Den Männern, die Jóndere Moréaval um sich geschart hatte, um den Turm ihrer eigenen Burg zu stürmen, war die Sache schon nach wenigen beherzten Axthieben nicht mehr geheuer. Dass im Turm Wasser aufgestiegen war, das konnten sie alle hören. Nachdem sie begriffen hatten, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alle Edlen von Wijdlant und Spagor mitsamt ihren Kindern darinnen eingeschlossen waren, da waren hatten sie ihre Furcht vor dem ungeheuren Sandsturm vergessen, der sich in das Gewitter gemischt hatte. Das Burgvolk, die Knechte, die mit großer Körperkraft versehen waren, der Schmied, der Steinmetz, der Zimmerer, jeder von ihnen hatte auf die Tür eingeprügelt, bis Moréaval ihren Anstrengungen ein Ende setzte.

„Genug”, befahl der Ritter. „Es hat keinen Sinn.”

„Keinen Sinn?”, knurrte der Schmied. „Die Herrin und ihr Gefolge sind da drin!”

„Es hilft ihnen nicht, wenn wir alles Werkzeug zerschlagen! Wir müssen etwas anderes versuchen!”

Das war ihnen einsichtig. Moréaval selbst war ihnen als Vorbild vorangegangen und hatte an der alten Turmtür eine Axt zerschmettert. Deren Blatt war entzwei gesprungen und hatte im Wegfliegen um ein Haar den mestar getroffen, der mit besorgter Miene zu nahe bei ihnen auf der Außentreppe stand.

Moréaval seufzte unwillig. Da standen sie, die Schutzbefohlenen, die Bewohner der Burg von Wijdlant, vom Greis bis zum Kind, mutmaßlich vollzählig, und schauten zu ihm und seinen Helfern hinauf. Dem Flackern des Wetterleuchtens schienen die zahlreichen Laternen entgegen, die sie mit hinaus gebracht hatten, denn offenes Feuer wurde sofort von Regen und dem hinab tropfenden Sand erstickt. Der Ritter fühlte sich wie auf einer Bühne, während die Leute zum Hocheingang aufblickten. Auf ihre Weise erwarteten sie tatsächlich, dass er ihnen etwas vortrug.

„Es ist ein Fluch”, wisperte der Steinmetz. „Die Tür ist verzaubert.”

„Der Schwarzmantel muss es getan haben”, stimmte unabhängig davon eine Stimme aus der Menge hervor. „Es soll einer in der Burg gewesen sein!”

„Bei den Mächten! Vielleicht haben die teiranday seinen Zorn geweckt, und das ist seine Rache!”

Diese Möglichkeit diskutierten die Leute mit aufgeregtem Gemurmel, das so sehr anschwoll, dass es das Sandplatschen übertönte. Ab und zu tauchten einzelne Stimmen an die Oberfläche des Raunens, die entweder den Schattensänger verfluchten oder die Mächte um Beistand anriefen.

„Still!”, rief Moréaval verärgert. „Seid ihr toll geworden? Warum sollte der Schattensänger all die Leute in dem Turm einsperren?”

„Unheil und Verderben! Von den Schwarzmänteln ist nie Gutes gekommen!”, behauptete der Steinmetz, und der mestar nickte beipflichtend.

„Unsinn! Ich selbst kehre gerade aus dem Boscargén zurück! Die teiranda hatte mich persönlich dorthin ausgesandt! Meister Yalomiro hat mit keiner Silbe erwähnt, dass ihn hier irgendetwas verärgert hätte!”

„Warum sollte er auch?”, knurrte der Schmied. „Der hat Angst vor Euch, Herr!”

„Was?”

„In Furcht ducken soll er sich vor dem tapferen yarl, der uns beschützen wird!”

Nun erklangen einzelne und dann immer mehr Hochrufe aus der Menge, die ihn wohl motivieren sollten. Moréaval winkte den optimistischen Jubel ab, bis er verstummte. Die Leute waren offensichtlich völlig durcheinander. Nun, ein Wunder war das nicht.

„Zeigt mir einen Mann mit Schwert und Lanze”, rief er ihnen zu, „den besiege ich euch. Aber das da, das ist eine Tür, an der Äxte zerschellen! Was soll ich da tun?”

„Besiegt den Schwarzmantel! Der hat die Tür verschlossen!”

„Das ist Unfug!”

„Ihr könnt nicht leugnen, dass das hier Zauberei ist”, beharrte einer aus der Menge.

„Natürlich nicht. Aber wie sie an diese Tür gekommen ist, das muss und werde ich klären. Später. Erst will ich meine Tochter wieder in Armen halten!” Moréaval wandte sich brüsk von der murrenden Menge ab und starrte hilflos die Tür an.

„Feuer”, entschied er dann. „Wir versuchen, sie wegzubrennen.”

„Dazu”, mischte sich der Zimmerer ein, „ist das Holz zu nass. Da brennt so schnell nichts.”

„Hast du eine bessere Idee?”, schnappte der Ritter gereizt.

„Vielleicht kann man sie auframmen”, meldete sich laut ein Bursche aus der Menge, aber der, der neben ihm stand, knuffte ihn tadelnd vor den Arm.

„Blödsinn. Wie sollen die denn da oben Anlauf nehmen?”

Moréaval streifte den Sand fort, der sich auf seinem Kopf und Schultern ansammelte. Exakt das war der Sinn eines Hocheingangs – dass man mit einem Rammbock kaum heran kam.

„Ich reite zurück”, beschloss er dann. „Es hilft wohl nichts anderes. Jemand muss den Schattensänger herholen. Nur der kann uns helfen.”

„Aber das dauert Tage! Bis dahin halten die Herrschaften nicht durch.”

„Und die Kinder schon gar nicht!”

„Vielleicht steigt das Wasser weiter und sie ertrinken im Turm!”

„Die Mächte zürnen uns!”, geriet jemand in den hinteren Reihen in Panik. „Schaut doch nur! Es fällt Erde vom Himmel!”

„Jemand rüttelt am Weltenspiel, und alles stürzt um!”

„Es ist kein Zufall”, gab der mestar zu bedenken. „Der Regen zog heute früh auf. Da fiel noch Wasser, so wie es sein soll, und die yarlay und teiranday waren noch da.”

„Es ist nur ein Gewitter!”, rief der yarl beschwörend. „Irgendwo wird ein Wirbelsturm Sand empor gerissen und mit den Wolken vermengt haben.”

„Das”, sagte der alte Mann voller unanfechtbarer Überzeugung, „ist unmöglich. Kein forscor hat jemals ein solches Phänomen beschrieben.”

Moréaval runzelte finster die Stirn. Der mestar verneigte sich, noch bevor er aus Gewohnheit den jungen Ritter ob seiner Unwissenheit rügen konnte. Das Stimmengewirr wurde immer lauter und eindringlicher. Sie erwarteten eine Entscheidung, eine Anweisung von ihm, dem einzigen yarl vor Ort. Vielleicht hätten sie ihn schon beiseite gedrängt, wenn einer eine bessere Idee gehabt hätte.

„Schluss jetzt!”, rief Moréaval aus. „Ihr seid nicht hilfreich! Geht hinein! Bittet die Mächte um eine gute Idee, vielleicht nützt das! Oder vielleicht ist jemand hier beherzt genug, statt meiner in den Boscargén aufzubrechen, egal, wie lange es dauert? Es wäre besser als nichts!”

Damit brachte er sie zum Schweigen. Sich überschwänglich für eine Mission im düsteren Wald der unheimlichen Schwarzmäntel melden wollte sich niemand.

Irgendwo begann, ein kleines Kind zu weinen, dem die ganze Sache wohl auch zu unbehaglich wurde. Moréaval konnte das gut nachfühlen.

„Geht hinein”, bat er, nun wesentlich sanfter. „Es ist niemandem geholfen, wenn ihr hier in diesem Unwetter steht und zuschaut. Wer eine Idee hat, mag vortreten. Ich werde alles ausprobieren, was Erfolg verspricht. Aber ich bitte euch, bewahrt die Ruhe. Was immer diese Tür geschlossen hält, es ist zumindest kein böswilliges Zauberwerk des Schattensängers. Dafür verbürge ich mich euch!”

„Vielleicht hat er Euch getäuscht!”, rief jemand. „Ihr müsst handeln!”

„Bei den Mächten!” Moréaval lehnte sich über das Geländer, am äußersten Rande seiner Geduld. „Meine Tochter ist da drinnen! Denkt ihr nicht, das wäre mir Antrieb genug?”

Er bezweifelte, dass er sie damit überzeugt hatte. Aber tatsächlich zog sich der größere Teil des Burgvolks in die Halle zurück. Nur eine Handvoll Leute harrte aus, die Moréaval zum Großteil für Schaulustige hielt. Sogar der Schmied und der Zimmerer legten ihre noch unbeschädigten Werkzeuge ab und trollten sich murmelnd. In der Halle war es zumindest trocken und warm.

Moréaval legte die Hände auf die Tür und lehnte die Stirn dagegen. „Tíjnje”, flüsterte er. „Halt durch, mein Kind. Papa holt dich da raus!”

„Vielleicht könnte man durch die Mauer?”, meldete der Steinmetz sich schüchtern. Der Ritter zuckte zusammen.

„Was?”

„Wir könnten versuchen, die Steine aufzuschlagen.”

„Wir haben nicht die Zeit, uns durch die Wand zu knabbern wie die Mäuse. Du weißt selbst, wie dick die Mauer hier am Fuß ist.”

„Nun, es geht vielleicht schneller als dass jemand mit dem Magier wieder hier wäre.”

Moréaval überlegte einen Moment. Nun, es war die sinnvollste Möglichkeit, die sich vorerst bot. Und sie würde die Leute beschäftigt halten.

„Fang an”, gebot er und klopfte dem Mann auf die Schulter. „Ich schicke dir Helfer heraus.”

Dann stieg er die Treppe hinab, dicht gefolgt vom mestar. Seine yarlara und die opayra hatten unten gewartet und schlossen sich ihm an.

„Es sieht nicht gut aus, nicht wahr?”, fragte die Dame leise.

„Sicher haben sie längst versucht, die Tür von innen aufzubrechen. Wenn dein Vater es nicht geschafft hat, Geliebte …”

„Wollt Ihr Euch nicht wenigstens stärken und erfrischen, Herr?”, erkundigte die opayra sich besorgt. „Ihr müsst völlig erschöpft sein, nach der weitern Reise und dem Ritt …”

Er schüttelte den Kopf. „Wozu? Ich werde hier draußen doch sofort wieder schmutzig und nass.”

„Lasst Euch wenigstens das Eisenzeug abnehmen”, empfahl der mestar. „Das braucht Ihr gerade nicht. Und etwas essen und trinken solltet Ihr auch.”

„Ja”, stimmte die opayra zu. „Es ist den Herrschaften nicht geholfen, wenn Ihr jetzt ermattet.”

„Vergesst nicht, solange die teiranday und die yarlay abwesend sind, habt Ihr die Gewalt über Wijdlant. Ihr müsst besonnen sein!”

Sie meinten es nur gut mit ihren Ratschlägen, das wusste er. Doch all das brauchte er im Augenblick nicht. Um die opayra loszuwerden, bat er sie, ihm in der Küche eine Mahlzeit zu besorgen. Dass die Edeldame gegen eine solch profane Aufgabe nicht protestierte, bewies ihm, wie besorgt sie war. Den mestar schickte er los, in der Halle von Tisch zu Tisch zu gehen und Helfer für den eifrigen Steinmetz zu werben. Er selbst stieg müde die Treppe zu seinem Gemach auf. Die yarlara folgte ihm schweigend, stellte ihre Laterne ab und nahm Licht für die Lampen im Raum. Dann schloss sie die Tür hinter ihnen und machte sich dann still daran, ihm die Schnallen seiner Ausrüstung zu lösen.

„Danke”, sagte er. „Überall ist mir der Sand hingeraten und schmirgelt mir die Haut ab.”

„Du solltest ein Bad nehmen”, riet sie leise. „Ich lasse jemanden Wasser anheizen, Liebster.”

„Vielleicht später. Nun ist das andere wichtiger. Ich mag die Männer nicht unbeaufsichtigt lange an der Mauer herumklopfen lassen.” Er ließ sich am Tisch nieder und sein Blick fiel auf Tíjnjes Bettchen. Um diese Zeit hätte das kleine Mädchen darin liegen und von hübschen unschuldigen Dingen träumen sollen. Eine Puppe aus einem mit Sägespänen gefülltem Stoffbalg mit Wollehaaren saß brav auf dem Kissen und erwartete die Rückkehr ihrer kleinen Besitzerin. Ein etwas zu großer Kranz von Blümchen hing dem Spielzeug schief auf dem Kopf.

Moréavals Augen verengten sich. Die Blumen sahen frisch aus, so als seien sie gerade erst aufgeblüht. Das war seltsam und erinnerte ihn an etwas. Er öffnete seine Gürteltasche und holte die Tücher hervor.

„Der Schattensänger”, erzählte er nachdenklich und faltete das eine auseinander, „hat mir Geschenke für euch mitgegeben. Hast du eine Dose oder ein Kistchen?”

„Was ist das?” Die Dame kam näher, brachte ihm das gewünschte und betrachtete verwirrt die feinen Krümel, die er sorgfältig in den Behälter füllte, damit sie nicht verloren gingen.

„Blumensamen. Offenbar hat er von einem Zeitvertreib erfahren, von dem Tíjnje uns bislang nichts erzählt hat.”

Sie lächelte kummervoll. „Tíjnje ist dem Magier zusammen mit der teirandanja begegnet. Sie war sehr beeindruckt. Ich weiß nicht, ob das alles recht ist.”

„Für dich gibt es auch etwas.” Er gab ihr das zweite Tuch in die Hand und hielt ihre Finger dabei etwas länger fest als nötig. Sie schaute ihm in die Augen und berührte dann seine Stirn mit der ihren. Der Sand auf beider Haut störte die vertraute Zärtlichkeit, und so lösten sie sich wieder voneinander und sie wickelte die Gabe aus. Schweigend betrachtete sie den kleinen Opal, der im Schein der Öllampe ein warmes, vielfarbiges Funkeln versprühte.

„Bei den Mächten”, wisperte sie schließlich. „Wie wunderschön.”

„Es ist nicht nur ein Kleinod”, erklärte er. „Er hat dazu ein Märchen erzählt, von einem darin gefangenen Wunsch.”

Moréaval begann seinen Bericht über alles, an das er sich erinnerte. Mit jedem Wort, das er sprach, wuchs seine Verwirrung und die yarlara wurde bleicher und bleicher vor Staunen. Sogar die opayra, die mit einer Schale Eintopf und einem Brot hinzu kam und nur einen Teil der Geschichte mithörte, schien erschüttert.

„Bei den Mächten”, sagte die alte Dame. „Das wäre ja die Rettung!”

„Ihr meint, ich … ich muss mir einfach nur wünschen, dass die Tür aufgeht?”, fragte die yarlara. „So … so einfach?”

„Nicht zu voreilig”, mahnte Moréaval. „Lasst uns den mestar befragen, damit wir bloß nichts Falsches machen. Wenn es ausgesprochen werden muss, ist sicher von Belang, wie es formuliert wird.”

„Ja”, sagte sie leise. „Wie in dem Märchen von dem dummen maedlor und seinem klugen Knecht, das Tíjnje so gern hört.”

„Ich hole ihn her”, rief die opayra aufgeregt und schon war sie davon, mit einer Leichtfüßigkeit, die man ihr kaum zutraute. Die beiden ließen sie laufen. Das, was ihnen durch den Kopf ging, war wichtiger.

„Weißt du, was das bedeutet?”, fragte Moréaval leise.

„Was? Dass, wenn der Magier die Wahrheit sagt, wir mit einem Wunsch, mit einem Wink die Not beenden können, die so ausweglos schien? Es ist ein Wunder! Eine Gnade der Mächte!”

„Nein”, sagte Moréaval nachdenklich, erhob sich und nahm Tíjnjes blumengeschmücktes Püppchen an sich. „Es heißt, dass der Schwarzmantel wusste, was hier passiert ist.”

***

„Du solltest uns in das Schulzimmer führen”, schimpfte ich. „Das hat mein hýardor nicht zum Spaß gesagt!”

„Ich weiß”, antwortete Advon Irísolor ungeduldig. „Aber wenn wir von hier weg gehen, dann erfahren wir nicht, was passiert.”

„Wir müssen nicht immer alles wissen!”

„Ich lasse meine Mama nicht allein!”

„Wenn wir nicht … was?”

Der kleine Junge hatte sich auf dem Thron niedergelassen, auf dem üblicherweise wohl sein Vater saß. Wie alles andere im Cielástel hatte sich der zuvor so beeindruckende kristallene Sessel in trübmattes, farbloses Glas verwandelt. Der vorhin noch so farbenprächtige, schwerelos wirkende Saal hatte allen Glanz verloren. Es war einfach alles durchsichtig und leicht eingetrübt. Nur aus unmittelbarer Nähe konnte ich noch die Konturen von Wänden, Türen und der Estrade mit den beiden Thronen erkennen. Alles verschwamm mit dem Unwetter. Zumindest fiel einem hier kein Sand mehr auf den Kopf.

Dýamirée bückte sich und hob das Stofftier auf, das mir vorhin aus der Hand gefallen war. Sie schien sich nicht zu wundern, dass es hier war. Dann kletterte sie unbefangen auf Elosáls Thron.

„Dýamirée!”, entsetzte ich mich.

„Ist schon gut, Mama. Das ist nur ein Sessel aus Glas.” Sie rutschte prüfend hin und her. „Rutschig”, sagte sie dann. „Warum hat deine Mama kein Kissen, Advon?”

„Sie braucht keines.” Er hatte die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen. Bei näherer Betrachtung wirkte er so traurig und müde, dass ich keinen Ärger empfinden konnte. Ein freundliches, gutherziges Kind mit großem Kummer. „Sie hat es immer genau so, wie sie es mag.”

„Wir sollen nicht hier sein”, drängte ich. „Dýamirée, dein Vater will, dass wir in den Boscargén fliehen.”

„Ich dachte, wir sollen ins Schulzimmer?”

„Da ist … eine Tür.”

„Wenn Advon hier bleibt”, entschied Dýamirée, „bleibe ich auch hier. Ohne Papa gehe ich auch nicht zurück.”

Ich stöhnte innerlich. War es nicht ohnehin schon kompliziert genug? Musste Dýamirée ausgerechnet jetzt die Trotzphase nachholen?

„Dein Vater will, dass wir nach Hause gehen, bevor …”

„Wollt Ihr das auch?”, unterbrach mich Advon Irísolor ernst.

Ich zögerte einen Moment.

„Nein”, gab ich dann zu. „Ganz ehrlich? Ich will mich nicht wegschicken lassen.”

„Sie schicken uns weg, weil sie uns lieb haben”, fuhr er nachdenklich fort. „Aber hier sind wir sicherer, als wenn wir hinüber ins Schulzimmer gegen, wo Ihr die Tür beschworen habt. Hier ist Pataghíu. Hier kommen keine Chaosgeister rein. Das hat Papa immer gesagt. Wenn mal etwas Schlimmes passiert, dann soll ich hierher gehen.”

„Im Etaímalon ist es auch sicher”, wollte Dýamirée ihm wohl nicht nachstehen. „Da drin kann nicht Böses sein.”

„Ich weiß. In Noktámas Heiligtum sind wir bestimmt auch ganz sicher. Aber Noktáma will bestimmt nicht, das auf dem Weg dahin wieder ein schlimmes Monster kommt und einen von uns frisst. Galéon ist doch nicht bei uns.”

„Ob Galéon etwas passiert, da draußen?”

„Nein. Der kämpft zusammen mit deinem und meinem Papa gegen Sile- … wer auch immer sie jetzt wirklich eigentlich ist.”

Ich gab auf. Die beiden waren sich einig. Wie konnte ich mich dagegen durchsetzen? Und im Grunde war der Junge ja im Recht und redete ganz vernünftig. Bei genauerem Nachdenken, redete er viel zu erwachsen.

„Ihr habt ja eine hohe Meinung von diesem Galéon. Wer ist das eigentlich?”

„Ein báchorkor“, erklärte Advon geitstesabwesend. „Úlda- … also, die andere Hälfte von Siledaú wollte ihn umbringen!”

„Er kennt ganz viele schöne Geschichten”, erklärte Dýamirée. „Und er kann zaubern.”

„Wie bitte?”

„Er will es nicht zugeben, Mama. Aber ich habe es gesehen. Ganz bestimmt. Er hat die Chaosgeister in der Wüste so lange weggebannt, bis wir in Sicherheit waren.”

Ich ließ mich auf der Armlehne neben Dýamirée nieder. Tatsächlich schien es nur ein kalter, unbequemer Sessel zu sein. Ich konnte ihn gefahrlos berühren. Dýamirée rutschte in meine Richtung und kuschelte sich an. Wie gut das tat! Ich legte meinen Arm um sie, streichelte ihr sandiges Haar und genoss für den kurzen Moment ihre Nähe. Endlich waren wir wieder vereint. Ich dachte nach. Wenn dieser sonderbare junge Mann tatsächlich magische Kräfte hatte, dann hatte der Verfluchte möglicherweise wirklich einen guten Grund, ihn aus dem Weg räumen zu wollen. Es würde vielleicht sogar erklären, warum dieser geheimnisvolle Eindringling so viel wusste. Aber wenn es doch offensichtlich weder Pataghíu noch Noktáma gewesen waren, die ihm seine Kräfte verliehen hatten, wie war er dazu gekommen? Von einem weiteren Schattensänger hätte Yalomiro doch erfahren! Sicher ging es den Regenbogenrittern nicht anders. Und das bedeutete … etwas, an das ich nicht zu denken wagte! Und ich kam auch nicht dazu, an dieser absurden Idee hängen zu bleiben.

„Euer hýardor wird meine Mama doch beschützen, nicht wahr?”, fragte Advon plötzlich und blickte mich eindringlich an.

„Aber wieso fragst du so etwas?” Ich lehnte mich zu ihm hinüber. Natürlich machte der Junge sich Sorgen, aber immerhin war sein Vater dort draußen, um seine Mutter zu beschützen.

„Wird er?”

„Natürlich. Aber warum machst du dir solche Sorgen? Wenn Siledaú wirklich der Verfluchte ist und keine Zauberkraft mehr hat, dann wird sie doch gegen deine Eltern, Yalomiro und … euren Freund nichts ausrichten können.”

„Aber darum geht es doch gar nicht. Meine Mama will doch nicht gegen Siledaú kämpfen. Mit der wird mein Papa ganz alleine fertig.”

„Aber worum sorgst du dich denn dann?”

Er zog die Schultern hoch. Dýamirée schaute mitfühlend zu ihm hinüber. Dann rutschte sie vom Thron herunter und setzte sich nebenan neben den Jungen. Die Art, wie sie fürsorglich ihren Arm um ihn legte und sich ihm zuneigte, rührte mich auf eine seltsame Weise an. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, es hätte niedlich und zugleich viel zu erwachsen ausgesehen. Advon versuchte offensichtlich, tapfer und beherrscht zu bleiben. Dann schluchzte er auf.

Im selben Moment zuckte Licht durch den Cielástel, unglaublich hell und heiß, weißglühend wie die Sonne am Mittagshimmel. Das Leuchten stieg aus der Tiefe auf und flutete empor, als füllten sich die gläsernen Mauern damit. Die Hitze war so intensiv, dass ich nicht entscheiden konnte, ob es echte Temperaturen und inkompatible Magie war. Jedenfalls verschlug es mir den Atem, so heftig, als sei die Luft für einige Augenblicke weggedrängt und kaum noch genug zum Atmen. Der unerwartete Lichtblitz war blendend hell. Und während ich blind um mich tastete und keuchte, geriet der Cielástel in eine seltsame Bewegung, eine Vibration, die sich in den Thronsessel und von dort in meinen ganzen Körper fortsetzte. Es war kein Erdbeben, dafür war es zu zart, zu subtil. Es war vielmehr, als geriete etwas in Schwingung, und tatsächlich hatte ich ein seltsames, unwirkliches Geräusch im Ohr. Ungefähr so, als spiele ein Musiker auf einer Glasorgel, doch es war nur ein einziger, anschwellender Ton. Es war der Cielástel selbst. Pataghíus Heiligtum sang!

Dann war wieder Atemluft da, und nach mehrmaligem Blinzeln konnte ich auch wieder sehen, auch wenn farbige Schatten durch meine Blickfeld schossen.

Dýamirée schaute sich verwirrt um. Sie wirkte auf eine sonderbar abgeklärte Weise entsetzt und fasziniert zugleich. Im Gegensatz zu mir schien sie jedoch keine körperlichen Nachwirkungen zu spüren.

„Das war meine Mama”, wisperte Advon.

„Was hat sie getan?”, flüsterte ich zurück.

Er erhob sich, entschlossen, energisch.

„Sie kämpft. Sie kämpft gegen die Chaosgeister. Ganz allein.”