
Jóndere Moréaval hatte Schwierigkeiten, den Worten seiner hýardora zu folgen. Das hatte mehrere Gründe: Die junge Frau war ihm schluchzend um den Hals gefallen, kaum dass er einen Fuß auf den Boden gesetzt hatte, um eilig nachzusehen, wen sein Pferd da um ein Haar unter die Hufe bekommen hätte. Aus dem Redeschwall, der auf ihn einprasselte, heftiger als der sonderbare sanddurchsetzte Regen, drangen vor allem die Worte ‚Tíjnje’, ‚Láas’ und ‚Vater’ hervor. Und immer wieder: Wasser! Wasser!
Moréaval bemühte sich, seine Gedanken zu sortieren, denn er fühlte sich selbst reichlich benommen von seinem rasenden Ritt. Das wirklich seltsame Gewitter, in das er hineingeraten war, kaum dass er die Grenze zu yarl Grootplens Land überquert hatte, der Wind und die Dunkelheit hatten das Reiten auf dem blitzschnellen Pferd nicht einfacher gemacht. Das Ross stapfte derweil seiner eigenen Wege, würde wohl allein in den Stall finden.
Dem Ritter dröhnte der Kopf. Aus dem, was seine Dame ihm da unter hysterischen Tränen anvertraute, erschloss sich ihm nur, dass irgendetwas Schreckliches mit Tíjnje geschehen war. Bei den Mächten, war das kleine Mädchen in den Burggraben gefallen, oder im Badezuber verunglückt? Was redete seine sonst so bedächtige Dame da nur von Wasser und Flut?
„Scht …”, versuchte er, sie zu beschwichtigen. „Ganz ruhig, Geliebte! Was ist geschehen? Was ist mit Tíjnje?”
„Ein großes Unglück, Herr”, verschaffte sich die opayra Gehör. „Weh uns allen! Sie sind im Turm verloren, die Herrschaften!”
„Was?”
„Die Tür ist verschlossen und unbeweglich. Und das Wasser … es klingt, als sei Wasser im Turm.”
„Jóndere!”, schluchzte die Dame auf, „Jóndere, tu etwas! Du musst sie retten!” Ein niederzuckender Blitz unterstrich die Dringlichkeit in ihren Worten. „Verfluchte Zauberei!”, stieß sie hervor.
Moréaval nahm seine hýardora in den Arm. Wie sie zitterte! So verstört hatte er die junge Frau nie zuvor erlebt. Aber solange sie in diesem Zustand war, bekam er wohl nichts aus ihr heraus.
„Ich hole Tíjnje aus dem Turm heraus”, versprach er ihr. „Bestimmt ist die Tür verzogen von dem Regenwetter und …”
„Du verstehst nicht!”, fuhr sie ihn an. „Der Turm ist voller Wasser, wie ein Regenfass! Sie werden alle darin ertrinken!”
„Herrin!”, mahnte die opayra. „Nun macht es nicht schlimmer! Solange die Mächte mit uns sind …”
„Die Mächte sind mir einerlei! Ich will mein Kind!”, fauchte die Dame, die sonst so sanftmütige und besonnene.
Moréaval hatte von alledem nur verstanden, dass das Kind im Turm in Lebensgefahr war. Er ließ sie los und rannte zum Turm hinüber. Was immer da vor sich ging, es war wohl definitiv ein Notfall. Auf der Treppe des Hocheingangs wäre er beinahe ausgeglitten, so rutschig hatte der Sand die Stufen gemacht. Vor der Tür angekommen, konnte er allerdings auch nichts anderes feststellen, als dass die Tür unbeweglich war. Scherben von Dachschindeln ließen darauf schließen, dass etwas das Dach beschädigt hatte, wahrscheinlich ein niederfahrender Blitz oder ein Windstoß.
„Hol sie da raus, Jóndere!”, weinte die Dame. Die opayra gab sich alle Mühe, sie zu beschwichtigen. „Du musst die Tür aufmachen! Das Wasser …”
„Was für Wasser?”
„Horcht an der Tür, Herr! Dann hört Ihr es!”
Er tat, wie ihm geheißen und zuckte zurück. Hinter der Tür klatschten träge Wellen heran. Das konnte nicht sein, aber es klang ganz danach.
„Was ist hier los?”, rief der Ritter der opayra zu, denn aus seiner verstörten Dame würde er nichts herausbekommen. Die hatte sich vor lauter Angst und Sorge nicht einmal gefragt, wo er denn so plötzlich wieder hergekommen war.
„Wir wissen es doch nicht, Herr! Einer nach dem anderen sind sie wohl hier im Turm verschwunden und fort gewesen! Das ist das Werk des Schwarzmantels, ganz gewiss! Mögen die Mächte ihn bestrafen! Möge Noktáma den verdammten Kerl vertilgen!”
„Redet keinen Unfug!”, rief er verärgert. „Holt mir die yarlay her, und Werkzeug! Ein Stemmeisen brauche ich, und …”
„Aber sie sind doch da drinnen!”, entfuhr es der yarlara. „Alle sind sie da drinnen und kommen nicht heraus und antworten nicht!”
„Wer sind alle?”
„Alle eben! Die yarlay! Der teirand und die teiranda! Und die Kinder mit ihnen!”
„Mögen die Mächte uns beistehen!”, jammerte nun auch die opayra. „Ach, hätte ich die Mädchen doch nicht aus den Augen gelassen!”
Moréaval runzelte verwirrt die Stirn. Was war das für eine seltsame Geschichte?
„Hol sie da heraus, Jóndere! Sie kann doch nicht schwimmen!”
Er folgte dem Angstruf seiner hýardora, indem er Anlauf nahm und sich gegen die Tür warf. Aber er beließ es bei diesem einen Versuch. Er würde nicht mehr damit erreichen, als sich die Schulter zu brechen.
„Holt ein paar starke Männer”, wies er die beiden Frauen gegen das Gewittergrollen an. „Mit passendem Werkzeug! Was sind die alle in der Halle versammelt, wenn es hier nottut?”
„Aber Herr …”
„Augenblicklich! Und wenn wir den Turm einreißen müssen!”
Die opayra lief los, so schnell ihre alten Beine sie trugen. Die yarlara blieb einen kurzen Moment ratlos stehen und kam dann langsam zu ihm die Treppe empor.
„Du holst Tíjnje, Láas und die anderen doch da heraus, nicht wahr?”, fragte sie, nun fast kleinlaut und furchtsam.
„Das verspreche ich dir, Geliebte! Aber wie sind sie denn alle nur dort hinein geraten? Und was verschließt diese Tür?”
Sie senkte den Kopf. Er neigte seine Stirn tröstend an die ihre.
„Etwas … Falsches”, murmelte sie. „Erst hat es sich die Kinder geholt. Und dann alle anderen.”
Der Ritter schauderte. Möglicherweise wäre auch er nun in diesem verschlossenen Turm verschollen, wenn er sich nicht abseits der Burg aufgehalten hätte. Wenn ihn nicht die Blumensamen in die Irre geführt und vom Heimweg abgehalten hätten. Die Blumensamen, mit denen Tíjnje ihre eigene Gärtnerei beginnen sollte. Diese Samen waren Beweis genug, dass die Damen den Schattensänger zu Unrecht verfluchten. Aber was war tatsächlich geschehen? Er legte tröstend beide Arme um die junge Frau und drückte sie an sich.
„Wir überwinden diese Tür”, sagte er. „Mach dir keine Sorgen. Schau, selbst wenn der Keller voller Wasser ist, werden sie über die Treppe bis weit nach oben geklettert sein. Sie sind in Sicherheit. Wäre der Turm gänzlich gefüllt, dann würde er überlaufen. Ach nein: Er könnte gar nicht überlaufen. Das Wasser müsste längst durch die Fensterscharten strömen. Es kann nicht so hoch steigen, ohne zuvor abzufließen!”
„Aber warum antworten sie nicht?”
„Wahrscheinlich hören sie uns nicht, wenn wir hier unten klopfen und drinnen das Wasser brandet.”
„Und wo kommt das Wasser her?”
Ja, in der Tat, woher? Das war ein noch viel größeres Rätsel als die verschlossene Tür. Moréaval fiel nichts Sinnvolleres ein, als dass sich just im Keller aus irgendeinem Grund eine Quelle Bahn gebrochen hatte. Das war lächerlich, aber der Gedanke behagte ihm mehr als die Alternative, nämlich dass etwas Ungeheuerliches geschehen war. „Nur ruhig, Geliebte. Hab Vertrauen!”
„Vertrauen? Worauf?”
Nun, das wusste er auch nicht so genau. Aber das musste sie nicht wissen. Es galt nur, sie abzulenken, bis die Männer mit dem Werkzeug da waren. Behutsam zog er sie an sich.
„Es wird alles gut”, versprach er. „Il ay’ra.“
***
Der Hieb, den der Chaosgeist vor den Kopf bekommen hatte, hatte das Wesen so überraschend bei seinem Versuch getroffen, Alsgör Emberbey zu erwürgen, dass er sich dem Angreifer zuwandte. Von seiner Stirn tropfte etwas, das nach verschimmelter Grütze aussah und Emberbeys Magen umdrehte.
Osse stolperte einen Schritt zurück und hielt das Brett abwehrend vor sich, mit dem er zugeschlagen hatte. Die Kreatur schien einen Augenblick lang in Erwägung zu ziehen, ob es sich lohnte, den Knaben zu verfolgen. Dann wuchtete sie sich hoch und wankte dem Kind nach.
Wie auf ein Zeichen hin ließen die beiden anderen Kreaturen von dem alten Ritter ab und taumelten dem ersten Wesen nach. Alsgör Emberbey sah das alles wie durch einen Schleier. Er spürte sein Herz schmerzhaft in seiner Brust und rang nach Luft. Er konnte sein Blut in den Ohren pochen hören.
„Osse?”, ächzte er irritiert und versuchte, sich aufzuraffen.
„Nicht!”, rief Osse, seine Stimme kiekste vor Panik. „Bleib zurück! Lass mich das machen!”
Der alte Mann sank zurück in den Sand. Eines der Wesen schaute sich nach ihm um, zögerte und entschied sich dann, doch lieber dem Kind mit seiner lächerlichen Waffe zu folgen. Osse ging Schritt um Schritt rückwärts, sein einer Arm schien merkwürdig kraftlos. War er an der Schulter verletzt?
„Osse!”, rief der alte Emberbey. „Osse, wie …”
Und da war sein linkischer, ungeschickter Sohn auch schon über seine eigenen Füße gestolpert, stürzte auf den Rücken und lag da, hilflos wie eine Panzerkröte. Die Kreaturen schwärmten aus, um ihn von allen Seiten zu packen.
„Osse!” Alsgör Emberbey rappelte sich hastig auf und taumelte voran. „Osse!”
Da lag er, sein Junge, sein Erbe, sein Fleisch und Blut, zu Fall gebracht von seiner eigenen Tollpatschigkeit, und er hatte nichts anderes, um sich zu verteidigen, als ein Brett! Emberbey zog sein Schwert. Nein, die Monster sollten den Jungen nicht haben! Nicht, wenn es einen den Mächten gefälligen Weg hinter die Träume gab. Die erste Kreatur hatte ihn fast erreicht. Osse packte sein Brett abwehrend mit beiden Händen, und …
… aus dem diffusen Nebel heraus schnellte eine Eisenkugel, versenkte sich etwa dort, wo der Bauch der Kreatur sein mochte, und warf sie zu Boden. Merrit Althopian sprang mit einem für ein Kind geradezu bizarr bedrohlichen Kampfruf heran, riss seine Waffe mitsamt etwas glibberiger Masse, die zu den Gedärmen der Kreatur gehört haben mochten, aus dieser heraus und zerschmetterte in derselben Bewegung der anderen das dürre und mürbe Schienbein. Mit einem überraschten Laut ging das Wesen in die Knie.
Emberbey erstarrte erschrocken. Dieser Knabe kämpfte mit der Wut eines Bären, der Anmut einer Katze und der Furchtlosigkeit eines Wahnsinnigen.
Osse, gerade noch unbeweglich und augenscheinlich angsterstarrt, warf sich behände auf die Seite. Sein Brett fuhr dem dritten Wesen zwischen die Füße und brachte es zu Fall.
Die teirandanja sprang graziös über den Sand wie ein Lamm und schmetterte dem Ding etwas gegen den Kopf, das aussah wie ein Stück rotes Glas.
Das vierte Wesen zögerte nicht lange. Es drehte sich um und tauchte dann mit einem Satz in den Sand hinein und verschwand. Die drei anderen taten es ihm nach. Sie krochen, so schnell sie es in ihrem verletzten und benommenen Zustand fertig brachten, hastig von den Kindern weg und gruben sich ein, schneller, als eine Maus in ihrem Loch verschwindet.
Alsgör Emberbey stand, ebenso schmerzerfüllt wie verwirrt, mit blanker Waffe da und brachte kein Wort heraus.
Osse stemmte sich hoch, nahm sein Brett zur Hilfe. Offenbar war er tatsächlich verletzt. Der andere Junge betrachtete angeekelt das, was an dem altmodischen rostigen Streitflegel hängengeblieben war. Wo er den hergenommen hatte, mochten die Mächte allein wissen.
„Osse!”, wisperte der alte Mann. Der Junge senkte den Blick vor ihm.
„Vater? Bist du unverletzt?”
Der alte Mann nickte stumm. Ihm fiel nichts ein, was der Situation angemessen gewesen wäre.
Bei den Mächten, dachte Emberbey verstört, er hat versucht, ein Monster zu erschlagen. Mit einem morschen Brett! Mein Sohn hat mit einem Brett einen Chaosgeist angegriffen!
„Wo kommt ihr her?”, fragte er, um der Verlegenheit zu entgehen.
„Der Turm ist eingestürzt, Vater”, sagte der Junge ernst. „Dann waren wir plötzlich hier.”
Die teirandanja hatte ihr Wurfgeschoss aufgehoben, ein Ding, das aussah wie ein faustgroßer Karfunkel. Der andere Junge, der Sohn von Althopian, der, der schon jetzt ein scharfer Kämpfer war, der es mit Ungeheuern aufnahm, versuchte beiläufig, sein ramponiertes Streitzeug im Sand zu säubern.
„Das war ein hervorragender Wurf, Majestät”, lobte er dabei artig das Mädchen.
Manjév von Wijdlant und Spagor sah alles andere als hoheitlich aus. Ihr Haar war zerrauft, ihr kostbares Kleid zerrissen, und sie hatte nur noch einen Schuh am Fuß. Für ein kleines Mädchen, das Monstern in die Augen gesehen hatte, wirkte sie bemerkenswert gefasst. „Manchmal”, gestand sie, „wenn es geschneit hat, werfen Jándris und Láas und ich uns mit Schneebällen. Wenn niemand zuschaut.”
Der Schreck und der Schmerz, den der alte Mann gerade noch verspürt hatte, verebbten ein wenig. So absurd erschien ihm die Situation, dass er den Angriff der Chaoswesen auf ihn selbst schon kaum noch als etwas sah, das ihm tatsächlich leibhaftig zugestoßen war. Das alles musste ein Fiebertraum sein.
„Osse?”
Aber der Junge schwieg verlegen. Hinter seinen Brillengläsern wich sein Blick dem des Vaters aus. Auch er war zerrauft und seine Kleidung unordentlich. Unter seinem Gürtel klemmte etwas Handtellergroßes aus Holz fest.
„Merrit Althopian”, sagte Emberbey, denn aus seinem Sohn war wohl nichts herauszuholen, „erklär du es mir besser. Wieso seid ihr hier?”
„Es war der Fußboden, Herr Alsgör. Es war immer und immer mehr Sand im Raum, und irgendwann brach der Boden durch.”
„Ja, aber wie habt ihr mich in dieser Unendlichkeit gefunden?”
„Wir sind einfach Osse nachgegangen, Herr Alsgör.”
„Wie konntest du mich finden?”, fragte der yarl eindringlich. „Was hat dich geleitet?”
„Ich weiß nicht”, sagte Osse ehrlich. „Ich bin einfach losgelaufen. Ich wollte dich finden.”
„Wie konntest du wissen, dass ich überhaupt hier bin?”
Der Junge zuckte die Schulter. Die andere konnte er wohl tatsächlich kaum bewegen. „Ich hatte mir gedacht, dass du mit den anderen gegangen bist. Das ist doch deine Pflicht, nicht wahr?”
Alsgör kniff ertappt die Lippen zusammen. Osse war so arglos.
„Wir haben es gehofft, Herr Alsgör”, erklärte die teirandanja. „Weil … ich habe meine Eltern gehört, und Merrit seinen Vater. Ihr und Herr Waýreth … Ihr hättet meinen Vater doch nicht allein gelassen, oder?”
Emberbey senkte den Blick. „Sie sind alle hier. Auch Altabete und Grootplen und ihre Söhne.”
„Und Tíjnje? Tíjnje etwa auch?”
Emberbey nickte.
„Oh nein!” Die teirandanja schaute sich nach den beiden Knaben um. „Wie konnte denn nur Tíjnje in den Turm gelangen? Wieso hast du ihr das erlaubt, Osse?”
„Sie wollte unbedingt mitkommen, Majestät. Wir sind alle zusammen gegangen.”
„Dann lasst uns schnell weiter. Wir müssen die anderen finden! Tijnje ist doch noch viel zu klein für solche Sachen.” Sie umfasste fest den roten Stein, zögerte und fragte dann: „Wieso seid Ihr eigentlich nicht bei den anderen, Herr Alsgör?”
„Ich habe …” Er zögerte. Sollte er es gestehen? „ … einen Ausweg gesucht.”
„Herr Alsgör, wisst Ihr, wo wir hier sind?”
„Möglicherweise ist dies hier ein Teil des Chaos. Es erscheint uns am wahrscheinlichsten.”
„Und diese Wesen?”
„Offenbar haben die báchorkoray doch nicht nur unsinnige Märchen erzählt. Möglicherweise steckt so viel Wahrheit darin, dass es mindere Chaosgeister sind.”
„Davon hat Jándris erzählt, um mir und Tíjnje Angst zu machen.” Die teirandanja hinterfragte die Sache nicht, was Emberbey mit Erleichterung hinnahm. So musste er nicht versuchen, den Kindern den Wahnsinn auszureden. Es war ohnehin beängstigend, dass die drei nicht in Panik gerieten. Ob es nicht ihre erste Begegnung mit den Kreaturen war?
„Wir dürfen nicht zu lange stehenbleiben”, sagte Merrit Althopian. „Die Wesen sind wie hungrige Fische. Sie kommen aus dem Wasser zusammen, als ob sie Brotkrumen wittern. Wir können sie nicht besiegen, immer nur kurz verscheuchen.”
„Wohin wolltest du, um einen Ausgang zu finden?”, fragte Osse plötzlich. „Und warum alleine?”
Alsgör zögerte. Plötzlich erschien es ihm feige und selbstsüchtig, sich auf den korrekten, den von den Mächten gewollten Weg hinter die Träume gemacht zu haben, während die anderen beisammen geblieben waren, um nach den Kindern zu suchen. Nun hatten die Mächte ausgerechnet ihn die Kinder finden lassen, die Tochter seines Herrn, den Sohn desjenigen, den er als seinen Freund gelten ließ. Die Mächte wollten es offensichtlich nicht. Sie wollten den alten Alsgör Emberbey, den mit dem verpfuschten Leben, noch nicht gehen und seinem Dienst entsagen lassen. Nun hatte er die Verantwortung. Er musste die Kinder zurück zu ihren Eltern bringen.
Osse hatte dazu gar nichts gesagt. Er wartete.
Er hat mir das Leben gerettet, dachte Emberbey. Zumindest das, was hier als Leben gilt. Er hat mehr Mut bewiesen, als ich ihm zugetraut habe.
„Ich wollte … vorangehen”, erklärte der Ritter unbestimmt. „Einen Ausweg suchen.”
„Wir wissen, dass es einen Weg geben muss, Vater. Die Mächte haben uns ein Zeichen gegeben.”
Er zog hervor, was er unter seinen Gürtel geklemmt bei sich führte. Alsgör Emberbey staunte nicht schlecht, als er nun erkannte, dass es sich um ein Stück Baumrinde handelte. Dazu gehörten ein Stöckchen und ein großes, lederiges Blatt, das Osse davon abgenommen hatte, um es besser transportieren zu können, und unter seinem Hemd verwahrt hatte.
„Irgendwo außerhalb von diesem Ort”, sagte sein Sohn, „hat ein Kind damit gespielt. Vermutlich an einem Gewässer. Vielleicht hat ein Fluss es hierher gebracht.”
„Wenn wir diesen Fluss finden”, schloss sich Merrit Althopian an, „finden wir vielleicht einen Weg zurück in die Welt.”
„Das ist … eine schöne Idee”, sagte Emberbey so taktvoll, wie er es angesichts solchen Unfugs sein konnte. Andererseits … warum sollte er den Kindern diesen unschuldigen Einfall ausreden?
„Ich kann gut schwimmen”, behauptete der Junge. „Und lange tauchen. Ich kann schon fünf markierte Steine vom Grund des Weihers holen, ohne Luft holen zu müssen.”
„Ich kann auch schwimmen”, fügte die teirandanja hinzu. „Mein Vater hat es mir daheim am Meer beigebracht. Er sagt, das muss man können, damit man nicht sofort ertrinkt, wenn der Sturm wieder einmal ein Schiff umkippt.”
Alsgör Emberbey wusste, dass Osse nicht schwimmen konnte. Er hatte es nicht für nötig gehalten, es ihm beibringen zu lassen. Wozu auch? Und trotzdem war sein Sohn bei seiner Herrin und seinem ungleichen Freund geblieben.
„Was ist mit deiner Schulter, Osse?”, fragte er.
„Ein Chaosgeist wollte mir den Arm ausreißen”, antwortete der Junge beiläufig. „Aber ich glaube, Isan kann es daheim wieder heil machen. Und wenn nicht … es ist der linke Arm. Ich werde immer noch eine Feder halten können, Vater. Das reicht doch aus für einen maedlor, oder?”
Also doch. Die Kinder waren den Chaosgeistern bereits zuvor einmal entkommen.
„Kommt”, sagte Alsgör Emberbey fahrig. „Majestät, geht nun Ihr voran. Vielleicht ist es der Wille der Mächte, dass Ihr den Weg zu Tíjnje Moréaval findet.”
„Und zu Jándris Altabete und Láas Grootplen”, fügte Merrit Althopian mit gespenstischer Erwartung hinzu. „Ich habe mit beiden etwas zu regeln.”
Manjév von Wijdlant und Spagor setzte sich so würdevoll in Bewegung, wie es mit nur einem Schuh und zerrissenem Röckchen möglich war. Der junge Althopian hielt seinen rostigen Streitflegel griffbereit und folgte ihr auf dem Fuße, so, wie er es einmal in der Zukunft als ihr persönlicher Leibwächter hätte tun sollen, wäre es nach dem Willen des teirand gegangen. Osse packte sein Brett und streckte die Hand aus. Emberbey gab ihm das mysteriöse Kinderspielzeug zurück. Der Junge steckte es wieder unter seinen Gürtel und folgte seiner jungen Herrin; wandte sich aber um, als er bemerkte, dass der alte Ritter ihnen nicht folgte.
„Komm, Vater! Die teiranday werden froh sein, dass du uns gefunden hast! Die Chaosgeister kommen vielleicht zurück, wenn du lange hier stehen bleibst.”
Alsgör Emberbey zögerte. Dann ging er dem Jungen nach, bis er wieder an dessen Seite schritt. „Osse?”
„Ja, Vater?”
Der alte Ritter zögerte. „Danke”, sagte er dann leise.
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