
Ich hatte die Außentreppe den Turm hinauf etwa zur Hälfte hinter mich gebracht, als der erste Blitz niederzuckte und den Cielástel für weniger als einen Wimpernschlag wieder in ein bunt funkelndes Farbenmeer tauchte. Doch diese kristallene Pracht verlosch augenblicklich, und im nächsten Moment war mir wieder, als stünde ich auf Stufen aus trübem, beschlagenen Altglas.
Instinktiv hielt ich inne und begann, zu zählen. Aber auf den Blitz folgte kein Donner. Entweder, das Gewitter war sehr weit entfernt, oder es war gar keines.
Ich klammerte mich an dem Stab fest und eilte weiter nach oben. So schnell wie möglich wollte ich wieder in das Gebäude hinein, auch wenn ich dort wieder von Gold umgeben sein würde. Der Regen machte die Stufen gefährlich rutschig, wenn ihre Oberfläche auch angeraut war, sodass wohl niemand daran ausgleiten konnte. Doch ich traute der Konstruktion nicht.
Ein, zweimal sah ich die übrigen Regenbogenritter auf den Mauern und den anderen Treppen, wahrscheinlich immer noch fieberhaft auf der Suche nach der alten Frau. Sie bemerkten mich zwar, kümmerten sich aber nicht darum, was ich hier tat; aufgeregt wirkten sie und hektisch. Zwar verloren sie sich in dem riesigen, weitläufigen Gebäude, aber ich musste unwillkürlich an Ameisen denken, die in Unruhe gerieten, wenn etwas ihre Wege störte.
Weiter, weiter! Schneller sein als der Indigofarbene mit dem alten Mann. Den würde die Treppe Mühe kosten, vielleicht würde es dem Ritter auch gelingen, ihn ein wenig aufzuhalten.
Wieder ein Blitz, wieder war der Cielástel für einen winzigen Moment wieder ein Gebäude aus Farben und Licht. Aber diesmal wartete ich nicht. Weiter, weiter …
Ob Yalomiro und Cýelú von dem Wetter überrascht worden waren? Yalomiro mochte den Regen, aber ich war mir sicher, dass er dieses Wetter als ebenso seltsam und bedrohlich empfinden würde wie ich. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, dass er unter diesen Umständen möglicherweise allein in der Wüste umher irrte. Und Dýamirée … die Kinder! Ob Dýamirée und dieser unbekannte Junge es geschafft hatten, einen sicheren Unterschlupf zu finden?
Der Regen war unangenehm, auf eine sich verkehrt anfühlende Weise warm und schal. Er brachte überhaupt keine Erfrischung, nahm nichts von der Schwüle aus der Luft. Ich wäre nicht so weit gegangen, ihn als giftig zu bezeichnen, aber doch weitestgehend als ungenießbar für alles, was danach dürstete.
Dýamirée hatte stets großen Spaß daran, wenn es im Boscargén regnete. Stundenlang konnte sie am See sitzen und sich daran erfreuen, wie die Regentropfen auf die Wasseroberfläche trommelten, wie sich Wasser in den Bodenvertiefungen sammelte, wie Staub und Hitze von den Blättern gewaschen wurden und die Pflanzen sich satt tranken. Sie freute sich ebenso, wenn die Wolken wieder aufrissen und die regennassen Wiesen zu funkeln begannen, als habe jemand winzige Diamanten darauf verstreut. Ich dachte daran, wie ich einmal mit ihr an der Hand kurz nach dem Regen durch den Wald gegangen war. Dýamirée hatte damals noch nicht sprechen können, hatte nur munter vor sich hin gebrabbelt und war mit ihren kleinen Füßchen in jede Pfütze hinein gehüpft. So versunken war sie gewesen, dass es mir unheimlich wurde. Sie matschte nicht im Schlamm, wie es andere Kleinkinder getan hätten. Sie ließ sich buchstäblich in das Wasser fallen.
Das war zu einer Zeit gewesen, zu den wir noch nicht geahnt hatten, dass Noktáma ihr keine Magie gegeben hatte.
Nein, dieser Regen würde Dýamirée keine Freude bescheren. Hoffentlich war der Junge verständig genug, dass er einen Unterschlupf für sie beide gesucht hatte. Hatte Elosál eigentlich erwähnt, wie alt ihr Sohn war? Ich war ohne es zu hinterfragen davon ausgegangen, dass er etwa gleichaltrig mit Dýamirée war. Aber was, wenn er jünger war, ein kleineres Kind, das nicht verständig genug war, um die Situation zu verstehen?
Nein, dachte ich. Das hätte Elosál erwähnt. Bestimmt war Advon schon viel älter, ein verantwortungsbewusster Teenager vielleicht, der Dýamirée beschützen würde. Zumindest hoffte ich das.
Zu meiner großen Überraschung erreichte ich den Eingang oben im Turm ohne weitere Hindernisse und schlüpfte durch den kunstvoll verschnörkelten Torbogen. Im selben Moment blitzte es wieder, und aus den Augenwinkeln sah ich etwas aufschimmern, nicht gleißend bunt, sondern metallisch und kalt. Ich schaute überrascht hin, aber der Lichtreflex war bereits verloschen.
Hatte der Blitz den Stab ganz kurz aufleuchten lassen? Nein, unmöglich. Der unschmelzbare Eiskristall war zerstört und kaputt.
Von Pataghíus Halle trennte mich nur noch eine ausladende Treppe mit flachen Stufen. Offenbar hatte ich den Indigofarbenen und den sinor tatsächlich weit abgehängt, weiter unten im Turm hörte ich Stimmen. Ich packte den Stab und huschte damit in den Saal. Dort war es einladend hell. Das schmutzige Unwetterlicht schien nicht an der magischen Beleuchtung vorbei zu gelangen, die die fajía heraufbeschworen hatte. Ich konnte nicht ausmachen, ob und welche Lichtquellen sie dazu verwendete, aber war ein warmer, goldener Glanz, wie Abendsonne an Sommertagen.
Die Großmeisterin hatte mich erwartet. Sie saß nun auf einem der beiden Thronsessel und blickte mir unruhig entgegen. Als sie den Stab sah, erkannte ich für einen ganz kurzen Moment dieselbe Furcht in ihren goldenen Augen, die ich zuvor bei den arcaval’ay bemerkt hatte.
„Wohin soll ich ihn legen?”, fragte ich. „Der sinor Úldaise ist jeden Moment hier.”
„Möge Pataghíu es uns vergeben”, sagte sie. „Hier, einfach auf den Boden, Meisterin Salghiára. Ich will, dass jeder der meinen das Ding offen vor Augen hat, ohne einen Hinterhalt zu fürchten.”
Ich legte den Stab nieder und erwartete halb, dass der prächtige Fußboden irgendwie damit reagieren würde. Aber es geschah nichts dergleichen. Der Stab klackerte lediglich hölzern-metallisch, als ich ihn hinlegte.
Elosál betrachtete den Stab nachdenklich einen Moment.
„Er ist tatsächlich kaputt”, sagte sie dann.
„Natürlich. Yalomiro hätte doch nie eine gefährliche Waffe in Euer Haus gebracht.”
„Doch, Meisterin Salghiára, das hätte er getan, ebenso wie meinesgleichen nicht damit gezögert hätte, den Etaímalon zu erstürmen, wäre es um Advon gegangen. Mögen die Mächte wissen, was Siledaú sich dabei gedacht hat. Es …” Sie zögerte. Dann vergrub sie mit einem Seufzer ihr Gesicht in den Händen. Ich stand einen Augenblick ratlos da, und mir wurde erneut klar, dass ich vermutlich niemals wirklich verstehen würde, was dieses Artefakt für die arcaval’ay darstellen mochte.
„Soll ich es irgendwie bedecken?”, fragte ich unbeholfen.
„Nein. Es geht schon. Sagt mir nur noch, wieso Ihr allein kommt.”
„Der Violette hat mich vorgeschickt. Er will die Einhörner in den Stall holen.”
„Bei den Mächten, die Einhörner. Natürlich. Wo habe ich nur meinen Kopf.” Sie zwang sich ein Lächeln auf ihr feines Gesicht. „Nun, ich hoffe, er ist schnell wieder hier.”
„Der Regen”, sagte ich. „Habt Ihr den Regen bemerkt?”
„Natürlich. Es ist nicht gut, dass gerade jetzt dieses Unwetter gekommen ist. Wenn ich es nicht besser wüsste, es würde mich beunruhigen.”
„Die Kinder.”
„Ja. Zu viel Sorge, zu viel Seltsames zugleich, um sich auf das Eine zu besinnen.”
„Und was hat dieser sinor Úldaise mit alledem zu tun?”
„Ihr seid ihm begegnet?”
„Ja. Er kam just auf den Hof, als wir hinabgingen Kein besonders sympathischer Unkundiger. Eure Ritter scheinen ähnlich zu denken.”
„Mit alledem was sich zurzeit an verwirrenden Dingen zuträgt”, sagte sie, „hat dieser Mann am wenigsten zu tun. Abgesehen davon, dass ihm das Land gehört, auf dem wir … Spuren gefunden haben. Und wenn das kein Zufall wäre, dann ist all das andere nur Nebenhall von etwas Größerem. Mögen die Mächte unsere Kinder beschützen. Und unsere hýardoray. Denn der Regen macht mir Angst.”
***
Der Sand schien zu atmen. Cýelú spürte keinen zuverlässigen Boden mehr unter den Füßen, als die Wände der Senke sich hoben, sich aufzutürmen begannen wie die eines tiefen Kraters und ihre Neigung so steil wurde, dass es unmöglich war, sich aufrecht zu halten. Der Sand verlor seine Festigkeit. Hätte Cýelú in diesem Moment die Konsistenz jemandem beschreiben müssen, er hätte es am ehesten mit Schaum verglichen. Mit porösem, staubigem, krümeligen Schaum.
Zugleich regnete es immer heftiger. Dort, wo der Regen auf den überhitzten Sand prasselte, schien er augenblicklich zu verdampfen. Die Sandschleier vermischten sich mit den Dunstschwaden, wurden schwer und matschig.
Und was immer unter den Steinpalmenpfählen lauerte, seine Augen leuchteten gespenstisch, und es bleckte im Finsteren seine Zähne.
Cýelú war starr vor Entsetzen, aber nicht so lange, dass er sich seinem Schicksal ergeben hätte. Der Ritter warf sich auf den Bauch und begann fieberhaft, im rieselnden Sand zu wühlen. Irgendetwas musste ihm dort doch unter die Finger geraten, was ein bisschen Halt bot. Die Senke hätte sich niemals über all die Zeit halten können, hätte es nicht unter der Sandschicht irgendwelche festen Objekte gegeben, die ihr Struktur verliehen.
„Ich will”, knirschte er zwischen Sand und Regen, „ich will einen Halt finden!”
Wie lächerlich. Als würde es etwas nutzen, den Willen unbelebten Dingen aufprägen zu wollen, von denen er nicht sicher sein konnte, dass sie überhaupt da waren.
Und doch – plötzlich war da etwas. Mürbe, aber zäh und gerade so beschaffen, dass er hastig seine Hand darum schließen konnte. Cýelú griff zu und flehte zu den Mächten, dass was immer er da gepackt hatte, ihn würde halten können.
Tatsächlich rieselte der Sand weiter in den Abgrund, wo er sich jedoch nicht aufstaute und die Senke wieder zu füllen begann. Irritiert erkannte Cýelú, dass de Sand stattdessen an dem lauernden Wesen unter dem Holz vorbeifloss, wie Rauch durch einen Abzug. Der durch den Regen schwer und zähflüssig gewordene Sand rutschte klatschend hinterher wie kleine Schlammlawinen. Zurück blieb eine Fels- und Schotterschicht, ursprünglicher Boden aus Zeiten wohl, bevor der erste Regenbogenritter seinen Fuß in dieses Weltenspiel gesetzt hatte, verschwunden unter dem in ungezählten Sommern und Wintern hierher gewehten Sand. Das, worin Cýelú seine Finger festgekrallt hatte, war einmal organisch gewesen, eine uralte Wurzel, sie unter dem Sand die Zeiten überdauert hatte und dies wahrscheinlich nur noch wenige Herzschläge lang durchhalten würde. Der große Mann in seinem goldenen Rüstzeug war mehr, als das im Geröll verankerte Holz halten konnte.
Der Ritter versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, und schaute zum Himmel. Viel zu weit weg, hörte er Perlenglanz brüllen und verfluchte sich selbst, das Tier festgebannt zu haben. Der Hengst hätte ihn nun retten können.
Recht geschah ihm das! Hätte er auf das Tier gehört, anstatt sich über dessen Instinkte hinweg zu setzen, dann wäre ihm das hier gar nicht passiert.
Der Regen trommelte auf seinen Helm nieder, als wolle er ihn zusätzlich nervös machen. Cýelú blickte sich um. Hier und dort ragten unter der nassen Sandschicht Felsbrocken hervor, die aussahen, als ließe sich daran heraufklettern. Aber der nächste davon befand sich gerade ein kleines Stück weit außerhalb von Cýelús Reichweite.
Die Wolken flimmerten unheilvoll. Was war das nur? Das war beim besten Willen kein Wetter, wie Cýelú es in dieser Welt oder anderswo erlebt hatte. Er spuckte erneut Sand aus und versuchte dann, sich vorsichtig, an der Wurzel hinaufzuziehen. Wenn es ihm glückte, seinen Fuß dort hinauf zu setzen und sich dann zum nächsten Felsen vorzutasten … mit etwas Geschick konnte das gelingen. Immerhin hatte der Boden aufgehört, sich zu bewegen.
Dafür bewegte sich nun etwas anderes. In seinem Versteck unter den Pfählen rührte sich etwas, etwas Abnormes, Ungeheuerliches. Durch den dichten Regenschleier konnte Cýelú es erst erkennen, als es ihm schon viel zu nahe war. Der Ritter verharrte erstaunt mitten in der Bewegung und kniff die Augen zusammen. Das, was da auf ihn zukam, glich einer absurd langen, armdicken Schlange, aber es bewegte sich anders. Es wand sich nicht schlängelnd in seine Richtung, sondern kam geradlinig näher, so gleichmäßig, als marschiere es auf winzigen Beinchen voran; ein Zwischending aus einem Tentakel und einem Tausendfüßler ohne erkennbaren Kopf. Es musste irgendwie mit dem lauernden Wesen unter dem Holz zusammenhängen, wahrscheinlich im wahrsten Sinne des Wortes.
Der Goldene fluchte und beeilte sich, zum Ansatzpunkt der Wurzel zu kommen. Das verlangte ihm Verrenkungen ab, die er mit seinem Rüstzeug kaum bewältigen konnte. Der Regen schien immer fester zu werden, wahrscheinlich, um auch die letzten Spuren des Sandes in die Tiefe zu spülen, und den Ritter gleich dazu.
Ein Blitz zuckte nieder und blendete Cýelú für einen Augenblick in einer seltsamen Helligkeit, ein Gleißen, das nicht, dem ähnelte, mit dem Pataghíu sich üblicherweise zu offenbaren pflegte. Und gerade so, als sei dieser Blitz das Startsignal gewesen, regte sich das Wesen unter dem Holz. Cýelú hörte, wie die schweren Stämme sich gegeneinander verschoben und aufeinander krachten, so als nähme jemand Brennscheite von einem großen Stapel herunter.
Der marschierende Tentakel war nun so nahe, dass der Goldene tatsächlich erkannte, dass er unzählige kleine Spinnenbeinchen hatte. Für einen ganz kurzen Moment überlegte Cýelú, ob er versuchen sollte, sein Schwert zu ziehen und das Ding einfach auf eine weniger bedrohliche Länge zu hacken, besann sich aber. Wenn er nun hier, in dieser instabilen und unkalkulierbaren Lage seine Waffe verlor, wäre es das wohl Dümmste, was ihm widerfahren konnte. Also beschloss er, das Ding vorerst zu ignorieren, und arbeitete sich weiter voran. Wenn es den Versuch wagen sollte, ihn zu packen, benötigte er eine feste Basis.
Er schob sich bäuchlings weiter nach oben, aber das Gebilde kroch ihm geduldig und ohne Eile nach. Bei den Mächten, wie lang konnte es sein? Und würde es überhaupt etwas nutzen, ein Stück davon abzuhauen? Würde es nicht vielleicht einfach weiter nachwachsen, oder sich womöglich verzweigen?
Immerhin schien Perlenglanz nicht in Gefahr zu sein. Er röhrte und trompetete weithin hörbar gegen das Regenrauschen an, aber offenbar griff ihn nichts an. Noch nicht.
Cýelú erreichte die Wurzel, setzte den Fuß darauf und richtete sich vorsichtig auf alle viere auf. Er balancierte auf dem mürben Holz und tastete um sich, nach dem nächsten griffigen Stein.
Das Wesen unten im Trichter bewegte sich heftiger. Die Holzpfähle polterten seitlich weg. Das spornte Cýelú an. Offenbar war er auf einem guten Weg, der Kreatur zu entwischen. Nun, ohne Gegenwehr bekommen sollte sie ihn nicht! Der Ritter warf einen Blick über seine Schulter und erstarrte. Das, was da aus der Tiefe auftauchte, war absurd und entsetzlich. So eine Kreatur hatte er selbst in den Chaoskriegen nicht aus der Nähe gesehen. Es war so bizarr und unmöglich, dass der Ritter für einen Augenblick überhaupt nicht in der Lage dazu war, Entsetzen zu empfinden. Zu sehr war sein Verstand damit abgelenkt, zu verstehen, was es überhaupt war, das da versucht hatte, Form anzunehmen und in den Bereich seiner Wahrnehmung einzudringen.
Es war … schwärzer als schwarz, hatte mehr oder weniger die Form eines Tannenzapfens und bestand ringsum aus in einem kränklichen, giftigen Licht schimmernden Glotzaugen, Reißzähnen und war umwogt von diesen Tentakeln, viele davon dick wie Taue, die meisten fein und duftig wie Einhornhaar.
Cýelú sah all das, und dann war sein Geist plötzlich blank und leer. Alles, was er sich gerade noch gedacht, geplant und zurechtgelegt hatte, verblasste vor der Erkenntnis, dass diese Kreatur ihn nun angreifen würde, und dass niemand, nicht einmal nicht einmal Pataghíu selbst sie daran würde hindern können. Pataghíu hatte keine Macht über diese Geschöpfe.
Dieses Wesen hatte Advon getötet. Seinen geliebten, seinen unschuldigen, seinen unkundigen kleinen Sohn. Den, den er vor der Gefahr aus dem Norden hatte schützen wollen, indem er sein Herz beschmutzt hatte, während hier, im Süden, die Chaosgeister außer Kontrolle gerieten. Während er, während sie alle abgelenkt gewesen waren, ohne zu erkennen, dass die Wesen aus dem Chaos längst an ihnen vorbeigeschlichen waren.
Dieses Wesen würde ihn verschlingen, und dann würde es aus seinem geheimen Sandtrichter hervorkommen auf seinen zahllosen gefüßten Tentakeln und es würde zum Cielástel kriechen, und wer wusste schon, ob es den arcaval’ay gelingen würde, ihm Einhalt zu gebieten.
Elosál, Geliebte!, dachte Cýelú. Es ist alles meine Schuld!
Einen ganz kurzen Moment lang ließ er all das, seine Reue, seine Schuldgefühle, seine Verzweiflung auf sich einstürzen. Das schwarze Wesen hatte alle in seine Richtung weisenden Augen auf ihn gerichtet und bleckte seine Zähne mit mehr als nur einer gräulichen Zunge. Cýelú schloss die Augen und atmete tief ein. Kraftlos hob er die Hand …
Und schleuderte der Kreatur einen Feuerball entgegen, der heißer loderte als ein gleißendes Feuer, heiß genug, um in Asche zu verwandeln, was aus Materie bestand, heiß genug, um es binnen eines einzigen Wimpernschlages zu zerstören und vom Weltenspiel zu tilgen, mit Pataghíus unbezwingbarem magischen Feuer. Feuer, so furchtbar und alles verzehrend, dass selbst die Chaosgeister davon weichen mussten.
Zumindest war das Cýelús Plan gewesen. Das jedoch, was er in seiner Hand geformt hatte, mit so viel heißer Wut und Verzweiflung, dass er den Nachhall in seinen Adern spürte, verpuffte in einem jämmerlichen Funkenregen, kaum eine Armlänge von ihm entfernt.
Cýelú klammerte sich an den Stein, starrte verblüfft auf seine Fingerspitzen und benötigte einen Augenblick, um zu begreifen, was geschehen war.
Der Regen prasselte höhnisch auf seinen Helm. Das merkwürdig warme Wasser war durch jede Ritze seiner Rüstung gedrungen. Sein Unterzeug klebte ihm am Körper, nicht nur vor Schweiß.
„Bei den Mächten”, wisperte Cýelú tonlos. „Wasser. Verfluchtes Wasser!”
Gerade noch rechtzeitig bemerkte der Ritter einen zweiten Tentakel, der einen Umweg genommen hatte und nun von oben auf ihn zustrebte. Cýelú ließ den Stein los, kam taumelnd auf die Knie und hatte kaum genug Raum, sein Schwert zu ziehen. Zwar verfehlte er sein Ziel, aber zumindest funktionierte seine Waffe auch ohne Magie im Regen und glitt in den Stein wie in ein Stück Butter. Der eine Tentakel zuckte tatsächlich kurz zurück, näherte sich dann jedoch mit einer Zielstrebigkeit, die man für Neugierde hätte halten können. Der Chaosgeist streckte weitere Gliedmaßen aus und begann, sich auf eine wunderliche, kreiselnde Art voran zu bewegen, ohne durch die Neigung des Felstrichters beeinflusst zu werden. Als er sich von der Stelle löste, an der er ursprünglich gehockt hatte, ertönte ein ekelig-schmatzendes Geräusch.
Cýelú versetzte dem lästigen Auswuchs, der nach seinem Fuß tastete, einen wütenden Tritt mit der Ferse und zerquetschte dabei ein Stück davon zu einer stinkenden, triefenden Masse, allerdings, ohne es nennenswert zu bremsen. Den anderen, der sich für das Schwert interessierte, packte der Ritter, riss ihn vom Untergrund und schleuderte ihn ein Stück von sich, um die Klinge wieder zu befreien und sich halbwegs aufrecht hinzustellen, soweit das Gefälle es erlaubte.
Der Chaosgeist hatte keine Füße, bewegte sich dennoch auf diese bizarre Weise voran und gab dabei ein grollendes Geräusch von sich, als knurre ihm der Magen. Und damit nicht genug: So als sei der massige Körper ein Korken gewesen, der ein Fass verschlossen hatte, quoll nun am Grund der Senke etwas heraus, nein, quoll nicht, sprudelte geradezu hervor wie eine Quelle. War das etwa noch mehr Wasser? Grundwasser?
Cýelú versuchte es wider besseres Wissen erneut mit einem Feuerbann, aber es hatte keinen Zweck. Durch den Regen war er viel zu nass geworden, um effektiv zu zaubern. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als dieses monströse Ding mit dem Schwert zu bekämpfen. Solange es hier in der Senke lauerte und er jeden Moment den Halt verlieren konnte, war es aussichtslos, an Flucht zu denken.
Chaosgeister, das wusste Cýelú Irísolor, waren unsterblich. Er würde es nicht besiegen können. Aber wenn es nur gelang, genug Abstand zwischen sich und das Wesen zu bringen, es zu verwunden, sodass es sich regenerieren musste. Das würde ihm die Zeit verschaffen, aus der Senke herauszuklettern, zu Perlenglanz zu rennen und die arcaval’ay zu alarmieren. Zusammen würde es ihnen gelingen, zumindest dieses Wesen zurückzuschlagen und zu versiegeln, um Advon …
Er packte die Klinge fester und ließ es herankommen. Und wenn es nicht das Einzige war? Wenn es noch mehr von diesen Dingern gab? Wenn Siledaú die Chaosgeister herbeigelockt hatte, mit Advon, seinem Advon, dem unschuldigen geliebten Kind als Köder? Wenn er in seiner Leichtgläubigkeit und Dummheit zugelassen hatte, dass die Chaosgeister erneut und diesmal endgültig auf das Weltenspiel losgelassen würden?
„Nein!”, knirschte Cýelú. Der Chaosgeist war nun dicht vor ihm. Ein gezielter Schlag vielleicht, einer nur, der das Wesen so hart traf, dass es in den Abgrund zurück kugelte und ihm die Zeit gab, zu fliehen …
Cýelú riss die Klinge hoch und brüllte den Chaosgeist an.
Der schien zu stutzen. Einen Moment hielt er in seiner Kreiselbewegung inne und blieb reglos stehen.
Dann streckte es mit einem Ruck all seine Gliedmaßen stocksteif in die Luft und ließ sie mit einem ohrenbetäubenden Kreischen alle zugleich auf den Ritter niedersausen, während ein neuerliches Gleißen scharfe Schatten durch den Regen schnitt.
Hinterlasse einen Kommentar