Siledaú schaute langsam zu dem jungen zerlumpten Mann auf, der ihr nun gegenüberstand. Sie sagte nichts, aber sie streckte überraschend zaghaft die Hand nach dem Silberstern aus, den er ihr entgegenhielt. Allerdings zögerte sie, ihn an sich zu nehmen.

„Das gehört Euch doch?”, fragte der junge báchorkor. „Ihr wollt es doch haben?”

Abgesehen von den Gewittergeräuschen und dem fallenden Sand, der gegen das Gebäude und auf uns herab klatschte, blieb es einen Moment totenstill. Immer noch flackerte das Licht ruckartig und selbst für nachtsichtige Augen wie die meinen verwirrend. Ich war wie gelähmt, wusste beim besten Willen nicht, was ich von alledem halten sollte. Elosál neben mir hatte ihre Arme fest um Advon gelegt. Ihre Augen funkelten golden, erschrocken, nein: entsetzt. Der Junge machte hingegen ein eher verwirrtes Gesicht. Er fürchtete sich, aber in den Armen seiner Mutter wurde er ruhiger. Sein Vater auf der anderen Seite des Simses, immer noch im Sattel, war ebenfalls offensichtlich fassungslos. Er hielt Dýamirée sicher und bestürzend vertraut im Arm. Das wurmte und beruhigte mich auf seltsame Art gleichermaßen. Immerhin schaute sie verlangend zu Yalomiro und mir hinüber. Doch ich konnte sie nicht erreichen, nicht jetzt. Cýelú Irísolor schien das zu wissen. Nein, diesmal wollte er mir mein Kind nicht wegnehmen. Diesmal wagte er es nicht, sie loszulassen. Es kränkte mich, dass er mir nicht zuzutrauen schien, dass ich auf sie achtgeben könne. Aber irgendwie hatte er ja Recht damit. Schließlich hatte ich Dýamirée schon einmal im Stich gelassen.

„Ist das wahr?”, fragte Yalomiro. Der Wind zerrte an seinem Mantel, als wolle er ihn von den Füßen reißen. „Bist du, wie immer es zugehen mag, Ovidáol Etaímalar?”

„Mach dich nicht lächerlich, Schwarzmantel”, fauchte Siledaú und rappelte sich langsam auf, sehr bedächtig und vorsichtig, langte nach ihrem Gehstock, ohne den sie wohl nicht stehen konnte. „Sehe ich aus wie ein verfluchter Schattensänger? Stimmt etwas mit deinen Augen nicht? Ich bin ein Weib, Schwarzmantel! Und müsstest du es nicht spüren, wäre ich deinesgleichen?” Sie lachte verächtlich und stützte sich schwer auf. Offenbar hatte sie den Angriff nicht ganz schadlos überstanden. „Was für eine lächerliche Idee! Aber dass es mit dem Verstand von diesem unverschämten Lumpen hier nicht weit her ist, das weiß ich.”

„Von wem wollt Ihr etwas über meinen Verstand wissen?”, fragte der junge Mann. „Ich entsinne mich nicht, Euch schon zuvor begegnet zu sein. Es sei denn, Ihr wäret tatsächlich so eng mit Úldaise Tiáramalé verbunden, dass Ihr eine Erinnerung miteinander teilt.”

„Nun”, sagte Yalomiro, „wenn du nicht auf wunderliche Weise der Verfluchte bist, so fände ich es doch nicht allzu absurd, hättest du in irgendeiner Form eine Verbindung zu ihm, die über eine persönliche Bekanntschaft hinausgeht. Was ist es? Ein Fluch?”

„Siledaú”, mischte Elosál sich ein, „erkläre uns das!”

„Erklären? Was denn? Dass der Kerl hier vom Wahnsinn gepackt ist? Ovidáol Etaímalar soll ich nahe sein? Was für ein Blödsinn! Habt Ihr eine Vorstellung davon, wie alt der Mann nun wäre?”

„Nun”, kam es da von Cýelú Irísolor, „als ich den Verfluchten das letzte Mal sah, als ich ihm leibhaftig gegenüberstand, damals, in jener schrecklichen Schlacht, da war er nicht wesentlich älter als ich. Selbst wenn er lebendig entkommen wäre, die Zeit sollte ihn längst dahingerafft haben.”

„So wenig, wie sie Euch dahingerafft hat, obgleich Ihr ein sterblicher Mensch seid?”, fragte der junge Mann. „Meister Cýelú, es gibt Orte und Möglichkeiten, der Zeit aus dem Wege zu gehen. Der Cielástel gehört dazu. Aber es gibt noch mehr Das wisst auch Ihr, Meister Yalomiro, Meisterin?. Nicht wahr?”

War das so? War die Burg der Regenbogenritter ein Ort außerhalb der Zeit? Es hätte mich nicht gewundert. Nein, mehr noch – es war logisch. Bei den arcaval’ay und der fajía hatte ich es nicht hinterfragt, wenn sie doch nichtmenschliche Wesen waren. Bei Cýelú sah das ganz anders aus. Aber wie konnte der báchorkor wissen, was mit mir und Yalomiro war? Nicht einmal Dýamirée wusste davon!

Ich war faszinierter, als es in der Situation angemessen gewesen war. Wer war dieser junge, abgekämpfte Mann, der sich benahm, als gehöre er ganz selbstverständlich in diesen Kreis von Magiern, hoch oben in einem Heiligtum und mitten in einem Hagel aus nassem Sand, Sturm und Regen?

Yalomiro umfasste den Stab mit beiden Händen und trat einen Schritt beiseite. Auf seinem Hut hatte sich bereits eine dicke Sandschicht angehäuft. Aber er konzentrierte sich auf die alte Frau.

„In der Tat. Es würde mich nicht wundern, wenn Ovidáol ein derartiges Schlupfloch gefunden hätte. Aber nach allem, was ich weiß, war Ovidáol tatsächlich keine Frau. Und er wurde besiegt. Das weiß ich aus erster Hand. Mein Meister war es, der ihn am Ende bezwang.”

Der mysteriöse junge Mann betrachtete nachdenklich den Silberstern in seiner Hand. Die dürren Finger der Alten langten sehnsüchtig danach, aber immer noch griff sie nicht zu. Und er gab ihn ihr nicht.

„Meister Yalomiro”, fragte er stattdessen, „ich höre sehr gerne gute Geschichten. Bitte erzählt uns, was Ihr über den Untergang von Ovidáol Etaímalar wisst.”

Yalomiro schaute sich nach mir um, überzeugte sich wohl auch davon, dass Dýamirée bei Cýelú Irísolor gut aufgehoben war. Als ich seinen Blick auffing, stutzte ich. Irgendetwas wollte er mir zu verstehen geben, aber in dem enervierenden Geflacker verstand ich nicht, was er vorhatte.

„Ich denke, wir alle hier sind mit den Dingen vertraut”, behauptete er, wohlwissend, dass ich und sicher auch Dýamirée tatsächlich keine Ahnung hatten, wovon er sprach. Dies war eine Geschichte aus einer unschönen Vergangenheit, vor der er uns hatte beschützen wollen. Etwas, über das Schattensänger einfach nicht sprachen, weil sie es vergessen wollten, so wie diesen verfluchten Stab, dessen sie sich nicht entledigen konnten. „Den Regenbogenrittern gelang es, die Chaosgeister zurück in die Wüste zu vertreiben, Ovidáols menschliches Gefolge unterlag den Menschenkriegern, kaum dass ihr Anführer sie im Stich ließ. Ovidáols Kämpfer und Kreaturen waren also versprengt, geschlagen und vernichtet. Er selbst war auf der Flucht. Meinesgleichen nahm die Verfolgung auf. Wie es der Zufall will, war es mein eigener Meister, der am Ende, zusammen mit einigen wenigen anderen, den Flüchtigen stellte. Und so kam es zu jenem Kampf, bei dem dieses schreckliche Artefakt hier zu Bruch ging. Mein Meister brachte diese Trophäe am Ende hier in den Cielástel, als Beweis, dass es mit dem Verfluchten zu Ende war.”

Siledaú lachte höhnisch auf. Doch der junge Mann gab sich nicht mit Yalomiros Geschichte zufrieden.

„Aber wo der Verfluchte selbst abgeblieben war, das hat Euer Meister Euch vorenthalten?”, fragte der báchorkor.

„Man hat bis heute nicht mehr von ihm gehört oder seinen Leichnam gefunden, hieß es. Das ist alles, was ich weiß.” Yalomiro stand nun neben mir. Ich tastete nach ihm und spürte jetzt auch, was nicht in Ordnung war. Seine maghiscal war sehr, sehr schwach. Ich ahnte auch, weshalb. Yalomiro und Cýelú Irísolor waren aus der Wüste gekommen, wo sich laut Aussage der Kinder Chaosgeister von ihren Fesseln losgerissen hatten. Hatte Yalomiro möglicherweise mit einer solchen übernatürlichen Kreatur gekämpft? Und anschließend mit letzter verbleibender Kraft Siledaú niedergeschlagen? Wahrscheinlich hatte Yalomiro zu viel Kraft auf einmal verbraucht und zurzeit keine Möglichkeit, in diesem skurrilen Unwetter neue zu schöpfen.

„Dann”, sagte der báchorkor und begann, den Silberstern zu schwenken wie ein Pendel, „lasst mich die Geschichte beenden. Ich bin gut darin, lose Enden weiterzuspinnen und zu verbinden. Damit verdiene ich mir mein Brot.”

„Wer immer du sein magst”, gewährte Elosál ihm das Wort, „kläre uns auf.”

„Meister Yalomiro, es ist außer Frage, dass Euer Meister guten Glaubens war, den Verfluchten endgültig unschädlich gemacht zu haben. Wahrscheinlich hat er jedoch gezögert, ihn zu töten und ließ ihn laufen, damit Noktáma über sein Schicksal entscheide. Er wird seine Gründe dafür gehabt haben, die wir niemals erfahren werden. Ich glaube, dass es Ovidáol Etaímalar auf seiner feigen Flucht an einen Ort verschlug, von dem aus es kein Entrinnen gab, zumindest vorerst nicht.”

„In eine tiefe Höhle, zum Beispiel?”, fragte Elosál. Der báchorkor nickte.

„Die Höhle, die ich gefunden habe etwa?”, rief der Junge aufgeregt aus.

„Ganz genau, Advon Irísolor. Ovidáol Etaímalar war zwar des mächtigen Zauberstabes beraubt, seine Macht über die Chaosgeister war dahin, er wird auf der Schwelle der Träume balanciert haben , aber er hatte immer noch seine persönlichen magischen Fähigkeiten. Seine verglimmenden Kräfte mögen zu diesem Zeitpunkt zwar nicht mehr ausgereicht haben, allzu viel zu bewirken. Aber ist es nicht ein faszinierender Gedanke, sich den verfluchten, den mächtigsten Schattensänger, den, das Chaos entfesselte, machtlos, gefangen und am Ende vergessen von der Welt vorzustellen? Ich denke, ein solches Los hätte einen, der auszog, um das Weltenspiel zu beherrschen, ziemlich bitter und unglücklich gemacht. Meint Ihr nicht auch, Siledaú?”

„Gib mir das endlich”, fauchte sie. Zwischenzeitlich war auch die alte Frau fast vollständig von einer Schicht Sand bedeckt, weißes Haar klebte nass in ihrem Gesicht. Sie grabschte nach dem Stern. „Das gehört nicht in deine schmutzigen Hände.”

„Wollt Ihr denn gar nicht wissen, wo ich es gefunden habe? In jener Höhle lag es herum, gänzlich vergessen, vergraben im Kies eines Bachbetts, gemeinsam mit einigem anderen Zeug. Rätselhaftes Zeug, bei den Mächten!”

„Nun”, zürnte Cýelú Irísolor, „ich höre, Siledaú! Ich höre äußerst interessiert zu!” Er stieg von seinem Einhorn ab, hob Dýamirée herunter und kam mühsam beherrscht zu uns hinüber. „Was hat es mit diesem Amulett auf sich und wie kam es in die Höhle unter Úldaise Tiáramalés Garten? Was weißt du darüber? Was hast du mit dem sinor zu schaffen?”

„Jenem sinor“, lieferte Elosál ihrem hýardor eine Information, die ihm fehlen musste, „der sich anmaßt, der Besitzer des Zauberstabes zu sein.”

Cýelú reagierte darauf mit einem fast komischen, verdutzten Blick, aber ganz offensichtlich bremste es ihn nicht in seinem Zorn.

„Woher soll ich das wissen?”, murrte die Alte.

„Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen, Siledaú! Das hast du lange genug getan! Ich kann nicht fassen, wie idiotisch ich mich benommen habe, indem ich dir auch nur einen Tag bei deinem wirren Geschwätz zugehört habe!”

Er ließ Dýamirée von seinem Arm hinunter. „Geh, Kleines. Geh zu deiner Mama. Ich hätte dich nie mitnehmen dürfen.”

„Ist schon gut. Aber du, du bist eine schlimme Hexe”, sagte Dýamirée verächtlich zu der Alten. Offenbar fühlte sie sich an der Seite des Ritters sicher genug, um der Alten ihre Meinung zu sagen. „Du hast die freundlichen Regenbogenritter angelogen! Du wolltest dem guten Großmeister das Herz schmutzig machen, um diese blöde alte Stange zu bekommen! Und du bist gemein zu Advon! Ich weiß genau Bescheid! Die Mächte werden dich ausschelten! Und den schrecklichen alten Mann auch, der die großen Monster hergeholt hat! Vielleicht frisst dich so ein Monster auf!”

„Dýamirée”, versuchte der báchorkor bedachtsam, den kindlichen Zorn zu beschwichtigen, „du solltest nun besser mit Advon in die Burg hinein gehen. Es wird hier gleich … viel zu langweilig für euch.”

„Komm, Dýamirée!”, ließ sich nun auch der Junge hören und winkte sie nachdrücklich heran. „Komm, wir können hier nichts weiter tun. Komm, ich zeige dir Pataghíus Halle. Das darf ich doch, Mama? Auch wenn sie ein Schattensängerkind ist?”

„Ja, natürlich”, sagte Elosál, ohne Siledaú aus den Augen zu lassen. „Geh mit ihm, Kleines. Wir kommen gleich nach! Wir haben … Erwachsenendinge zu regeln.”

Yalomiro schloss sich an. „Geh mit dem Jungen, mein kleiner Stern. Hier draußen ist es viel zu stürmisch und nass.”

„Geh hinein.” Mehr bekam ich nicht über die Lippen, obwohl ich ihr so gerne so viel mehr gesagt hätte. „Bitte.”

„Ist gut, Mama”, sagte Dýamirée gehorsam. Doch da kam Bewegung in Siledaú.

„Nichts da!”, rief sie aus und wollte nach Dýamirée greifen, aber Cýelú Irísolor vereitelte das. Schneller, als ich begriff, was er tat, hatte er sein Schwert gezogen und sich vor die Kinder gestellt. Wenn Yalomiros Kräfte vorerst auch erschöpft waren, die physische Kraft des Ritters war ungebrochen. Siledaú wich eingeschüchtert einen Schritt vor ihm zurück.

„Ich bin nicht für meine Geduld bekannt, Siledaú, das weißt du! Sag uns allen endlich, was hier gespielt wird! Oder soll ich dich den Turm hinunter werfen? Ausreichend wütend dazu bin ich! Es wartet kein Einhorn dort unten, das dich auffängt!”

„Ihr solltet das besser nicht tun, Meister”, beschwichtigte der báchorkor. „Ich befürchte, das würde uns nur in noch größere Schwierigkeiten bringen!”

„Ihr solltet auf diesen schmutzigen Halunken hören”, empfahl Siledaú. „Und mir endlich den Stab überlassen! Oder glaubt Ihr im Ernst, Ihr könntet den Chaosgeistern etwas entgegensetzen, die er hier aus ihrem Zwinger befreit hat?”

Ihr dünner Finger deutete anklagend auf den báchorkor. Der schnappte den Silberstern und schloss seine Faust darum. „Ich?”, fragte er ruhig. „Ich soll die Chaosgeister losgelassen haben? Ein armer, heimatloser báchorkor ohne jegliche okkulte Kraft?”

„Natürlich warst du das!”, zeterte Siledaú. „Die ganze Zeit waren sie unter Kontrolle! Erst mit dir zusammen haben sie sich befreit! Du bist hier aufgetaucht, und alles geriet in Wanken. Du hast den Bann zerstört, ob willentlich oder zufällig, ganz egal! Cýelú, ich rate dir, wenn die Monster versuchen, über die Mauern zu kommen, wirf ihnen den hier zum Frass vor! Vielleicht besänftigt sie das eine kurze Frist!”

„Vielleicht mache ich das. Vielleicht versuchen wir zuvor aber, wie den Biestern zähe alte Weiber schmecken!”

„Cýelú!”, tadelte Elosál.

„Wenn du wirklich nur eine harmlose alte Frau bist, woher weißt du, was geschehen ist?”, fragte der junge Mann. „Schon wieder kennst du dich mit Dingen aus, die nur Úldaise Tiáramalé wissen kann. Wäre es nicht sogar für ein albernes Märchen zu weit hergeholt, man könnte meinen, ihr tauschtet euren Körper hin und her wie ein Hemd.”

Siledaú erstarrte. Der báchorkor lächelte finster. „Es ist also so?”

„Bei den Mächten!”, rief Yalomiro aus. „Das wäre … Frevel! Frevel über das Denkbare hinaus!”

Ich war verwirrt. Bei alledem, was ich mit Yalomiro gemeinsam erlebt hatte, hatte ich ihn noch nie so aufrichtig entsetzt und angewidert erlebt. Offenbar hatte er bereits etwas erkannt, das noch keiner der anderen zu denken wagte. Andererseits – es klang schlüssig. Úldaise hatte den Raum verlassen. Siledaú war schneller aufgetaucht, als sie die Plätze hätten tauschen können. Was mochte das für ein Trick sein?

„Wie sollte das zugehen?”, fragte auch Elosál verwirrt. „Was wäre das für eine Magie, die das bewirken könnte?”

„Eben jene, mit der ich meinen Körper zu dem eines Tieres machen kann.”

„Das wäre undenkbar!”, entsetzte sich Elosál. „Eine lästerliche Anmaßung!”

„Advon, wovon reden die?”, hörte ich ganz am Rand der Szene Dýamirée fragen. Es war schwer, zu verstehen, angesichts des brausenden Windes und des niederhagelnden Sandes, der uns alle zwischenzeitlich bedeckte.

„Galéon glaubt, der alte sinor und Siledaú sind dieselbe Person.”

Siledaú schnaubte und hob drohend ihren Stab. „Ich hätte es wissen sollen”, knurrte sie. „Ich habe den Fehler begangen, dich zu unterschätzen, und ich hätte dich gleich am ersten Tag unschädlich machen sollen. Aber du kommst zu spät, báchorkor. Das, was in diesem Moment geschieht, das könnt ihr alle miteinander nicht mehr aufhalten!”

„Kannst du es aufhalten? Willst du es aufhalten? Wenn nicht, dann ist es einerlei. Dann kann ich das hier ebenso gut behalten.” Er nahm den Stern aus ihrer Reichweite.

„Ich”, behauptete Siledaú trotzig, „kann es kontrollieren. Und diesmal solltet ihr mich gewähren lassen. Und da der hier die Monster losgelassen hat – solltet ihr euch schnell entscheiden!”

„Wovon redest du?”, rief Elosál wütend aus,

„Wie jämmerlich!”, lästerte die Alte. „Wenn das die Schattensänger jener alten Tage sehen könnten, wie Ihr Euch hier blamiert! Die fajíaé würden bittere Tränen weinen! Der eine so nass, dass die Magie an ihm abtropft, der andere ausgelaugt wie ein dürres Stück Holz, und die dritte zu dumm und ungeschickt, um ihre Kräfte zu nutzen! Wo sind denn eigentlich deine Kämpfer hin, Elosál? Offenbar bist du die einzige, die noch nicht gebrochen ist. Aber was bist du ohne deine Kreaturen? Haben sie alle die Flucht ergriffen und dich allein gelassen? Ich frage mich, was ich hier überhaupt noch zu tun habe. Wer könnte mich denn ernsthaft daran hindern, diesen Ort zu verlassen? Allerdings gehe ich nicht ohne den Stab. Und nicht ohne den Stern. Wie aufmerksam, báchorkor, dass du ihn gleich mitgebracht hast. Das erspart mir die Mühe, ihn zu holen!”

„Nicht, bevor du uns nicht erklärt hast, wer du bist und mit welcher Maskerade du uns all die Zeit genarrt hast!”, rief Cýelú Irísolor aus und hob sein Schwert gerade drohend genug, dass die Alte instinktiv einen weiterem Schritt zurückwich.

Bist du Ovidáol Etaímalar oder nicht, oder zumindest das Geschöpf seiner verdorbenen Magie?” Elosál trat an die Seite des Goldenen und legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Sagt dieser báchorkor die Wahrheit oder ist es eine Geschichte, die zu all dieser Verwirrung beiträgt?”

Siledaú grinste.

„Nein”, sagte sie dann. „Zumindest nicht so, wie Ihr es Euch vorstellt. Die, die hier vor euch steht, ist tatsächlich Siledaú Tiáramalé. Ich bin kein mächtiger Schattensänger, der sich das Weltenspiel erobern wollte. Habt Ihr mich jemals Magie wirken sehen? Jemals zurückzucken vor dem Gold Eurer Magie, während ich in Aurópéa und im Cielástel ein und aus gegangen bin? Hätte ich mich auch mit größter List nicht in all der Zeit früher oder später verraten?”

„Nicht”, sagte Yalomiro, „wenn Siledaú Tiáramalé eine Verkleidung ist. Eine Verkleidung, wie ein mächtiger Schattentänzer sie mühelos an- und ablegen kann. Vielleicht als Letztes, wozu seine verwundete maghiscal auslangte.”

„Eine halbe Verkleidung, Meister Yalomiro. Denn in der Höhle war ein zweiter Mensch zurückgeblieben. Es hat wohl nicht gereicht, um in einem Stück zu bleiben.” Der báchorkor betrachtete nachdenklich den Silberstern. „Es muss so gewesen sein: Der Verfluchte war auf der Flucht vor seinem Bezwinger und seinen Verfolgern. Es dürfte damals niemand in und um Aurópéa gewesen sein, der kein Interesse daran gehabt hätte, den abtrünnigen Schattensänger zu fassen zu bekommen. Die Zeit hat gedrängt, denn solange er geschwächt war, hätte ihn selbst ein Unkundiger mit bloßen Händen zur Strecke bringen können. Ob aus schierer Panik, Unvorsicht oder Erschöpfung, sicher hielt er es für eine gute Idee, Unterschlupf in der Höhle zu suchen. Dort ist er wahrscheinlich verunglückt, abgestürzt und kam nicht mehr aus eigener Kraft heraus.”

Siledaú widersprach nicht. Die Kinder hatten ihren Vorsatz vergessen, im Cielástel Zuflucht zu suchen. Ich versuchte, Dýamirée mit einem mahnenden Blick zurückzuschicken, aber sie hatte jetzt nur Augen für den seltsamen jungen Mann. Konnte ich es ihr verdenken? Wie verlockend musste es für Kinder sein, den Geschichten eines báchorkor zu lauschen.

Auch Elosál war fasziniert. Sie kombinierte weiter. „Aus der Höhle gab es kein Entkommen. Die Felsen mit all dem Gold um ihn herum … wenn er noch Magie in sich hatte, dann konnte er wahrscheinlich nicht mehr viel damit anfangen. Er war zu schwer verletzt, dass er sich selbst nicht mehr heilen konnte. Sein eigener Körper war unrettbar verstümmelt. Aber er hatte noch Magie.”

„Wenn es goldhaltiges Gestein war, kein pures Metall an seinem Körper”, erklärte Yalomiro, „dann hat es auf ihn wahrscheinlich gewirkt wie ein Verlies. Er war gefangen wie ein Tier in einer Falle. Sofern er noch Magie wirken konnte, wie schwach auch immer, dann nur in seiner unmittelbaren Nähe, nicht über die Höhle hinaus. Solange er auch nur ein wenig Tages- und Nachtlicht hatte, konnte er überleben, oder vielleicht auch nur dahinvegetieren. Aber ohne Hilfe kam er nicht mehr ins Freie. Und nach eine Zeit begann er möglicherweise, sich regelrecht aufzulösen.”

„Also hat er gewartet. So lange, bis ihn jemand in der Höhle entdeckt hat. Haben die beiden alten Leute ihn zufällig gefunden? Oder hat er sie angelockt?”

„Ein greiser sinor war es, und seine hýardora, báchorkor.” Siledaú lächelte beunruhigend. „Wie sich herausstellte, hatte er den Garten auf dem Hügel gekauft, viele Winter nach dem Ende der Chaoskriege. Was für eine Überraschung für ihn und seine Dame, als sie entdeckten, wer im Kaufpreis inbegriffen war. als sie ihren neuen Besitz inspizierten und neugierig mit einer Leiter zu dem Bachlauf hinabstiegen! Es wäre besser gewesen, hätte ihn jemand mit einem jugendlichen, kräftigen Körper gefunden. Aber zwei alte, schwache Körper waren immer noch besser als gar keiner. Die beiden entzückenden alten Leutchen haben ihm nicht lange Widerstand geleistet. Ein paar Tage nur. Dann waren wir wieder frei. Alt, gebrechlich, unkundig. Aber … frei. Wir wussten Dinge. Und wollten Vergeltung.”

Ich war mir nicht sicher, ob ich das alles richtig verstanden war. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es zugegangen war, dass die letzten magischen Reste von Ovidáol Etaímalar irgendwie zerflossen und auf zwei verschiedene unkundige Menschen übergegangen waren. Das war nicht etwa so, als seien die unglücklichen Alten vom Geist des Verfluchten besessen. Sie hatten einander buchstäblich vermengt, wie Zutaten für ein Rezept. Und vielleicht war die Magie dabei irgendwie verloren gegangen und aufgebraucht, bis auf einen kleinen Rest, der die beiden Verkleidungen zusammenhielt. Als ich begriff, was das letztlich bedeutet, wurde mit beinahe übel.

„Wozu brauchst du noch den Stab?”, fragte Cýelú. „Die Monster sind entfesselt und das Wetter kehrt die Welt herum. Was könntest du mit dem Stab wollen, was du nicht ohnehin schon getan hast?”

„Den Stab”, sagte Siledaú, oder vielmehr: die eine Hälfte der Verkleidung, des neuen Körpers, in den Ovidaol Etaimalar geschlüpft war, „brauche ich für die Chaosgeister. Aber was das Wetter betrifft … damit habe ich absolut nichts zu tun.”