Dichterin, und in der gegebenen Lage hatte ich auch keine Zeit gehabt, mir einen künstlerisch wertvolleren Zauberspruch auszudenken. Dass ich überhaupt versuchte, einen Zauber zu formulieren, war ohnehin töricht. Schattensänger benutzten keine Zaubersprüche, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Regenbogenritter – oder gar Lichtwächter – das taten. Naive Wortmagie im Sinne von Abrakadabra und Hokuspokus war ein Konzept meiner Welt. Aber mein alberner Reim schien dem, was ich bewirkte, keinen Abbruch zu tun, und vielleicht war es gar nicht so verkehrt, wenn ich mich an etwas abstützte, was meine Konzentration verbesserte.

Ich fragte mich, was Yalomiro dazu sagen würde, wenn ich ihm davon erzählte. Wenn das hier vorbei war und ich wieder mit Dýamirée und ihm in der Abenddämmerung vor dem Etaímalon saß und wir einander Geschichten erzählten.

Wenn.

Ich muss zugeben, dass mir nicht klar war, wie ich es überhaupt fertigbrachte, den Regen zu manipulieren. Ich stellte mir einfach so genau wie möglich vor, wie Regentropfen aus den Gewitterwolken niedergingen. Ich stellte mir vor, dass ich jeden einzelnen dieser Tropfen mit meinen Händen greifen konnte. Ich stellte mir Kälte vor, die das Wasser verfestigte. Ganz an der Peripherie meines Denkens entsann ich mich an jenen Moment, damals, als wir dem Widerwesen gegenüber gestanden hatten und Arámaú mir ihre Magie überlassen hatte. Damals hatte ich Arámaús Duft wahrgenommen, und es war der Geruch von frischem, blütenweißen Schnee gewesen. Wahrscheinlich war es diese Erinnerung gewesen, die mich überhaupt auf die Idee gebracht hatte, das Regenwasser zu verändern, es in eine Form zu bringen, die am Rüstzeug der Regenbogenritter einfach abprallen würde, statt es zu durchnässen und ihre maghiscal zu verwässern. Ich fragte mich, ob Arámaú an meiner Stelle eine ähnliche Idee gehabt hätte. Merkwürdigerweise war ich, je länger ich darüber nachgrübelte, der Überzeugung, dass ihr etwas Vergleichbares eingefallen wäre, wahrscheinlich etwas wesentlich effektiveres. Und sie hätte keine Zeit verschwendet, zögerlich zu diskutieren und an sich selbst zu zweifeln. Sie hätte es einfach getan.

Ich rief mich zur Ordnung und fuhr damit fort, immer weiter, endlos, meinen läppischen Reim aufzusagen und mir dabei vorzustellen, wie ich in meinen Händen Tropfen um Tropfen zu einer kleinen, harten Eiskugel formte. Ich stellte mir vor, wie die Kügelchen fielen und an Helmen, Harnisch und Schilden der Ritter zurückschnellten, plack, plack, plack … ein scharfes Stakkatogeräusch, sogar etwas musikalisch, ganz anders als das satte Platschen der Sandbatzen.

Ich horchte. Das Platschen war auch lange nicht mehr so laut wie zuvor. Das, was nun um mich herum auf dem seltsamen verglasten Gestein landete, aus dem der Cielástel errichtet war, war trocken und rieselfähig. Nun gut, natürlich schmolz der Hagel nach einer Weile und durchnässte den Sand wieder, aber zumindest war es mir gelungen, Wasser und Stein kurzzeitig zu separieren.

Ob Dýamirée mir das glauben würde, wenn ich ihr davon erzählte?

Nein! Oh nein! Nun bloß nicht an Dýamirée denken! Dýamirée war in Sicherheit. Cýelú Irísolor war dort unten, und Advon, dieser nette kleine Kerl. Úldaise, Siledaú, wer auch immer, die hatten alle gar keine Chance gegen den Regenbogenritter. Ich hatte gesehen, wie zutraulich und ohne Angst Dýamirée sich dem Ritter gegenüber verhalten hatte. Er hatte sie zwar entführt, war in der ganzen Geschichte wohl selbst der Betrogene gewesen. Aber wenn Dýamirée ihm vertraute, warum sollte ich das nicht tun? Yalomiro tat es sicher auch, und …

Yalomiro? Wo war Yalomiro? Der báchorkor schien es zu wissen, aber was hatte das alles zu bedeuten? Wo war Yalomiro? Wo war Ovidáol? Was …

Nein! Neinneinnein! Nicht ablenken lassen. Regen soll zu Eis gefrieren … damit … damit …

Bei den Mächten! Was tat ich hier? Und was bewirkte es? Tat ich tatsächlich etwas Sinnvolles, oder wollten die anderen mich einfach nur beschäftigt halten? Ich schaute hinüber zu Elosál, reglos stand sie und wirkte dabei so überwältigend, so stark, so eindrucksvoll, dass ich mir klein und schäbig vorkam. Und albern mit meinem selbstgestrickten, simplen Zauber. Sie lenkte gerade das Schicksal einer ganzen Welt. Ich machte Wasser kalt.

Eis gefrieren … Eis … kalt …

Entsetzt erkannte ich, wie viel Kraft mich meine Zweifel kosteten. Ärgerlich holte ich tief Luft, schloss die Augen und konzentrierte mich mit aller Macht auf kalten Regen, auf Eis, auf massives Wasser. Meine maghiscal war da, ich konnte sie spüren. Eigentlich sonderbar, so in unmittelbarer Nähe der fajía mit ihrer Goldmagie, und…

… damit die Ritter nicht verlieren! Werde zu Hagel, du dummer Regen! Irgendwann mussten diese verfluchten Wolken doch einmal leer sein! Oder floss da stetig irgendwie Wasser nach?

Vielleicht, dachte ich, musste es einfach so sein. Alles fühlte sich an wie ein Finale, wie ein letzter, entscheidender Kampf. Aber warum ging ich davon aus, dass am Ende alle gemeinsam dieselbe Sache tun mussten? Was, wenn es nötig war, dass verschiedene Leute an unterschiedlichen Stellen jeweils andere Dinge wirkten, damit etwas Bestimmtes geschehen konnte? Was, wenn das Weltenspiel dezentral gespielt wurde, wenn Noktáma und Pataghíu (und das Licht?) zugleich mehrere Züge mit verschiedenen Spielsteinen ausführten? Das war furchtbar verwirrend. Andererseits war das hier keine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht.

Das hier ist keine Geschichte, dachte ich. Nur, weil du das Gesamtbild nicht siehst, ist nicht sinnlos, was du tust! Warum hätte der báchorkor dich wohl sonst ausgerechnet auf den Regen angesetzt?

Und wieso vertraute ich darauf, dass es mit dem jungen Geschichtenerzähler seine Richtigkeit hatte? Nur, weil die Kinder ihn aufrichtig zu mögen schienen?

Der Gedanke ließ mich nicht los. In der kurzen Zeit, in der ich ihn gesehen hatte und während der wenigen Worte, die wir miteinander gewechselt hatten, hatte mich ein seltsames, flüchtiges Gefühl gestreift, wenn ich darüber nachdachte, eine seltsame Vertrautheit.

Ich schaute zu Elosál hinüber. Auch sie war nicht an der Seite ihres hýardor und ihres Sohnes. Aber sie … tat etwas.

Das konnte ich auch. Ich richtete entschlossen den Blick wieder empor und konzentrierte meine Wut, meinen Unwillen auf das Gewitter, das es gerade allen so schwer machte. Das sollte aufhören! Dieser verdammte Regen, der Sand, der nicht in den Himmel gehörte, der sollte verschwinden! Alles sollte zurück an seinen Platz!

Ich sammelte meine Vorstellungskraft, meine Energie, und ich wünschte mir alles kalt und rein und weiß. Das schien zu funktionieren, denn das, was im Schein des Wetterleuchtens niederfiel, erinnerte mich mehr und mehr an einen heftigen Schneesturm. Um mich herum begann eine dünne weiße Schicht aus Graupel den Sims zu bedecken. Wenn ein Blitz niederzuckte, nahm ich einen sehr schwachen, bunten Schein war. Ob es Elosáls Magie war, die auf die Eiskristalle traf, reflektierte und die Farben im Wasser weckte?

Und was, bei allen Mächten, hatte der báchorkor vor, den ich ganz am Ende dessen, was ich mir zu erkennen erlaubte, auf dem Rücken des bunten Einhorns zu den Wolken empor preschte, den kleinen blonden Jungen in seinen hellen Gewändern vor sich im Arm?

***

Kíaná von Wijdlant hatte bereits vor einer ganzen Weile damit aufgehört, den Männern reihum Vorwürfe zu machen. Das war nicht fair, die teiranda wusste das, aber sie hatte ihrem Ärger Luft verschaffen müssen.

Die Herren wagten nicht, sich zu verteidigen. Den größten Vorwurf machte sich ganz deutlich Waýreth Althopian, der, der sich in rührendem Vertrauen an die Mächte gewandt hatte. An die, die nicht verhindert hatten, dass sie in diesen Wahnsinn geraten waren. Altabete und Grootplen gingen in dumpfem Ärger voraus. Die beiden waren besorgt, denn nun waren auch ihre Söhne verschwunden, und die kleine Tíjnje noch dazu. Grootplen, Vater und Großvater zugleich, rief immer wieder nach den Kindern, bis Asgaý ihn zaghaft darauf hinwies, dass sein Rufen die Chaosgeister anlocken würde. Zum Glück hatten sie bald die Fußspuren der Kinder gefunden, die darauf hindeuteten, dass die drei in großer Eile davongerannt sein musste. Aber warum? Was mochte die Kinder so in Aufruhr versetzt haben, dass sie von den Erwachsenen weggelaufen waren? Während sie die Mächte um Hilfe angerufen hatten, hatten sie gar nicht bemerkt, dass die drei sich entfernt hatten. Das musste lautlos und binnen eines Herzschlages gewesen sein.

Waren Chaosgeister hinter ihnen her? Hatten die Wesen es planvoll geschafft, die Kinder von der Gruppe zu trennen?

„Ein Glück”, murmelte Andriér Altabete, „dass wir ihre Tritte sehen können.” Altabete war ein guter Fährtenleser, das wusste Kíaná von Wijdlant ganz genau. Der yarl ließ es sich selten nehmen, die Jäger zu begleiten, wenn eine Rotte Waldschweine oder ein Wildwolf sich ungebührlich nahe an eines der Dörfer wagten und sich Vieh holten oder wenn das Hochwild über den Sommer zu fruchtbar gewesen war.

„Wenn das keine List ist”, gab Grootplen zu bedenken. Der sonst so behäbige, gutmütige Mann war so nervös, wie die teiranda ihn nicht kannte.

„Warum sollte es eine List sein?”, wollte Asgaý wissen.

„Vielleicht wollen sie uns auseinandertreiben wie eine Schafherde. Vielleicht führt uns das hier in die Irre.”

„Nein”, murmelte Althopian. „Die Spuren hier sind echt.”

„Wie bist du da so sicher?”

„Wäre eine dieser Unkreaturen wohl so listig, die Spuren eines kleinen leichtfüßigen Mädchens nachzumachen?”

Damit mochte er Recht haben. Die Männer folgten den Kinderspuren eine gefühlte Ewigkeit lang. An eine Stelle kamen sie, an der der Boden aufgewühlt war wie von einem kleinen Kampf. Im ersten Moment ergriff sie alle die Befürchtung, dass Chaosgeister zugegriffen haben könnten; dann aber bemerkten sie, dass die Spuren sich nun zu dritt und nicht mehr in eiligem Lauf von dem Ort entfernten.

„Sie sind beieinander”, sagte Kíaná, um Grootplen zu trösten. „Die Knaben werden gut auf Tíjnje achtgeben.”

„Das mag ja sein”, murmelte der yarl unglücklich. „Aber wer gibt auf Láas acht?”

„Láas ist ein wehrhafter Kämpfer, fast schon ein junger Mann, Herr Daap.”

„Nein, er ist mein Sohn! Er kann noch nicht … ich habe ihm doch noch gar nicht alles beigebracht, was er wissen muss!”

„Jándris ist bei ihm. Die beiden passen aufeinander auf.”

„Möge Jándris sich nicht von Unverstand leiten lassen”, murmelte Altabete. „Wie oft beklagt sich der mestar über den Schabernack, den er treibt.”

„Herr Andriér …”

„Ein unbeschwertes Kind ist er doch noch …”

Asgaý legte dem Ritter tröstend die Hand auf den Arm. „Jándris weiß sehr wohl, wann Übermut und Besonnenheit zu trennen sind. Wenn einem etwas zustoßen sollte, dann gewiss nicht aus Leichtsinn oder Unvermögen.”

„Aber warum finden wir sie nicht wieder? Warum bleiben sie nicht einfach stehen und warten, dass wir auf ihren Spuren zu ihnen aufholen?”

Das vermochte sie ihm nicht zu beantworten, aber nun mochte er vielleicht verstehen, wie sehr sie die Sorge um Manjév umtrieb, die in all das Unglück nur wegen Merrit Althopian geraten war.

„Jándris!”, rief Altabete. „Junge! Antworte, mein Sohn!”

Sie schaute sich verstohlen nach Althopian um. Der Ritter rief nicht nach seinem Kind. Warum auch. Sie suchten nun nicht mehr nach dem Knaben. Auch nicht mehr nach der teirandanja. Ihre Suche war nun auf ein neues Ziel umgeschwenkt. Nun, zumindest hatten die drei zuletzt vermissten Spuren hinterlassen. Doch wie lange noch?

Althopian war einige Schritte hinter ihnen zurückgefallen. Was hatte er vor?

Konnte sie es ihm verdenken, wenn er sich von ihnen still trennte, um seinen Sohn zu finden anstatt in dieser Zwischenwelt hinter fremden Kindern herzuirren?

„Es tut mir leid, Herr Waýreth”, sagte sie und ging an seiner Seite. Nein, unbemerkt davonmachen sollte er sich nicht. „Ich hätte Euch nicht so schelten sollen.”

„Es war dumm von mir, in dieser Lage auf die Mächte zu hoffen”, sagte er leise. „Wir sind nicht belangreich genug.”

„Redet nicht so! Vielleicht ist es gerade Euer Vertrauen in die Mächte, das uns hier stärken wird.”

„Mein Vertrauen? Was ist mit dem Euren, Herrin?”

„Ach, ich weiß nicht. Es ist nicht der Ort, sich darüber Gedanken zu machen”, wischte sie seinen Einwand beiseite. Was brachte es ihnen, wenn sie nun darüber nachsann, was der Schattensänger Manjév prophezeit hatte. „Ich bin wahrlich zurzeit nicht diejenige, auf die man hier bauen kann. Ich …” Sie blickte auf. Asgaý war wieder vertieft in die Spurensuche.

„Ich habe Angst, Herr Waýreth”, flüsterte sie. „Euer Vertrauen beruhigt mich.”

„Ich habe kein Vertrauen, Herrin. Ich habe allenfalls Hoffnung, dass die Mächte uns hier nicht in Ewigkeit herumirren lassen. Ich hoffe auf ein Zeichen.”

„Dann kommt. Sondert Euch nicht hier ab. Wir müssen gemeinsam dieses schreckliche Abenteuer bestehen.”

Er verneigte sich. Sie wusste nicht zu sagen, ob er sich ertappt fühlte oder verärgert war, aber zumindest diskutierte er nicht. Sie schlossen zu den anderen auf und gingen schweigend weiter. Ein Zeichen, dachte die teiranda. Wie sollte so ein Zeichen wohl aussehen?

Und so liefen sie den Kinderspuren hinterher, viel weiter, als vorstellbar war, dass die drei ohne Rast vorangekommen waren. Und solange, bis Kíaná durch das feine Leder ihre vornehmen Schuhe spürte, wie ihr die Füße kalt wurden. Kalt und hart wurde der Sand unter ihren Schritten, und er begann, leise zu knirschen.