
„Wieso ist hier so viel Betrieb?”, wisperte Úldaises persönlicher Tagediener dem anderen zu.
„Woher soll ich das wissen?”
Sie drückten sich unter den Arkaden vor den Gebäuden herum, die den Palast des konsej umgaben und beobachteten das geschäftige Treiben dort. Es war eine kleine Gruppe der Stadtwächter anwesend, aber die fiel kaum auf inmitten der Bediensteten und des Personals der tatterigen sinoray, die nun den Ratssaal verließen, teils noch auf eigenen Füßen, teils getragen und geführt von überaus geduldigen Helfern, die sie zu ihren Sänften und Wagen brachten.
„Wahrscheinlich wollen die alle in ihre Häuser”, sagte der Zweite schließlich. „Ist schon schlau. Schüttet hier gleich wie aus Eimern!”
Sie schauten hinauf zu den grauen Wolken, die über dem Ratspalast hingen. Der Himmel war immer mehr und immer schneller zugezogen, seit sie in die Stadt zurückgekehrt waren. Der Mietstallbesitzer war sichtlich erleichtert gewesen, seine kostbaren Tiere im Empfang nehmen zu können, hatte sie gleich in den Stall bringen und diesen sicher zusperren lassen. In den Straßen hatte Geschäftigkeit geherrscht, die Leute hatten alles, was draußen nicht ganz sicher stand und befestigt war, gesichert oder in die Häuser geholt. In den Gasthäusern und Tavernen herrschte bereits Hochbetrieb, denn niemandem war danach, sich während des Unwetters im Freien aufzuhalten. Auch die Bauern und Gärtner vor der Stadt würden nun versuchen, ihr Vieh in die Ställe zu treiben und die empfindlichen Pflanzen zu beschirmen.
Allzu besorgt war niemand, vielleicht einige der Reisenden aus anderen teirandon, die dieses Wetter nicht kannten, nicht aber die Bewohner von Aurópéa. Unter ein Dach gerieten die Regenstürme nicht. Ganz selten gab es während eines Unwetters Unfälle oder Tote, und wenn, dann lag es durchweg an wirklich ungünstig verketteten Umständen. Die Knechte wussten das. Regenstürme waren zu ertragen.
Im Süden, unmittelbar über der Wüste, strahlte noch ein Stück vom Wüstenhimmel, wo langsam die Abenddämmerung aufzog. Das sah allerdings doch bedrohlich aus, denn die graue Wolkendecke hatte dort eine so exakte Kante, als habe sie jemand mit einem Lineal gezogen. Und die Wolken über ihnen, die mehr und mehr Licht schluckten, fast schon so sehr, dass es eine Laterne gebraucht hätte … die waren so sonderbar gleichmäßig und glatt, und in ihnen zogen etwas hellere Wolken wie Schlieren. So etwas hatten die beiden, die ihr ganzes Leben in Aurópéa verbracht und in dieser Zeit mehrere Dutzend Regenstürme erlebt hatten, noch nicht gesehen.
„Wir sollten auch irgendwo unterschlüpfen. Lass uns in die Taverne gehen, wo wir vorgestern waren. Da Bier da war gut.”
„Damit der Alte uns sofort aufspürt? Biste noch ganz gescheit?”
„Hat doch wohl genug zu tun mit dem Wetter! Wir sind doch nachher immer noch schnell genug!”
„Ja, aber nicht ohne Lohn! Die Opale können wir ohnehin vergessen.”
„Und wie kommen wir da rein?”
Gerade das war das Problem. Die Tür zum Brunnenraum war bewacht. Zwei Stadtwächter, die sicher auch gern sicher in ihren Häusern oder der Unterkunft gewesen wären, wo jene ohne Familie wohnten, standen dort und betrachteten das sich lichtende Gewusel. Warum waren sie da? Hatte Úldaise sie dort postiert, weil er sich denken konnte, dass seine rätselhaften Kostbarkeiten dort nicht so geheim waren, wie er es sich vielleicht gewünscht hätte?
Die beiden Knechte hatten auf dem Weg in die Stadt viel nachzudenken gehabt und das Geschehene Stück für Stück in der ihnen eigenen Logik aufgeschlüsselt. Dass Úldaise über all die Zeit hinweg an einem unbekannten Ort gelebt hatte, nahmen sie noch am leichtesten hin. Wer wusste schon, wo der mysteriöse Greis untergeschlüpft war? An Geld mangelte es ihm nicht, es sprach nichts dagegen, dass er sich dauerhaft in den besseren Gasthäusern einmietete oder vielleicht bei wechselnden Gastgebern unterkam. Es erklärte schlüssig, warum sie damals den báchorkor so umständlich in den Brunnen hatten verschleppen müssen, anstatt ihm ohne Aufwand und bequem in einem privaten Keller oder Hinterhof die Knochen zu brechen. Sogar eine geheime Liebschaft, sei es mit der gruseligen Alten in der Burg oder irgendeiner mutmaßlich wenig wählerischen, aber praktisch denkenden fánjula in Aurópéa, wollten sie nicht ausschließen. Immerhin war es keine Schande, für ein gutes Entgelt, ein lockendes Erbe, großzügig und duldsam über Úldaises widerwärtiges Wesen und sein greises Alter hinwegzusehen.
Vielleicht, so war dem einen Knecht schließlich seine schmutzige Phantasie durchgegangen, war das kleine Mädchen sogar die Frucht von Úldaises eigenen lüsternen Lenden, eine von der niemand erfahren durfte und die er aus irgendeinem Grund erst jetzt aus dem Weg hatte schaffen wollen. Sein Begleiter hatte angemerkt, dass Úldaise in seinem hohen Alter zwar selbst möglicherweise noch in der Lage war, ein dummes Weibsbild zu schwängern, aber die alte Bedienstete der Regenbogenritter, in deren Obhut das Gör gewesen war, sicher nicht mehr dazu, etwas zu gebären. Und wenn, dann sicher nichts so gut Geratenes wie das Kind gewesen war. Das machte den ganzen Vorfall noch rätselhafter. Doch da sie auch mit ihren abenteuerlichen Erklärungen nicht weiterkamen, waren die beiden am Ende doch nicht allzu unglücklich über das Eingreifen des verfluchten kleinen Kuchenvergifters. Es war weniger schlimm als der Verlust der versprochenen Opale, die Úldaise ihnen ganz sicher nicht geben würde. Ein Blick in die Höhle würde dem Alten genügen, um festzustellen, dass sie seinen Auftrag vermasselt hatten, und erklären, warum sie nicht wie abgesprochen, auf ihn gewartet hatten.
Nun, in Úldaises Hausrat, der hier im Brunnen lagerte, befanden sich vielleicht keine Opale. Aber sicher gab es anderes, das sich zu Geld machen ließ. Wenn doch nur die beiden Wachposten nicht so hinderlich vor der Tür gestanden hätten!
Die ersten Regentropfen gingen nieder, ganz vereinzelt, hier und da. Der Platz um den Ratspalast leerte sich. Die sinoray und ihre Leute verzogen sich dorthin, wohin sie gehörten.
Die beiden Knechte warteten. Dort, wo sie sich aufhielten, hatten sie einen guten Blick hinter den Säulen hervor, ohne dass die Wächter sie selbst sehen konnten, sofern sie sich nicht auffällig bewegten.
„Wenns hier anfängt zu schütten”, grollte der Intelligentere, kriechen sie bestimmt im Palast unter.”
„Lass uns in die Taverne”, bat der eine nochmals leise. „Wir holen uns das Zeug nach dem Sturm!”
„Nach dem Sturm bin ich raus aus der Stadt”, knurrte der Erste. „Kannst dir dann ja den Rest holen und nachkommen.”
„Als ob du was übrig lässt.”
„Und wenn der Alte nervös wird, und mit seinem Kram abhaut? Der Oberalte hat doch wohl eine Stinkwut! Der alte Schinder wird wohl genauso schnell das Weite suchen wie wir!”
„Was mag da los sein? Was hat der Alte wohl auf dem Kerbholz?”
„Geht mich nix an. Wichtigen Dreck. Dreck von wichtigen Leuten!”
„Und wenn wir irgendwo anders was … besorgen?”
„Bist wohl auch scharf drauf, in die Wüste zu kommen, was?”
„Wenn du nicht …”
„Wenn ich nicht was?”
„Wer hat denn mit der Fackel den Dornbeerbusch angezündet? All die Aufregung war doch nur wegen dir! Hohlkopf!”
Zur Antwort hob der Beschimpfte drohend seine Faust, doch noch bevor es zur Handgreiflichkeit kommen konnte, ertönte ein Getöse aus einer der Gassen, die den Hügel hin abführten, gefolgt von Geschrei und Stimmengewirr. Die Wächter vor der Tür wagten sich alarmiert ein paar Schritte unter den Arkaden hervor.
„Hilfe! Helft!”, rief eine Frau und kam mit in auf dem zwischenzeitlich regenfeuchten Pflaster patschenden Schritten herangeeilt. „Die Sänfte der sinora, meiner Herrin!”
„Was ist?”, rief der eine Wächter.
„Das Maultier ist ausgerutscht und gestürzt! Die Sänfte ist gekippt und steckt fest, und die sinora darinnen! Fasst mit an!”
Die Wächter eilten los. Einer verunglückten sinora zu helfen hatte Vorrang vor dem Wachestehen vor einer Tür zu einem unwichtigen Raum an einem menschenleeren Platz. Dem Stimmengewirr aus der Seitenstraße nach zu urteilen, hatte das verunfallte Maultier eine größere Karambolage ausgelöst. Sicher mussten sie es abschirren, damit es in der engen Gasse überhaupt aufstehen konnte, bevor sie die sinora erreichen und sie aus der Sänfte befreien konnten. Zumindest schien der alten Frau nichts Schweres zugestoßen zu sein. Ihre aufgebrachte Stimme, mit der sie aus unerfindlichen Gründen nach ihrem Gewandschneider rief, schallte kräftig bis auf den Platz. So zog es auch die letzten verbliebenen Personen als Schaulustige an und lenkte die Aufmerksamkeit möglicher Zeugen in angenehme Bahnen.
„Pataghíu is’ mit uns”, sagte der Knecht, der gerade noch vorgehabt hatte, dem anderen die Nase einzuschlagen.
Augenblicke später waren sie durch den nun stetigen Nieselregen zum Palast hinüber und durch die verwaiste Tür dort hinein geeilt. Unten im Brunnenraum war es zwar recht düster, aber durch die Fenster ringsum fiel ausreichend Tageslicht ein, sodass sie sich orientieren konnten.
Derjenige, der es so eilig gehabt hatte mit dem Raubzug, verlor keine Zeit. Augenblicklich begann er, die Bücherstapel auseinander zu werfen, um an die Kisten darunter zu gelangen. Ein, zwei silberne Dinge steckte er sich gleich ein, ohne darauf zu achten, was es eigentlich war. Silber hatte fast keinen Wert gegen die Opale, die ihnen gegangen waren. Allerdings – wer konnte beweisen, dass Úldaise die kostbaren Steine überhaupt besessen und es nicht nur behauptet hatte, um sie zu locken? Sicher war es vernünftiger, sich mit etwas minderem Metall zu begnügen, anstatt gänzlich leer auszugehen.
„Hier war’n welche”, sagte der andere Knecht, der sich die Zeit genommen hatte, sich im Brunnen umzuschauen.
„Was?”, fragte der erste und warf achtlos einen ledergebundenen Folianten beiseite.
„Der Brunnen is’ offen. Hier liegt Zeug ‘rum, Seile und Gurte. Und Laternen. Sieht aus, als war wer unten.”
Sein Kumpan wurde aufmerksam, steckte eine silberne Dose ein, in der etwas vielversprechend klimperte, und besah sich die Entdeckung.
„So was. Was die gerade jetzt da gesucht haben!”
Sie neigten sich über die Brunnenöffnung. Dort unten war nichts als ein finsterer Abgrund.
„Hörste das?”, fragte dann der Erste.
„Was?”
„Na, das Rauschen. Da unten ist Wasser.”
„Natürlich is’ da Wasser. Das ist’n Brunnen.”
„Ja, aber so … viel?”
Sie lauschten. Tatsächlich. Das, was vor zwei Tagen, als sie den báchorkor hier hereingeworfen hatten, nicht mehr gewesen war als ein murmelndes Rinnsal, klang nun wie ein rauschender Wildbach, der zur Wüste strebte, und sich anstaute. Wie eine Viehtränke, eine Quelle, die man in einen Trog umleitete. Das Wasser stand bereits recht hoch im Brunnen, dem Glucksen und Gurgeln nach zu urteilen.
„Wohl vom Regen”, sagte der eine. „Wenn’s draußen gießt, sammelt sich’s Wasser und fließt irgendwie runter.”
„So schnell? So stark?”
Sie schwiegen. Für einen Moment hatten sie das Silberzeug gänzlich vergessen, so unheimlich war ihnen das Rauschen und Plätschern aus der Tiefe.
„Komm”, sagte der Erste dann und wandte sich wieder der Plünderung zu. „Bevor die Brühe bis hier oben kommt.”
***
Jóndere Moréaval kam zu sich wie aus einem Traum. Der Ritter befand sich in einem Birkenhain am Kamm einer Anhöhe, von wo aus er hinab auf eine Ebene blicken konnte, wo er vom Wind durchkämmte und von peitschendem Regen durchnässte Felder sehen konnte. Sein Pferd hatte sich entschieden, hier in ein etwas geruhsameres Tempo zu verfallen, eine vernünftige Entscheidung, denn beim Versuch, von hier ins Tal zu preschen, hätten sie beide sich mit Sicherheit den Hals gebrochen.
Der Ritter stöhnte und streckte sich. Er war wohl fester eingeschlafen, als es ihm lieb gewesen war. Auf langen Ritten im Sattel einzudösen war etwas, was jedem Ritter zuweilen auf ereignislosen Reisen widerfuhr. Die Pferde waren daran gewöhnt, wenn ihr Reiter keine Versuche sie zu lenken unternahmen, einfach geradeaus auf dem Weg vorwärts zu trotten, bis sie an einen Abzweig kamen. Dort blieb ein gut dressiertes Pferd einfach stehen.
Moréaval stemmte sich die Hände in den Rücken und verzog schmerzlich das Gesicht. Er spürte sein Gesäß auf eine ganz unrühmliche Weise und kam zu dem Schluss, dass er sich wundgeritten haben musste. Das war ihm seit seiner Knappenzeit nicht mehr passiert. Auch der Rest seines Körpers war steif und schmerzte. Bei den Mächten, wie lange hatte er geschlafen und wo hatte das Pferd ihn derweil hingetragen?
Ein Grenzstein nahebei brachte ihm erfreuliche Aufklärung. Demnach befand er sich im Grenzgebiet zum yarlmálon von Daap Grootplen. Von dort waren es nur zweieinhalb Tagesritte bis nach Wijdlant, wo seine geliebte hýardora und seine süße kleine Tochter warteten. Ob die sich über die Blumensamen freuen würde? Moréaval war sich nicht sicher, ob das Kind bereits ausreichend Geduld für diese neue Beschäftigung hatte. Aber wenn es dem Schattensänger so wichtig war …
Der Schattensänger!
Moréaval zügelte sein Pferd und entschloss sich, abzusitzen. Abgesehen davon, dass er ein dringendes Bedürfnis verspürte, wollte er sich überzeugen, ob das Pferd noch das seltsame Hufeisen trug. Denn wenn er hier am Rand von Herrn Daaps Land war, dann musste er den Montazíel hinter sich gelassen und sogar das Gebiet von Léur Tjiergroen zumindest am Rande gequert haben. Er erinnerte sich jedoch weder an die Passage über den Montazíel, geschweige denn, auf irgendeiner Burg Rast gemacht zu haben.
Moréaval erleichterte sich und fing sein Reittier wieder ein, das ein wohlschmeckendes Gebüsch gefunden hatte. Der Hengst war in erfreulich gutem Zustand, erhitzt zwar von der absurden Geschwindigkeit, die der Magier ihm angezaubert hatte, aber frei von jeglichen Blessuren oder Zeichen von Lahmheit. Sicher wäre auch das letzte Stückchen der Wegstrecke ebenso schnell hinter sie gebracht, sobald das Ross den Busch niedergebissen und seinen Hunger gestillt hatte.
Das magische Hufeisen, dieser seltsame silberne Schuh, den der Schattensänger ihm angepasst hatte, der hatte sich allerdings verändert. Es war, als habe er sich stark abgenutzt. Statt eines filigranen Silbergeflechtes war es, als umschlössen nur noch feine Silberdrähte den Huf.
Wie schade. Die Magie verbrauchte sich also, die Überreste würden sicher gerade noch so ausreichen, um geschwind wie ein Sturmvogel in Wijdlant einzureiten.
Moréaval pflückte sich seinerseits ein paar Beeren und schöpfte Wasser aus einem brodelnden Bächlein, das mit erstaunlicher Geschwindigkeit den Bergen zustrebte. Nun, wenn sich das Regenwetter hier schon eine Weile gehalten haben sollte, dann war es nur natürlich, dass das Wasser anschwoll. Moréaval trank und blickte dann wieder hinab ins Tal. Daap Grootplens Land erstreckte sich in den größten Teilen über schweren Lehmboden. Dort bei diesem Wetter hindurch zu preschen, würde auf eine entsetzliche Matschpartie herauslaufen. Hoffentlich hielt das Silbereisen noch so lange und blieb nicht irgendwo im Dreck stecken.
Er schaute nachdenklich nach Norden. Wie lange mochte es hier schon so stetig regnen? Hier oben auf dem Hügel hielten die Bäume das Gröbste von ihm ab, aber unten im Tal konnte es morastig und schwer passierbar sein. Eine Verzögerung auf der letzten Etappe seines Weges, dem Stückchen vertrauten Landes, das ihn von seiner geliebten hýardora und dem Kind trennte.
Sah es nur so aus, oder war es dort hinten in der Ferne, dort wo Wijdlant war, noch dunkler und die Wolkenmassen am Himmel massiver?
***
Es fühlte sich seltsam an, so im Kreis nebeneinanderzustehen, die Reiterschilde über dem Kopf, die die Kinder im Verlies gefunden hatten, und den glühenden Eisenofen zu schützen, den sie mit dem alten Zeug gebaut hatten. Kíaná von Wijdlant fühlte sich, als nähme sie an einem urtümlichen Ritual teil, so wie es die Menschen vor langer, langer Zeit zu Beginn des Weltenspiels vollzogen hatten, noch bevor sie gelernt hatten, Häuser zu bauen und Getreide anzubauen. Damals, als alles ganz neu und die Verbindung zu den Mächten noch stark gewesen war.
Ihre Arme schmerzten vom Gewicht der Schilde, das sie nicht gewohnt war, und das unablässige Rieseln und Prasseln des Sandes, der von der Decke regnete und dann über die Schilde nach unten und hinter sie rieselte, klang nervenaufreibend in ihren Ohren. Asgaý warf ein nervöses Lächeln zu ihr hinüber. Auch er zitterte langsam unter dem Gewicht des Schildes, von dem der Sand die letzten Reste der ehemaligen Bemalung herab schliff. In seinem legeren, bunt gemusterten Hausgewand mit dem wetterfesten Mantel darüber und ohne den gewohnten Kronreif darüber sah er wenig herrschaftlich aus. Aber er brachte sie zum Lächeln, so bedrohlich die Situation war.
Ob die Schutzbefohlenen draußen immer noch arglos waren, welche entsetzlichen Dinge im Turm vor sich gingen? Waren sie in der Burg sicher?
Grootplen und Altabete zu ihren Seiten beobachteten wachsam, wie Jándris mit einem alten rostigen Eisendolch, der jedoch einen Holzgriff hatte, ganz vorsichtig den Helm vornüber kippte. Láas balancierte einen kleinen Faustschild auf einem Fetzen Leder, bereit, damit das flüssige Gold aufzufangen, das möglicherweise danebengehen würde.
Yarl Emberbey hatte darauf bestanden, das Axtblatt zu halten, die wohl gefährlichste Aufgabe bei der Sache. Widerspruch hatte er nicht geduldet, nicht einmal von seinem eigenen teirand, und darauf verwiesen, dass seine alten Hände ohnehin nicht mehr lange dienlich sein würden. Man könne am ehesten darauf verzichten, falls er sich versengen würde.
Tíjnje schaute bang und gespannt zu, wie sich ein dünnes Rinnsal Gold aus dem schmalen Visierschlitz des alten Helms ergoss. In ihrem Schürzchen barg das Mädchen zwei Dutzend bunte Edelsteine, die sie alle hatten retten können, bis auf einen, der zersprungen war und sich so als plumpe Fälschung aus einem minderen Material entpuppt hatte, die über viele Generationen hinweg in der Krone von Wijdlant nicht aufgefallen war. Es war so still, dass man neben dem Knacken der Flammen und dem viel zu lauten Sandrieseln jeden Atemzug hören konnte.
„Genug!”, sagte Emberbey. „Nicht zu viel auf einmal!”
Jándris kippte den Helm wieder zurück, und Emberbey begann, das Gold vorsichtig über der Klinge zu verteilen, indem er das Axtblatt vorsichtig hin und her schwenkte. Das abgenutzte Metall nahm einen warmen Glanz an.
„Wie lange wird es dauern, bis es erstarrt ist?”, fragte Kíaná von Wijdlant.
„Ein paar hundert Herzschläge, Majestät. Wir müssen es Schicht für Schicht und von beiden Seiten aufbringen.”
„Zum Glück müssen wird damit keine Blöcke gießen”, scherzte Jándris.
„Blöcke?”
„In Aurópéa, Tíjnje, da haben sie so viel Gold, dass sie Ziegelsteine daraus machen.”
„So viel Gold?”, staunte das Kind. „Dann sind da die Häuser alle aus Gold?”
„Nur die von den armen Leuten. Die Wohlhabenden schneiden dafür Edelsteine zurecht.”
„Sohn”, tadelte yarl Altabete. „Du redest Unsinn.”
„Ich weiß, Vater. Lustigen Unsinn für die Damen.”
Andriér Altabete seufzte und nickte. „Wenn du noch mehr Unsinn hast, uns zu erheitern in dieser misslichen Lage, nur zu. Aber wird nicht unachtsam mit der Schmelze.”
„Mehr davon”, forderte Emberbey, der über die Geschichten nicht lächeln konnte. „Es geht besser als gedacht.”
Jándris kippte sacht den Helm. Im selben Moment erbebte der Turm erneut und eine so große Sandlast klatschte nieder, dass die Erwachsenen mit ihrem Dach in die Knie gingen. Der Boden wurde erschüttert, ein Spritzer Gold verfehlte die Klinge und landete auf Láas’ Wange. Der Junge gab einen Wehlaut von sich und es roch für einen Moment nach versengtem Fleisch.
„Vorsicht!”, rief Jándris und stemmte seinen Hebel zurück.
„Láas!”, rief Grootplen entsetzt aus.
Láas ächzte und zischte vor Schmerz, aber er fing das restliche Gold mit dem Schildbuckel auf und kippte es zurück in den Helm. Dann erst erlaubte er sich einen Wehlaut.
„Junge!”, rief auch die teirandanja besorgt auf, aber Tíjnje war schon bei ihrem Onkel und wischte beherzt mit dem Ärmel den Tropfen fort.
„Ich puste es weg, Láas”, sagte sie besorgt und tat es sogleich, kühlte die Wunde mit ihrem Atem. Yarl Emberbey rückte mit der Axt ein Stück beiseite, damit sie Platz hatte, ließ sich aber in seinem Tun nicht stören.
„Au weh”, sagte Jándris. „Das gibt eine fiese Brandnarbe.”
„Lass sehen”, forderte Andriér Altabete. Láas blickte mit wässrigen Augen auf. Vor den Männern und dem kleinen Mädchen weinen wollte er wohl nicht.
„Fast an derselben Stelle wie bei mir”, sagte Altabete.
„So schlimm?”, rutschte es Láas heraus, denn die Narbe im Gesicht des Ritters war entstellend.
„Nein. Aber sobald wie möglich müssen wir es kühlen und es muss eine Salbe darauf. Kannst Du weiter helfen?”
Láas nickte und betastete mit den Fingern die schmerzende Wange. „Natürlich.”
„Dann los, Sohn”, sagte Grootplen. Kíaná von Wijdlant schauderte, wie nebensächlich die Ritter das Unglück des Knaben nahmen. Sogar Tíjnje schien verwirrt darüber. Láas nahm sein Leder und den kleinen Schild und hielt beides wieder Emberbey und der Axt unter.
„Wenn der gute Magier wieder hier ist”, sagte die Kleine, „kann er das bestimmt so heil machen, dass es keiner mehr sieht.”
„Wenn der Magier sich jemals wieder hier blicken lässt”, hielt Altabete murrend dagegen. „An diesem Ort sollte niemals wieder gezaubert werden. Wir sehen doch, wohin es führt!”
„Lasst uns weiter machen”, mahnte Emberbey. „Wenn die Erde weiter so bebt, stürzen die Mauern. Dann brauchen wir uns um die Tür nicht mehr zu kümmern.”
Jándris kippte den Helm. Láas wich so weit zurück, wie es möglich war. Emberbey streckte die Axt vor. Dabei verschob sich der Ärmel seiner Tunika ein Stück. Kíaná von Wijdlant schauderte, als sie den Tropfen sah, der sich in den vom Alter dürr gewordenen Unterarm des Ritters hinein gebrannt hatte. Über die Lippen des yarl war kein Laut gekommen.
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