
Bereits am frühen Nachmittag war der yarlara von Moréaval aufgefallen, dass ihre kleine Tochter nicht aufzufinden war.
Die junge Frau hatte sich zunächst keine Gedanken darüber gemacht. Es war vollkommen normal, dass das kleine Mädchen sich in der Nähe der teirandanja aufhielt, und da die beiden bei dem ungemütlichen Wetter nicht im Freien spielen konnten, wähnte sie Tíjnje und die etwas ältere Gefährtin in der Obhut der opayra. Sicherlich, so dachte die Dame sich, vergnügten die beiden sich brav beim Spiel in den Gemächern der hochedlen Familie. Die yarlara hatte die Gelegenheit dazu genutzt, in Ruhe ihre Korrespondenz zu erledigen und lange Briefe an ihre eigene und die Mutter ihres hýardor zu verfassen, die auf dessen Burg die Dinge in Ordnung hielt, solange der Sohn den Hofdienst versah. Und so hatte die Edeldame eine geraume Zeit in ihrer Stube verbracht, bis das Tageslicht nicht mehr zum Schreiben ausreichte und sie eine Lampe entzünden musste. Vermutlich beschäftigte sich die teiranda ebenfalls mit privaten Dingen, denn sie schickte während all der Zeit nicht ein einziges Mal nach der Hofdame.
Das kam der yarlara schließlich doch sonderbar vor, und so schickte sie sich an, nachzuschauen, ob sie möglicherweise etwas versäumte. Vielleicht hatte das schlechte Wetter die Burggemeinschaft in der Halle versammelt und es ging dort etwas kurzweiliger zu.
Tatsächlich hatte sich der größte Teil der Schutzbefohlenen dort zusammengefunden, zumindest all jene, die nicht in der Küche mit den Vorbereitungen für die Abendmahlzeit oder in den Ställen mit der Versorgung der Tiere unabkömmlich waren. Die Leute saßen in Grüppchen beieinander, schwatzten und scherzten miteinander, einige beschäftigten sich in angemessener Lautstärke mit Karten- und Würfelspielen. Der Dauerregen bot eine hochwillkommene Ablenkung, einen guten Grund dafür, die Arbeit ruhen zu lassen.
Nur ein Tisch an einem der Außenfenster war verwaist. Eine angefangene Partie eines Steinespiels stand dort. Dass niemand das Brett weggeräumt hatte und der Tisch nicht beansprucht wurde, konnte nur bedeuten, dass er von hochgestellten Burgbewohnern so hinterlassen worden war, die nicht offiziell fortgegangen waren.
Auf der Bank lag ein Kinderbuch. Die yarlara warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn. Hatte Tíjnje hier mit den anderen Kindern gesessen? Hatte Láas seiner kleinen Nichte vorgelesen? Das passte so gar nicht zu dem wohlerzogenen, aber stets etwas raubeinigen Jungen.
Sie schaute sich in der Halle um, entdeckte aber weder ihren jüngeren Bruder noch dessen Kumpan Jándris, mit dem er unzertrennlich war. Auch ihren Vater konnte die junge Frau nirgends sehen, nicht ihn und keinen der anderen yarlay.
Natürlich nicht. Die Männer waren vermutlich immer noch auf der Suche nach dem Sohn von yarl Althopian, dem armen, vom Schicksal gebeutelten Mann. Die yarlara mochte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlen mochte, wenn das eigene Kind einfach so mitten in einer belebten Burg verschwand. Der Umstand, dass der Junge immer noch nicht wieder aufgetaucht war, ließ nach all der verstrichenen Zeit fast nur noch die Vermutung zu, dass der Knabe sich willentlich und mit großem Geschick versteckt hielt. Mochten die Mächte geben, dass der Junge möglicherweise nur etwas angestellt hatte und sich so lange als möglich vor der strengen Hand seines Vaters verbarg. Auch Láas hatte, als er noch jünger war, so manchen Unfug verübt, der die Eltern und die älteren Schwestern nicht immer amüsiert hatte.
Nun, vermutlich hatte sich das nicht gebessert, anders war nunmehr nur, dass Jándris sich wesentlich gescheiter anstellte, wenn es galt, Spuren zu beseitigen. Doch wo konnten die Jungen nur sein? Der Schwertmeister saß dort hinten am Tisch und war mit seinen Freunden in die Würfel vertieft. Der schien die Jungen nicht zu vermissen.
Die yarlara nahm das Buch an sich und kehrte zurück in ihre Stube. Die Sache kam ihr sonderbar vor. Ob die Kinder Verstecken spielten? Ob Tíjnje sich in die Stube geschlichen und verborgen hatte, als sie mit den Briefen abgelenkt gewesen war?
„Tíjnje?”, rief die junge Frau. „Tíjnje, bist du hier? Zeig dich, wenn ich dich rufe!”
Aber das kleine Mädchen schien tatsächlich nicht anwesend zu sein. Die yarlara warf einen Blick hinter die Vorhänge und dann, von einem panischen Gedanken aufgeschreckt, in die große Kleidertruhe. Doch den Mächten sei Dank, hatte das kleine Mädchen sich nicht in eine solche Falle begeben.
Dafür entdeckte die yarlara ein Fußbänkchen an einer Stelle, an die es nicht gehörte, unterhalb eines Regals, auf dem sie einige persönliche Gegenstände griffbereit hielt. Die kleine silberbeschlagene Schmuckschatulle stand verdächtig nahe am Rand, und als die Dame misstrauisch hineinschaute, fand sie ihren Verdacht bestätigt. Ärger überkam sie, denn ganz zweifellos hatte Tíjnje unerlaubterweise in ihrer Unbekümmertheit etwas von dem Geschmeide ausgeliehen. Das war dem Kind streng verboten, und so war die yarlara für einen Moment mehr ungehalten als besorgt, denn es erklärte, warum das Kind sich möglicherweise versteckt hielt. Wahrscheinlich war den Mädchen in der regenbedingten Langeweile nichts Besseres eingefallen, als mit dem Schmuck ihrer Mütter zu spielen. Es stand zu hoffen, dass Tíjnje die wertvollen Stücke nicht verbummelte. Wenn er wieder daheim wäre, beschloss sie, musste Jóndere dringlich ein ernstes Wort mit seiner Tochter reden. Andererseits wurde es höchste Zeit, dass Tíjnje eine Gefährtin ihres Alters bekam und sich nicht länger genötigt fühlte, mit der älteren teirandanja gleichziehen zu müssen. Wenn Truda Emberbey sich als ähnlich wohlerzogen und bescheiden erwies wie ihr älterer Bruder, dann würde das wohl einen guten Einfluss auf die Kinder haben.
Und dennoch … hätte Tíjnje, um vor der teirandanja mit Geschmeide großzutun, nicht die altmodische Halskette mit den Karfunkeln gemaust anstelle des schlichten Goldschmucks, der stattdessen fehlte? Die yarlara warf einen nachdenklichen Blick auf das Bilderbuch und machte sich auf den Weg hinauf zu den Räumen der teiranday, um die kleine Diebin zu stellen. Doch auch hier oben war es ungewöhnlich still. Der Regen, der vor die kostbaren Glasfensterscheiben trommelte, war fast das Einzige, was zu hören war. Die Tür zum Audienzzimmer war nicht einmal bewacht, nur die Zugangstür zum Trakt der Familiengemächer wurde von einem Wächter beaufsichtigt, der angesichts des monotonen Prasselns schläfrig geworden zu sein schien. Natürlich ließ er die yarlara einfach passieren, denn die Vertrauten der teiranda hatten hier freien Zutritt.
Die Edeldame klopfte nach Gewohnheit an die Tür zum Vorzimmer des Audienzgemachs, wo die Kinder zu spielen pflegten. Wie sich zeigte, war es gut, nicht einfach unangemeldet einzutreten, denn im Zimmer waren zwar weder die Mädchen noch ihre Herrin, Kíaná von Wijdlant, noch Asgaý von Spagor anwesend. Aber die opayra und der mestar saßen in so geziemlichem Abstand beieinander in der Fensternische, dass es verdächtig wirkte.
„Ich mag Euch nicht stören”, sagte die yarlara taktvoll. „Ich fragte mich lediglich, ob meine Tochter hier zu finden sei.”
„Nicht, dass ich sie gesehen hätte”, antwortete der mestar, erhob und verneigte sich eilig. „Nicht seit gestern.”
„Am Morgen”, sagte die opayra und nestelte geschäftig an ihrem Schultertuch. „Da war sie hier und wollte eine Geschichte erzählt haben.”
„Die hier?”, fragte die yarlara und zeigte das Buch vor.
„Nicht genau diese. Aber es ging um eine ähnliche Sache.”
„Die Kinder scheinen heute ein auffälliges Interesse daran zu haben, was es mit mystischen Metallen auf sich hat”, sagte der mestar wohlwollend. „Die jungen yalandoray baten mich meinerseits um eine Lektion über das Ungleichgewicht von Silber und Gold in der Überlieferung.”
„Wahrscheinlich hat der teirand ein Märchen erzählt, das die Phantasie der Kinder entfacht hat.”
Kurz überlegte die Dame, ob sie den verschwundenen Schmuck erwähnen sollte, entschied sich aber, Tíjnje nicht bloßzustellen. „Wo ist der teirand?”, fragte sie stattdessen. „Und die teiranda? Vielleicht ist Tíjnje mit der teirandanja unterwegs?”
„Ich muss zugeben, dass ich beide Mädchen nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen habe. Ich nahm an, sie seien mit den teiranday in der Halle.”
„Da sind sie nicht. Ich komme gerade von dort. Die Majestäten und die Kinder sind nicht bei den anderen in der Halle. Es ist auch keiner der yarlay anwesend.”
Die opayra erhob sich stirnrunzelnd. „Keiner von den Herrschaften ist zugegen?”
„Nein, kein einziger. Weder mein Vater noch einer der anderen.”
„Das ist ungewöhnlich”, stimmte der mestar zu. „Hier ist auch niemand. Ich habe mich, ähm, vergewissert, als ich herkam.”
„Was tut Ihr eigentlich hier?”
Die opayra errötete. „Erbauliche Konversation”, behauptete der mestar eilig. Die yarlara hätte geschmunzelt, wären die Umstände nicht so merkwürdig gewesen.
„Sollten wir nach ihnen suchen?”
„Nun, es kann nicht schaden. Wenn sie alle beieinander sind, können sie nicht weit fort sein. Bei diesem Wetter werden sie das Gebäude nicht verlassen haben.”
„Merkwürdig, dass die Kinder verschwunden sind”, sorgte sich die opayra.
„Die werden nicht verschwunden sein, im Gegenteil. Die Eltern werden sie nicht aus den Augen lassen, nach dem, was dem jungen Althopian zugestoßen sein muss.”
Nun schaute die yarlara beschämt zu Boden. Was mochte es für einen Eindruck machen, wenn sie als einzige ihre Tochter so lange unbesorgt nicht gesucht hatte. Was mochte ihr Vater, Tíjnjes Großvater dazu sagen, dass sie das Kind schon nicht viel früher vermisst hatte? War sie eine so gedankenlose Mutter?
„Vielleicht sind sie in den Amtsgemächern des teirand“, schlug die opayra vor.
„Warum sollten sie dort sein?”
„Hier im Gebäude scheinen sie nicht zu sein, wie Ihr gerade selbst sagtet.”
„Sollten wir in der Halle Bescheid sagen?”
„Nein”, entschied der mestar. „Lasst uns zuerst allein Ausschau halten, bevor wir jemanden beunruhigen.”
Die Damen nickten zustimmend. Die yarlara, die keine Ahnung hatte, woher das Bilderbuch genommen worden sein mochte, legte es sorgfältig auf der Puppenburg ab, wo es nicht übersehen werden konnte. Zerstreut betrachtete sie noch einen Moment die darum verstreuten Figuren am Boden. Es war ein großes, aufwändiges Spielzeug, und doch wirkte es so schlicht und übersichtlich, die Püppchen im Verhältnis viel zu groß.
So viele Menschen konnten doch in einer Burg nicht verloren gehen!
***
Der Regen erreichte sie, als sie die Wüste hinter sich gelassen und die äußersten Hügel erreicht hatten. Advon hätte es nicht zugegeben, aber es erleichterte ihn, dass die leere Weite sie wieder freigegeben hatte und die Chaosgeister ihnen nicht gefolgt waren. Andererseits war der Anblick der Obstgärten und der kleinen Gehöfte darin weniger beruhigend, als er ihn im ersten Augenblick empfunden hatte. Der Regensturm hing über ihren Köpfen fest und tauchte die Umgebung in ein seltsames, schmutziggraugelbes Licht, wie der Junge es noch nie zuvor gesehen hatte. Auch Dýamirée schien es unbehaglich zu finden. Die ersten Tropfen, die hinab fielen, waren seltsam, groß und warm und verdampften auf dem heißen Boden, kaum dass sie ihn erreichten. Es war unangenehm schwül.
Der báchorkor legte den Kopf in den Nacken, versuchte wohl, sein heißes Gesicht zu kühlen. Aber das brachte offenbar nicht die gewünschte Linderung. Er verrieb den Regen mit seinen zerschundenen Händen und versuchte dann, seine wilden Locken zurückzustreichen, die ihm in die Stirn fielen.
„Ist Regen hier immer so?”, fragte Dýamirée.
„Was meinst du mit so?”
„Er fühlt sich an, als käme er aus einer ganz alten Pfütze”, erklärte das Mädchen. „Und er duftet nicht. Regen muss duften, wenn er auf dem warmen Boden landet. Der hier erfrischt überhaupt nicht. Der ist nur nass.”
„Du hast recht, Dýamirée Lagoscyre”, bestätigte der báchorkor. „Das ist kein gesunder Regen. Hoffen wir, dass er schnell abzieht.”
Advon lenkte Farbenspiel gen Westen. „Wir sind bald wieder im Cielástel. Da haben wir ein Dach. In Pataghíus Halle kommt der Regen nicht hinein.”
„Was machen wir”, fragte Dýamirée, „wenn der böse alte Mann schon in der Burg ist?”
„Wenn es möglich wäre”, fügte der báchorkor hinzu, „würde ich mich gern zunächst verborgen halten, Advon Irísolor.”
„Wozu? Der sinor kann dir nichts zuleide tun. Wir beschützen dich.”
„Ich weiß. Ich würde ihn trotzdem gern zu gegebener Zeit damit überraschen, dass ich noch lebe und die Chaosgeister mich nicht mit sich genommen haben.”
„Dann versteckst du dich am besten im Stall bei Farbenspiel.”
„Soll ich mich auch verstecken? Sonst weiß die alte Frau doch, dass die dummen Männer mich nicht in das Loch geworfen haben.”
Der Junge dachte nach. Das war ein guter Einwand. Solange sie sich nicht erklären konnten, welche Rolle Siledaú in den Machenschaften des alten sinor spielte, war es wohl das Vernünftigste, Dýamirée so lange versteckt zu halten, bis er entweder mit seiner Mutter oder seinem Vater allein würde reden können. Oder … nein. Nicht mit seinem Vater. Nicht, solange er sich nicht erklären konnte, warum der das Mädchen aus dem fernen Wald mit dem großen See verschleppt hatte. Dafür, dachte Advon verbittert, musste es eine sehr gute Entschuldigung geben, eine, die das nicht Nachvollziehbare auf eine Weise erklärte, die er akzeptieren konnte. Es durfte ganz einfach nicht sein, dass sein Vater, der geliebte, der, zu dem er aufsah und grenzenloses Vertrauen hatte, sich von den Launen einer alten dummen Frau lenken ließ.
„Galéon”, fragte er, „kannst du auf Dýamirée aufpassen, bis ich meine Mutter eingeweiht habe?”
„Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst!”, begehrte Dýamirée auf. „Ich bin doch schon groß!”
„Aber ich darf auf dich aufpassen?”, fragte der báchorkor diplomatisch.
Sie überlegte einen Moment. Dann seufzte sie tief.
„Ich will zu meiner Mama”, gestand sie dann. „Und zu meinem Papa. Ich mag hier nicht sein. Das hier fühlt sich ekelig an. Der Regen macht uns schmutzig.”
Advon trieb Farbenspiel an. Das Einhorn schnaubte und trabte weiter. Besonders große Lust, im Regen zu sein, hatte der Hengst nicht. Der báchorkor schwankte und hielt sich mit einer Hand an Farbenspiels unterem Flügelknochen, während er mit der anderen das Mädchen an sich drückte. Für einen Unkundigen, der mit Sicherheit nie zuvor auf einem Einhorn geritten war, gelang ihm das bemerkenswert gut.
„Woher kommst du eigentlich, Galéon?”, fragte der Junge. „Bist du aus Aurópéa?”
„Nein. Ich bin weiter nördlich geboren worden. Aber ich habe lange Zeit in Aurópéa verbracht. Ich denke, ich bin schon überall gewesen.”
„Auch am großen Meer?”, fragte Dýamirée begierig.
„Ich war sogar auf den Inseln des teirandon Ovéstola.”
„Davon musst du uns unbedingt erzählen!”
„Später. Im Trockenen.”
„Warst du auch schon einmal im Boscargén?”, wollte Dýamirée wissen.
„Ja, auch da bin ich gewesen. Es ist wunderschön dort!”
„Wann denn?”, fragte das Schattensängermädchen gespannt. „Wann bist du bei uns im Wald gewesen?”
„Das … ist schon ein paar Sommer her. Sicherlich noch bevor du geboren wurdest,”
„Aha.”
Advon horchte auf. Etwas in ihrer der Stimme erregte seine Aufmerksamkeit. In dem einen kurzen Wort lag eine lange, unausgesprochene Frage. Aber er kam nicht dazu, nachzuhorchen, denn Farbenspiel schlug plötzlich aufgeregt mit den Flügeln und wurde noch schneller. Er setzte wieder zu seinem flatternden Gleitflug von Hügel zu Hügel an. Der Regen verstärkte sich derweil, und was als einzelne Wassertropfen begonnen hatte, wurde in wenigen Atemzügen zu einem stetigen Fluss. Wie dünne Fäden, wie Wasserstrahlen aus einer Gießkanne stürzte das Wasser nieder. Advon hatte in seinem Leben zwar schon einige Male starke Regenfälle erlebt, jedoch niemals in dieser Art und Weise. Der Junge kniff die Augen zusammen. Die Sicht wurde schlechter, und immer, wenn Farbenspiel nach einem Satz von Hügel zu Hügel auf dem Boden aufsetzte, platschte er in schlierige Pfützen hinein.
Dem Cielástel kamen sie dabei schnell näher, aber das sonst in allen Regenbogenfarben blitzende und schillernde Gebäude hatte vor der massiven Wolkendecke seinen magischen Glanz eingebüßt. Durch den Regen hindurch erschien die Burg farblos und trist, fast transparent und kaum noch auszumachen vor dem Himmel, an dem Pataghíu derzeit keine Macht hatte. Der Junge schauderte. Klatschnass war er zwischenzeitlich, seine Kleidung klebte schwer an seinem Leib. Vor ein paar Gongschlägen war von diesem Unwetter noch nichts zu ahnen gewesen. Und nun begann es in den Wolken auch noch, zu flimmern und gespenstisch zu flackern.
Der báchorkor blickte auf und betrachtete das Wetterleuchten mit unverhohlener Besorgnis.
„Es hat mit den Chaosgeistern zu tun, nicht wahr?”, fragte Dýamirée. Ihre schwarzblauen Haare klebten ihr nass im Gesicht. „Du weißt, was das ist, nicht wahr?”
„Nein. Ich weiß es nicht. Aber ich denke mir, was es sein könnte.”
„Sind wir im Cielástel sicher, Galéon?”
„Es gibt derzeit keinen sichereren Ort.”
Advon seufzte. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn der báchorkor das anders formuliert hätte.
„Los, Farbenspiel! Gib alles, was du hast! Und ihr zwei, haltet euch fest!”
Farbenspiel streckte sich und stieß sich kräftig mit beiden Schwingen ab. Nun schlug ihnen der rinnende Regen scharf ins Gesicht.
„Ich sehe nichts mehr!”, beschwerte Dýamirée sich.
„Dann lass die Augen zu. Farbenspiel kann blind fliegen. Wir sind bald da! Wir …” Er unterbrach sich und kniff die Lider zusammen. Dort unten, schwer zu erkennen durch die Wasserschleier, bewegte sich etwas auf der Straße. Oder, besser gesagt, ein ganzes Stück neben der Straße.
„Da sind Leute unterwegs!”
„Hier? Jetzt?” Der báchorkor nahm das Mädchen fest in den Arm und neigte sich an Advon vorbei, um sehen zu können.
„Ja. Die wollen wohl zum Cielástel.” Advon zupfte Farbenspiel an der Mähne, die nun schwer und verklumpt seitlich an dessen Hals pappte. „He, Farbenspiel! Runter. Die Unkundigen laufen direkt in den Matsch hinein und bleiben stecken!”
Das Einhorn schnaubte unwillig, tat aber brav, wie ihm geheißen wurde.
„Und wenn das der böse alte Mann ist?”, gab Dýamirée zu bedenken.
„Ist er nicht. Ich hab den sinor schon einmal gesehen. Da reist jemand in einer vornehmen Sänfte, mit einem Reiter dabei. Wahrscheinlich können sie vom Erdboden aus kaum noch sehen, wohin sie laufen. Wir müssen ihnen helfen, bevor sie in die Wüste abkommen!”
Farbenspiel segelte dem Erdboden entgegen, preschte durch die Wasserlachen, die sich im Sand gebildet hatten, und erschreckte das Pferd, das einen bis auf die Knochen durchnässten jungen Mann trug. Die Maultiere, die die Sänfte trugen, scheuten, aber der Knecht, der sie führte, hatte sie schnell wieder unter Kontrolle.
Der Vorhang, der die Insassen der Sänfte vor neugierigen Blicken schützte, aber die Feuchtigkeit nicht abhalten konnte, wurde ein Stück weit aufgeschoben. „Was ist hier los?”, rief eine alte Männerstimme.
Der junge Reiter brachte sein Pferd zum Stehen und schob sich seinen Hut aus der Stirn.
„He!” Advon zügelte sein Reittier. „Ihr kommt vom Weg ab. Wollt ihr zum Cielástel?”
„Ja”, rief der Reiter ihm entgegen. „Der Großmeister schickt uns, um dort Schutz vor dem Unwetter zu suchen!”
„Ihr kommt vom Weg ab und strebt zur Wüste! Folgt uns! Wir wollen auch schnell in die Burg!”
Der Reiter zögerte. Dann trabte er zur Sänfte hinüber, neigte sich herab und wechselte einige Worte mit den Personen darin.
„Wer sind die?”, fragte Dýamirée neugierig.
„Das ist ein maedlor“, flüsterte Galéon. „Ein Bediensteter des konsej. Und diese Sänfte kommt mir bekannt vor. “
„Musst du dich vor denen auch verstecken?”, fragte Dýamirée ernsthaft.
„Nein. Ich hoffe, dass sich diese Geschichte geklärt hat.”
Der Reiter hatte sich seine Anweisungen geholt und kam, die Sänfte dicht hinter sich, zu ihnen. Advon warf einen neugierigen Blick in das Innere und erblickte dort zwei uralte Leute, einen Mann und eine Frau, beide möglicherweise betagter, als Siledaú es war. Die Frau sah erschreckend aus, aber wie er auf den zweiten Blick erkannte, lag das daran, dass die aufwändige Schminke, die sie im Gesicht getragen hatte, durch den Regen völlig zerlaufen war.
Der alte Mann schaute mit trüben, aber aufmerksamen Augen zu dem Kind auf dem Einhorn auf.
„Bist du etwa der Sohn des Großmeisters?”, fragte der Alte.
„Ich bin Advon Irísolor. Wollt Ihr mit uns bis zur Burg reisen? Wir haben es aber wirklich sehr eilig!”
„Natürlich bist du der Junge”, sagte die alte Dame mit warmer Stimme. „Möge es den Mächten gedankt sein, dass du wohlbehalten bist! Dein Vater war so sehr in Sorge!”
„Mein Vater?”
„In die Wüste ist er geflogen, um dich zu suchen!”
Advons Herz hob sich. Sein Vater war auf der Suche nach ihm? Jetzt? Im Regen? Angesichts des drohenden Sturms? „Bei den Mächten”, murmelte er entsetzt.
Der Alte neigte sich hinaus, um besser sehen zu können. Als er den báchorkor erblickte, schien er ernsthaft betroffen. Dann lächelte er über sein von tiefen Falten gezeichnetes Gesicht.
„Da haben die Kinder dich also gerettet”, sagte er ruhig.
„Habt Ihr meine Botschaft entschlüsselt?”, fragte Galéon rätselhaft.
„Deshalb sind wir auf dem Weg zu den arcaval’ay.”
„Mit einem Anliegen?”
„Mit einer Warnung.”
Advon verstand nicht, wovon gesprochen wurde, aber da der báchorkor erleichtert nickte, schien es zumindest etwas Erfreuliches zu sein, „Nun, da ich meine Sprache zurück habe”, antwortete der junge Mann ruhig, „schwöre ich Euch bei allen Mächten, dass ich nichts mit dem Diebstahl zu tun habe, ehrenwerter sinor.”
Noch ein sinor? Aber was für ein Diebstahl? Advon warf einen verwirrten Blick über die Schulter, doch Galéon sah nicht so aus, als wolle er noch etwas hinzufügen. Ganz abgesehen davon, dass er triefnass war, bot der junge Mann ein Bild des Jammers.
„Wirst du als Zeuge gegen Úldaise Tiáramalé sprechen?”, fragte der sinor.
„Mit Freuden, Herr. Nachdem die arcavala’ay ihr Urteil gesprochen haben.”
„Und du”, sagte die alte Frau mit sanftem Blick auf Dýamirée, „du bist das Töchterchen des Schattensängers, nicht wahr? Den Mächten sei es gedankt!”
„Woher wisst ihr das?”, fragte Dýamirée überrascht.
„Er ist in Sorge um dich, Kleines! Er sucht nach dir.”
„Ihr habt meinen Papa gesehen?” Dýamirée begann aufgeregt, in Galéons Armen zu zappeln. „Wo ist er? Wo ist mein Papa?”
„Er ist in die Wüste gelaufen”, sagte der maedlor, der sich vielleicht in Erinnerung bringen wollte. Er klang recht unwillig, geradezu verärgert. „Er schickte uns auf den Weg und war dann hinter den Großmeister her, als sei ihm ein Chaosgeist auf den Fersen.”
Die Kinder wechselten betroffene Blicke miteinander. Der báchorkor schloss müde die Augen.
„Keine Angst”, sagte Dýamirée schließlich. Advon fühlte ihre kleine Hand tröstend auf seiner Schulter. „Mein Papa wird deinen beschützen.”
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