Das Wasser brodelte aus den Tiefen heraus und ergoss sich ausgehend von dem Brunnen in der Mitte der Stadt den Berg hinab. Erst war es, als gösse jemand oben am Palast des konsej Badezuber aus, in Mengen, die den Platz und die Straßen sauber spülten. Doch dann wurde es immer mehr, immer heftiger, und nach kurzer Zeit schien es, als sei der Hügel in der Mitte der Stadt wie der Grat eines Wasserfalles, von dem sich nach allen Richtungen die Fluten hinabstürzten und sich zuerst nur knöchel-, dann kniehoch in die Stadt hinab stürzten.

Allein der Umstand, dass Aurópéa in weiten Teilen in Hanglage errichtet worden war und es in der ganzen Stadt keine Senken und tiefer gelegenen Stellen gab, verhinderte, dass die Stadt überflutet wurde. Natürlich, der eine oder andere Keller lief voll und das, was die Bewohner nicht ohnehin wegen des zuvor drohenden Sturmes niet- und nagelfest gemacht hatten, wurde davon gespült und trieb stadtabwärts, bis es am Ende durch eines der Tore gespült wurde oder an der Stadtmauer strandete. Schlimmer war, dass nicht alle Gebäude der Gewalt des Wassers standhielten. Viele der Häuser in der Unterstadt und auch einige Villen wurden von der Flut aus der Erde eingedrückt, während vom Himmel weiterhin Sand niederklatschte, sich mit Regen und Grundwasser vereinte und zu einem zähen Schlamm wurde, der das Hab und Gut und auch einige Menschen und Tiere mit sich zog und eine verheerende Unordnung stiftete. Es dauerte nicht lange, bis die ersten von denen, die ihr Heil noch in der Sicherheit der Gebäude gesucht hatten, zu dem Schluss kamen, dass es außerhalb der Stadtmauern, in der weiten Ebene, wohl doch wesentlich sicherer aussehen dürfte. Und so flüchtete ein guter Teil der Bewohner und Gäste von Aurópéa aus den Stadtmauern, auf denen der Gongwärter noch einen letzten, fast trotzigen und pünktlichen Signalschlag absetzte und dann selbst die Beine in die Hand nahm.

Der größere Teil der Menschen entschied sich, unter dem flimmernden Gewitter südwärts zu laufen, in Richtung der Wüste. Dort waren die Gärten, die Hügelkette, die höher gelegenen Gebiete, Orte, die Sicherheit versprachen, sollte es den Mächten einfallen, noch mehr Wasser zu schicken und die Ebene um die Stadt gänzlich zu überschwemmen.

In all der Hektik und dem Durcheinander fragten sich die Verzweifelten, wo all das Wasser herkommen mochte, aber den Ursprung im Brunnen unter dem Palast erkannten allenfalls jene reichen Bürger der Oberstadt, die in Sichtweite des Gebäudes wohnten und das Sprudeln aus dem Gebäude heraus mit eigenen Augen gesehen hatten. Viele Bewohner der großen Stadt am Wüstenrand hatten keine Ahnung, dass dort oben ein Brunnen ruhte.

Binnen kürzester Zeit brach heilloses Durcheinander aus. Das Nachtvolk, das verrufene, verzweifelte, haltlose, und die biederen und tugendhaften Bürger, die das Wasser aus ihren Betten ins Freie trieb, vermengten sich zu einer panikgetriebenen, verzweifelten Menge, innerhalb derer jeder nur noch sein eigenes Heil suchen konnte. Alt und jung, Männer und Frauen, teils mit kleinen Kindern auf dem Arm, dazwischen Berittene und Lasttiere aus der Stadt ins Freie, wobei die Stadttore zu Nadelöhren wurden, wo sich die Massen stauten, Panik ausbrach und wilde Handgemenge ausbrachen, Mensch und Tier übereinander trampelten und jeder nur an das eigene nackte Überleben denken konnte.

Aurópéa war nicht auf Überflutungen eingerichtet. Die Stadt am Rande der weiten Wüste hatte nie zuvor einen so heftigen Regensturm erlebt, nie ein solches Übermaß an Wasser.

Den Menschen, die die Stadt durch das Westtor verließen, kam in den Sinn, dass das, was ihnen gerade zustieß, möglicherweise keine Folge des kuriosen Unwetters war, sondern etwas Ungeheures, etwas, was die Mächte ausführten oder zumindest daran mitwirkten. Aber als sie daran dachten, zum Cielástel zu eilen und dort die Regenbogenritter um Hilfe anzurufen; jene Magier, die ihnen einst hatten schwören müssen, sich mit all ihrer Zauberkraft aus den Geschicken der Stadt herauszuhalten, war der Schrecken groß.

Die mächtige Burg aus Glanz und Farben, die selbst nachts noch geheimnisvoll glomm und leuchtete, war verschwunden. Oder vielmehr: Sie war nicht sichtbar. Das Gebäude strahlte nicht durch den Regen und das Wetterleuchten hindurch. Der Cielástel war erloschen.

Und da standen sie vor der Stadt und starrten fassungslos gen Westen und versuchten, für sich zu begreifen, was das alles bedeuten mochte.

„Sie haben uns verlassen!”, rief jemand aus.

„Die Buntkerle haben sich davon gemacht und überlassen uns dem Unheil!”

„Bei den Mächten! Was soll nun werden? Wer soll das Wasser aufhalten?”

„Das ist deren Werk!”; schrillte jemand anderes. „Begreift ihr nicht? Sie sind nicht weg, weil die Flut gekommen ist! Die Flut ist da, weil sie weg sind!”

„Du meinst, sie haben uns verraten und ausgeliefert?”

„Die Mächte mögen sie dafür strafen!”

Aufgeregtes Geschrei und Stimmengewirr pflanzte sich fort, zurück zu den nachdrängenden Massen und um die Stadt herum. Mit jeder Stimme verfälschte sich etwas an dem Gesagten, und bei denen, die das Osttor zur Flucht benutzt hatten, kam schließlich an, dass die arcaval’ay selbst das Wasser beschworen hatten und den Regen aus Sand, um sich an der Stadt zu rächen, die ihnen die erwartete Ehrerbietung verweigerte.

Einige wenige, die besonnener dachten und noch nicht von geistigen Getränken, Todesangst und zielloser Wut aufgestachelt waren, gaben zu bedenken, dass das unmöglich sei, und was denn den Ausschlag gegeben haben mochte, dass die Regenbogenritter gerade jetzt einen Sandregensturm losgelassen haben sollten. Aber sie fanden kein Gehör. Die, die aus Aurópéa flohen, die wollten wütend sein. Die suchten einen Schuldigen. Die wollten Rache!

Wie es denn möglich sein sollte, dass auch die ganze riesige Burg verschwunden sein sollte, riefen andere. Wenn dem tatsächlich so sei, ob es dann nicht möglich wäre, dass der Cielástel schon zuvor von einer Katastrophe getroffen worden sei und erst daraufhin das Unheil in der Stadt begonnen hätte.

Es war eine große Ratlosigkeit, in die die Not der nachdrängenden hinein prallte, viele von ihnen verletzt und in Aufruhr und aus den unkundigen Menschen Aurópéas eine kopflose Menge machte, vor der ein Teil sich auf den Weg zum Cielástel machte, um nach dem Verbleib der Regenbogenritter zu fahnden und die schrecklichen Buntkerle zur Verantwortung zu ziehen, während andere in die Hügel flüchteten, so schnell es über die Ebene vor der Stadt ging, die immer mehr zu weichem, Schuhe verschlingenden Schlick wurde, nicht unähnlich dem, der im Norden am Meer bei Ebbe zwischen dem Sand und der Brandung zutage trat, wenn das Wasser in Richtung des Chaos flutete.

Aus südlicher Richtung näherten sich Kreaturen, die die Aufregung all der vielen lebendigen Wesen ausgesprochen anziehend fanden und ihm zustrebten wie die Fliegen einem Aas.

***

Sie hatten ihre Plätze eingenommen, jeder auf einem der sieben Türme des Cielástel. Es war überraschend schwierig gewesen, auf ihren jeweiligen Posten zu landen, denn der fallende Sand schien wie gezielt nach den Einhörnern geworfen, der Versuch, jener Macht, die das Chaos beherrschte, sie aus der Bahn zu bringen. Wie ein ungezogenes Kind, das mit Steinen nach Vögeln warf.

Die Sieben saßen aufrecht und doch so müde im Sattel, den Blick dem höchsten Turm zugewandt. Sie warteten. Was sich dort oben abspielte, das konnten sie in dem Unwetter, in dem sich die Elemente vermengten, kaum erkennen. Ihre Großmeisterin war dort, und auch dass Cýelú Irísolor, der Held, jener, den Pataghíu ihnen damals als Verstärkung geschickt hatte, zurückgekehrt war, davon wussten sie. Sogar die Gegenwart der beiden camat’ay nahmen sie wahr, aber alles darüber hinaus war undeutlich und vage.

Aber im Süden, da war etwas, etwas, das sie kannten und dem sie schon einmal begegnet waren. Es sammelte sich, wurde von etwas angezogen. So wie damals, als die furchtbare Schlacht getobt hatte und so verheerend geendet war. Jeder der Sieben spürte den entsetzlichen Schmerz und die Trauer, als wäre es erst gestern geschehen, als sei es niemals vorbei gewesen.

Die Kreaturen waren erneut aus dem Chaos ausgebrochen. Wo und weshalb, das spielte jetzt keine Rolle. Die Wesen hatten es auf die Stadt abgesehen; die wilden, ungezügelten Emotionen der Menschen zogen sie an, so wie Wildwölfe einer Blutspur folgen würden. Wie viele mochten es sein? Waren es wenige, die sie mit Leichtigkeit ins Chaos zurücktreiben konnten? Oder hatte sich eine größere Barriere geöffnet, etwas, dem sie nur mit Pataghíus Wunder beikommen konnten?

Arcaval’ay verspürten keine Angst, nicht in dem Sinne, wie es bei Menschen der Fall gewesen wäre. Es war ihre Berufung, der Sinn ihrer Existenz, der Grund, aus dem Pataghíu sie ins Weltenspiel hineingesetzt hatte. Immer waren sie Wächter und Beschützer gewesen, die die südliche Grenze gehütet hatten. Aber jeder von ihnen trug das geheime Entsetzen in sich, das mit ihrem Wesen und Dasein verbunden war.

Obwohl jeder von ihnen allein mit seinem Ross war, teilten sie ihre Gedanken miteinander, waren in diesem Moment nicht mehr die Individuen mit eigenem Willen, als die sie in Ruhezeiten erschienen. Die Sieben waren nun ein Schwarm, wie Hornissen, eine Meute, die die Kreaturen aus dem Chaos hetzen, besiegen und erst dann nach dem Warum fragen würde. Das Warum, das ging sie jetzt nichts an. Das war Sache der Großmeisterin und des Helden, den Pataghíu ihr an die Seite gegeben hatte.

Vielleicht war es diesmal so wichtig, dass auch Noktáma ihren Teil hinzutat. Denn konnte es ein Zufall sein, dass die camat’ay ausgerechnet heute aufgetaucht waren, und mit ihnen der Aufruhr der Elemente?

Diesmal war es anders. Diesen Aufruhr, diesen Irrsinn aus Sturm, Wasser und Sand, den hatte es damals nicht gegeben. Am Tag der großen Schlacht, die so vielen das Leben gekostet und mit der Hatz auf den Verfluchten geendet hatte, hatte liebliches Frühlingswetter geherrscht und die Sonne von einem wolkenlosen Himmel gestrahlt.

Nun aber, nun war Nacht. Und sie alle waren nass vor Regen. Keiner von ihnen hatte in diesen Augenblicken mehr Macht als ein gewöhnlicher Menschenritter. Wenn nicht zumindest der Regen endete, dann würden sie den Monstern mit blankem Schwert und unermesslichem Mut entgegentreten – nicht mit mehr.

Es würde nicht ausreichen. Wenn es zu viele oder zu mächtige Chaosgeister waren, dann hatten sie keine Chance, und die Kreaturen würden über die Stadt und die Menschen herfallen, die zu behüten sie gelobt hatten.

Was war das nur, was dieses Unwetter hergebracht hatte? Eine kuriose Laune der Mächte war es jedenfalls nicht. Hatte es etwas mit den Monstern zu tun? Hatten die Wesen es ausgelöst, oder war es gerade anders herum gewesen? Hatte das irgendeine Bedeutung?

Die Sieben warteten. Sie konnten nichts ausrichten, solange ihnen Elosál nicht gebot, auszuschwärmen, solange sie nicht unter ihrem Schutz in den Kampf zogen. Auch das war damals angewiesen. Einst waren es fünf Feen gewesen, die ihnen ihre Kraft gesendet hatten. Nun war es Elosál allein. Und die fajía musste ihren Schutz teilen. Diesmal war der Junge da, den sie so sehr liebte und beschützen würde. Elosál, das war den Sieben klar, war erpressbar, denn anders als damals war sie eine Mutter geworden. Natürlich war ihr das leibliche Kind näher als die sieben Krieger, die zu nichts anderem da waren als Pataghiu in diesem Weltenspiel zu vertreten.

Die Einhörner, Pataghíus wunderbares Geschenk an seine Diener, waren unruhig. Die Tiere spürten, was ihren Gebietern durch den Kopf ging. Auch sie hatten all das schon einmal erlebt, nur dass sie damals, an jenem schönen Frühlingstag, niemand mit Schlick beworfen und versucht hatte, die aus der Luft zu wischen wie dreiste Fliegen. Je länger sie hier auf ihren Posten waren und warten mussten, desto mehr begann der Regen auch ihnen zuzusetzen. Zwar verloren sie nicht ihre Farben, so wie die Sieben, die kaum noch mehr waren als geisterhaftbleiche Gestalten in goldenen Rüstungen. Die Ritter ließen sich nunmehr nur noch an der Farbe ihrer treuen Rösser unterscheiden. Da die Einhörner selbst nicht magisch waren, widerstanden sie dem Wasser, aber je schwächer der Wille ihrer Herren wurde, desto schwieriger würde es werden, sie zu lenken.

Der von ihnen, der nach Osten, in Richtung der Stadt blicken konnte, sah mit seinen Augen für sie alle, wie die Menschen geradezu aus der Stadt gespült wurden. Aufgeregt liefen sie auseinander, wie eine Schafherde, in die ein Wildwolf eingebrochen war. Der Sturm wehte Angst und beängstigend viel Wut heran. Die, die den Cielástel zum Ziel hatten, wütende Anklagen skandierten und ihre Fäuste schüttelten, die würde die Zugbrücke wohl eine Weile aufhalten, die die Menschen im Stall geschlossen hatten. Aber diejenigen, die in Richtung Wüste strebten, die rannten geradewegs in die große Gefahr. Die würden sie zurückhalten und zum Umkehren bewegen müssen, sobald Elosál sie ziehen ließ.

Wasser, so viel Wasser. Pataghíus Feuer erlosch darin. Und es war nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die faijia es nicht wieder entfachen könnte. Dann wäre das Weltenspiel wohl tatsächlich zu Ende. Das Widerwesen würde sich aus dem Chaos erheben und über das Spielbrett tanzen und trampeln, bis es die letzte Figur umgetreten hatte.

Die arcaval’ay warteten schweigend und schauten hinauf zum Turm. Das Wetterleuchten flackerte wild und grell und zerhackte Hell und Dunkel in ein schwindelerregendes Nebelgrau.

***

Alsgör Emberbey hatte mit seinem Dasein abgeschlossen. Er wunderte sich selbst darüber, wie nüchtern er die Sache betrachtete und wie wenige Einwände er dagegen erhob, angesichts dessen, wo er sich befand und wie er hierhergekommen war. Aber je weiter er allein durch über den Sand durch das diffuse Zwielicht schritt, desto schwerer wurde sein Herz; desto mehr verdichteten sich seine Gedanken zu einem kaum erträglichen Gefühl von Schwermut und Bedauern.

Wenn die Chaosgeister, in welchem Gewand auch immer sie sich zeigten, ihn erneut angriffen, dann würde er sich verteidigen, solange er dazu in der Lage war. Unversehrt davonkommen würde er nicht, aber er würde alles darum geben, diese absurde Zwischenwelt zu verlassen und auf eine natürliche Weise hinter die Träume zu gelangen. Anders als die Unglücklichen, die auf der Suche nach den verlorenen Kindern früher oder später wieder in die Hände der Monster fallen und deren Schicksal teilen würde. Aus dem Chaos heraus führte kein Weg hinter die Träume. Dazwischen lag das Weltenspiel. Es war der Wille der Mächte, dass die Menschen ihre eigene Partie beendeten. So hatte man es ihn gelehrt, in dieser Überzeugung war er aufgewachsen und hatte nach bestem Wissen und Gewissen getan, was ihm auf seinem Weg durch die Sommer und Winter an Aufgaben, Pflichten und Verantwortung begegnet war.

Alsgör Emberbey stapfte verbittert voran und suchte zerstreut nach irgendetwas, irgendeiner Abweichung in der Eintönigkeit, in der gleichförmigen Umgebung, das einen Hinweis auf den Weg zu den nördlichen Grenzen des Chaos geben konnte. Dort, wo der Chaosgeist in den Seemannsgewändern hergekommen war, gab es Wasser, Unmengen an Wasser. Vielleicht würde der Boden unter seinen Füßen noch feuchter und schlickartiger werden, wenn er in die richtige Richtung strebte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Schritte, versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie der Boden im teirandon Spagor beschaffen war, wenn die Ebbe das Wasser vom Strand wegzog. Wie oft hatte er bei den Fischern zu tun gehabt, die ihre Boote warteten, während das Wasser fort war. Wie oft war er durch nassen Sand gewatet.

Die Gedanken des alten Ritters drifteten fort, während er sich auf seine Schritte bedachte. In seiner Heimat, dort, wo er ausgewachsen war, vor der Burg seiner Vorväter, da war von der Ebbe kaum etwas zu bemerken. Das Land sprang dort viel weiter vor, fast bis zu der Wasserlinie, und selbst bei Ebbe war die Bucht zu Füßen seiner Burg voller Wasser, ein natürliches Hafenbecken, das die Seefahrer entlang der Küste hoch geschätzt hatten und dem das yarlmálon Emberbey einigen Reichtum begründete hatte. Die Besuche der Handelsschiffe waren seltener geworden, seit die Stadt Virhavét im Westen erblüht war. Nur selten lag nun noch ein Großmaster dort vor Anker, aber das goldfarbene Lichterspiel der untergehenden Sonne auf dem Wasser, das hatte Pataghíu ihn immer noch gelassen.

Alsgör Emberbey wurde von der Sehnsucht gepackt. Wie sehr wünschte er sich, dieses wunderbare Naturschauspiel noch ein einziges Mal sehen und dann seine Augen schließen zu können. Dieses Verlangen kam so unvorbereitet, so alles andere überlagernd, dass der alte Mann stehen blieb, und um Fassung rang. Es konnte doch nicht angehen, dass er, der mynstir eines teirand, der strenge und verantwortungsvolle, der vernünftige, sich von der sentimentalen Erinnerung von Sonnenstrahlen auf dem Wasser aus seiner Disziplin bringen ließ.

Er wischte unwillig Tränen beiseite und spürte den Schmerz an seiner Hand, dort wo ihn das flüssige Gold versengt hatte. Wütend schritt er weiter, auf Sand, der immer noch viel zu trocken war. Ein Gefühl für die Zeit, die verschritt, für die Entfernung, die er in der Grenzenlosigkeit zurücklegte, hatte er längst nicht mehr.

Nein, so hatte er sich sein Ende nicht vorgestellt. Alsgör Emberbey wusste, dass sich seine Zeit im Weltenspiel dem Ende zuneigte; eine Zeit, die er mit viel zu viel unnützem Zeug verschwendet hatte. Ein Leben, das ihm in seiner Hingabe und Pflichtbewusstsein gegenüber Asgaý von Spagor und seinen Eltern, die ihm die Verantwortung für den jungen teirand aufgebürdet hatten, viel zu schnell und ungenutzt durch die Finger geronnen war. In der Erkenntnis, wie wenig Zeit ihm geblieben war, hatte er versucht, so viel nachzuholen, zu organisieren und zu erzwingen, dass er am Ende alles nur noch schlimmer gemacht hatte.

Dass er wieder weinte, bemerkte der alte Mann gar nicht mehr. Nun dachte er über die Dinge nach, die er nicht mehr hatte regeln können. Wie erleichtert, wie getröstet wäre er gewesen, wenn ein verantwortungsvoller, ein starker und strenger Mann ihm nachgefolgt wäre, ein Sohn, der ein jüngeres Abbild seiner selbst gewesen wäre. Die Hoffnung darauf hatte er nicht aufgegeben, bis zu jenem Tag, an dem seine hýardora mit dem dritten Kind in der Hoffnung gewesen war. Dann hatte ihm die doayra unmissverständlich klar gemacht, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Mutter oder Kind überleben würden, gering wäre.

Alsgör Emberbey hatte sich keine Zeit erlaubt, darüber nachzudenken. An dem Tag, an dem ihm bewusst wurde, dass die Mächte ihm seine yarlara nehmen würden, hatte er die Suche nach der Familie seiner abtrünnigen Schwester begonnen. An dem Tag, an dem seine Kundschafter ihm von jenem Knaben erzählten, der in Rodekliv lebte und zumindest noch Spuren des Blutes der Familie Emberbey in sich hatte, da hatte Herr Alsgör den Mächten auf Knien gedankt und alles Weitere in die Wege geleitet. Das war geregelt, das war ihm wichtig gewesen, denn für einen alten Mann bedeuteten Reisen über Land stetige Gefahren.

Aber Osse? Was würde nun aus Osse werden?

Alsgör Emberbey blieb stehen und vergrub das Gesicht in den Händen. Nun, da er allein war und sich vor niemandem verstellen und rechtfertigen musste, nicht vor dem teirand, Althopian oder einem der anderen yarlay, nicht vor der doayra, seiner hýardora und schon gar nicht vor dem Jungen selbst, fand er endlich die Kraft, es zu erkennen.

„Vergib mir”, wisperte er. „Vergib mir, Junge. Wenn du noch am Leben bist, vergib mir und mach es besser als ich. Verg-“

Weiter kam er nicht. Kaum dass Alsgör Emberbey einen Moment stillhielt, schoss vor ihm etwas aus dem Sand empor wie ein übermütiger, schlanker Eiswal und warf sich auf ihn, noch bevor er nach seinem Schwert greifen konnte. Das Wesen, weiblich und mit einer viel zu weiten Haut auf fleischlosen Knochen, begrub den alten Ritter unter sich und krallte ihre mageren Finger in sein Gesicht. Alsgör Emberbey schrie und trat um sich, bis ihn weitere Hände mit stahlharten oder seltsam glitschigen Gliedern an Händen und Füßen packten und teils am Boden hielten, teils versuchten, ihn entzweizureißen.

Der Ritter wehrte sich nur noch kurz und befahl sich in Schmerz und Schrecken den Mächten, als von irgendwo her eine aufgeregte Stimme sich dazwischen mischte und dem Wesen auf ihm mit einem ungelenken Hieb die Stirn eingeschlagen wurde.