
Elosál war wütend und verletzt. Advon, ihr über alles geliebter Sohn, er irrte also außerhalb des Cielástel umher. Was immer dazu geführt hatte, welche Rolle das kleine Mädchen dabei gespielt haben mochte … augenblicklich hätten Cýelú und die anderen sich auf die Suche machen müssen. Stattdessen hatte Siledaú die Sache an sich gerissen, Cýelú erneut zugestimmt wie ein verschüchterter Knabe.
Diesmal hatte Elosál die Geduld mit dem Mann verloren, die sie so sehr liebte. Und erneut wünschte sie sich von Herzen, nie diese alte Frau eingelassen zu haben, die mit ihrer Prophezeiung aufgetaucht, sie alle in Angst versetzt und dabei offenbar das Herz ihres hýardor in Bande gelegt hatte.
Úldaise. Wieso war sie selbst ausgerechnet jetzt auf den Gedanken gekommen, den sinor vorzuladen, noch bevor sie von dem schrecklichen Geheimnis der Höhle gewusst hatte? Hätte das alles jetzt nicht noch einen Moment Zeit gehabt?
Und wenn sie einen der Ritter ausschickte, den sinor, der sicherlich schon auf dem Weg war, abzufangen und die Audienz zu verschieben? Sollten nicht alle ausschwärmen und Advon suchen, anstatt das der Alten zu überlassen, die sich immer mehr herausnahm, hier, im Heiligtum? Warum schwieg Pataghíu dazu? Wieso kam sie, die fajía, sich immer fremder vor?
Elosál hatte die Ritter stehen gelassen und war in die Gemächer der fajiae unterhalb des Saales gestürmt. Ein paar Herzschläge für sich, die brauchte sie nun. Etwas Zeit, die Wut zu ersticken und wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Und dann, das hatte sie beschlossen, würde sie Sonnenstrahl von der Weide holen und sich ganz allein auf die Suche nach Advon machen. Mochten die Mächte verhüten, dass der Knabe in Gefahr geriet. Mochte Pataghíu geben, dass das kleine Mädchen ihm nicht zu Schaden gewesen war.
Elosál schlüpfte um die Ecke in ihr Gemach, nahm aus den Augenwinkeln etwas wahr, das nicht hierher gehörte und erstarrte. Dann fuhr sie herum und warf, ohne nachzudenken, einen Bann danach, noch bevor sie gänzlich erkannte, was es war. Es war pechschwarz. Das genügte, um uralte Instinkte aufzustören.
Sie rief ihre Wut heraus, traf und schaute erst dann, was sie getan hatte.
Der Mann, den sie angegriffen hatte, war zu Boden gegangen unter dem Hieb, den sie ihm versetzt hatte. Elosál verharrte erschrocken und starrte verständnislos auf den leblosen, schwarz gekleideten Körper, der da auf dem Fußboden ihres privaten Gemachs lag. Hatte sie ihn getötet?
Zögernd ging sie näher heran. Nein, er lebte, zuckte nun und begann, wieder zu atmen, schnappte nach Luft. Seine silbrigen Augen schauten starr zu ihr auf. Ein camat’ay! Wo kam er her? Wie konnte er den Cielástel betreten haben?
Sie neigte sich zaghaft über ihn. Ein attraktiver Mann von schlanker Gestalt und mit ernsten Gesichtszügen. Sein schwarzes Haar und der Schatten seines Bartes waren bereits von silbernen Strähnen durchzogen. Die fajía betrachtete ihn einen Moment nachdenklich. Sie alterten. Noktáma hielt die Zeit nicht von ihren Dienern fern.
Er hätte sie mühelos überraschen und niederstrecken können, das war ihr vollkommen klar. Getan hatte er es nicht. Er hatte nicht einmal versucht, sich zu wappnen oder zu verteidigen.
Der camat’ay war bei Bewusstsein und schon dabei, sich aufzurappeln. Elosáls Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie wich zurück und hob die Hände, bereit, ihn zu töten, wenn es nötig würde. Aber er blickte demütig zu Boden, hob beschwichtigend die linke Hand. Dann streckte er ihr in der Rechten etwas entgegen, bot es ihr dar wie eine Gabe.
Elosál zögerte und ging einen Schritt näher heran. Wachsam, nur vorsichtig. Es konnte eine Falle sein. Aber es war nur ein abgegriffenes schwarzes Kuscheltier. Ein Spielzeug. Die fajía streckte vorsichtig die Finge danach aus.
„Bitte, hohe Dame”, sagte der Mann leise, „gebt mir meine Tochter zurück.”
Sie nahm das Ding an sich. Es war nicht wirklich zu erkennen, was es darstellen sollte. Jemand hatte es angefertigt, der wenig Talent zum Nähen und sich dennoch die Mühe gemacht hatte.
„Ihr seid Meister Lagoscyre, nicht wahr?”, fragte sie leise.
„Ich bin ihr Vater”, antwortete er demütig.
Elosál betrachtete versonnen das Kuschelwesen. Advon besaß ähnliches Spielzeug.
Hatten die anderen bemerkt, dass sie Magie gewirkt hatte, so nahe bei ihnen? Natürlich. Sie würden gleich hier sein.
„Erhebt Euch”, sagte sie. „Was tut ihr hier in meinem Gemach?”
Er stand auf und wich weiterhin ehrerbietig ihrem Blick aus. „Mich trieb die Neugier.”
„Auf mich?”
„Nein. Auf die alte Frau, die bei Euch ist.”
„Und wurde Eure Neugier befriedigt?”
„Nein. Es sind nur noch mehr Fragen dazu gekommen, nach dem, was ich von hier aus belauschen konnte.”
„Elosál?” Das war Cýelús Stimme, er rannte, und die anderen arcaval’ay waren ihm direkt auf den Fersen. Natürlich hatten sie bemerkt, dass hier ein Kampf auszubrechen drohte. Wenn Elosál zauberte, dann war es für ihre Sinne auf weite Distanzen zu spüren. Dann rasten sie herbei, um die Dame zu beschützen.
Der Schattensänger verschränkte die Arme vor dem Körper, die Handflächen nach außen. Elosál wandte sich gerade noch rechtzeitig um und trat vor ihn, bevor die Regenbogenritter in den Raum stürzen und ebenso unbedacht reagieren konnten wie sie. Dass sie dem Schattensänger den Rücken zukehrte, hätte leicht ihr Ende sein können. Aber es erschien ihr richtig, es zu wagen. Sie steckte ihren Rittern die Hände entgegen und formte zur Vorsicht einen halbfertigen Schild.
„Zurück”, gebot sie, während sie schon spürte, wie auch bei den arcaval’ay sich instinktiv Magie zum tödlichen Schlag manifestierte. „Hört ihn an.”
„Ein Schattensänger!”, rief einer der Sieben, sie wusste nicht zu sagen, welcher davon, fassungslos aus.
„Unverschämt!”
„Wie kommt er hier herein!”
„Frevelhaft!”
Cýelú stürmte vor, um sich seinerseits schützend vor sie zu stellen. Sie lenkte ihn um, indem sie ihn am Arm fasste und an ihre Seite dirigierte.
„Hört den camat’ay an!”, forderte sie eindringlich. „Lasst uns hören, was er will! Bis dahin haltet Frieden!”
Die anderen kamen näher, langsam, wachsam, umringten den Eindringling. Der Schattensänger ließ es gelassen geschehen. Wenn er auch nur eine falsche Bewegung tat, würden sie ihn ohne zu zögern angreifen, und er wäre wehrlos gegen die Übermacht. Das musste er wissen. Seine maghiscal pulsierte vor Anspannung, jeder im Raum musste das spüren. Er war auf der Hut. Aber er schien tatsächlich keine feindlichen Absichten zu hegen.
„Eine Unverfrorenheit”, sagte schließlich der Rote.
„Wie konntet Ihr hier eindringen?”, fragte der Orangene.
Der Violette ergänzte: „Und ohne dass wir es bemerkt haben?”
„Sind noch mehr von Euresgleichen hier?”
„Ich bin nicht allein”, antwortete der Schattensänger bedacht. „Ich wäre leichtsinnig, mich allein in ein fremdes Heiligtum zu begeben, nicht wahr?”
„Und Ihr werdet uns kaum freiwillig sagen, wo die anderen von euersgleichen sich verborgen halten?”, vermutete der Grüne.
„In diesem Moment”, erklärte der Schattensänger, „geht keinerlei Gefahr von mir oder jemandem in meiner Begleitung aus. Euer Sein und Wirken interessiert mich nicht und geht mich nichts an. Ich will nur, was mir lieb und kostbar ist und was mir gestohlen wurde. Von jemandem in diesem Raum, wohlgemerkt, der in unser Heiligtum einzudringen versuchte. Dies ist mein Gegenbesuch. Aber ich werde nichts von hier stehlen. Ich will nu das, was unfreiwillig an diesen Ort gelangt ist, wieder dorthin bringen, wo es in Sicherheit ist.”
Cýelú wich unbehaglich den Blicken der anderen arcaval’ay aus.
„Es war abzusehen”, stellte der Indigofarbene fest, „dass dies geschieht.”
„Ja”, stimmte der Blaue zu. „Erstaunlich ist nur, wie schnell es geschah, gedenkt man der Entfernung.”
Elosál legte Cýelú die Hand auf den Arm und zuckte zusammen vor dem Übermaß an Scham und schlechtem Gewissen, das sie darin spürte.
„Ihr müsst ein überaus mächtiger Magier sein”, bot sie einen Ausweg aus der vorwurfsvollen, argwöhnischen Atmosphäre an.
„Ich bin der Großmeister”, sagte er schlicht. „Aber als solcher bin ich nicht hier. Ich stehe hier vor Euch als ein besorgter und wenig erfreuter Vater, der nur allzu gerne wüsste, was Euresgleichen mit meiner Tochter vorhat. Es will mir nicht in den Kopf, dass ausgerechnet Pataghíus Diener wehrlose Kinder ihren Müttern stehlen.”
„Wir wollen dem Kind nichts böses”, beteuerte Elosál. „Wir haben der Kleinen kein Leid zugefügt.”
„Dann gebt sie mir zurück.”
Nun wechselten sie alle unbehagliche Blicke miteinander.
„Das ist nicht möglich”, sagte Cýelú dann leise.
„Und wenn ich Euch, Meister Cýelú, im Tausch anböte, worauf Ihr ursprünglich aus wart?”
Elosál runzelte fragend die Stirn. Cýelú litt.
Am liebsten, das spürte die fajía, wäre er im bunt glänzenden Boden versunken.
„Ich habe es gleich mitgebracht”, fuhr der Schattensänger unbekümmert fort. „Es befindet sich in Obhut meiner Begleitung ganz in der Nähe.”
Nun weiteten sich Cýelús Augen. Elosál las fasziniert seinen flehentlichen Blick, aus dem klar hervorging, dass er den Schattensänger zum Schweigen bringen wollte. Auch die anderen bemerkten es und schauten erwartungsvoll, hofften auf eine Erklärung.
„Ihr habt … es … dabei?”, fragte Cýelú. „Woher wusstet Ihr, was…”
„Weil es ebenso offensichtlich wie unsinnig ist.”
„Meister Cýelú”, fragte der Blaue, „klärt Ihr uns auf? Worum geht es hier?”
„Ach”, tat der Schattensänger überrascht, „war das denn etwa kein gemeinsamer Plan der ruhmreichen arcaval’ay? Keine absonderliche Laune, um ohne Not alte Wunden aufzureißen, die die Zeit so gut geheilt hat?” Er schüttelte den Kopf und fügte hinzu: „Eine Tat, um meinesgleichen zu provozieren und zu beleidigen? Langweilt ihr euch denn so hier in eurer schönen Burg aus Glas und Glanz, dass Ihr neue Zwietracht heraufbeschwören wollt? Wie sollen das die forscoray einst in den Büchern nennen? Den kindischen Krieg?”
Einige der arcaval’ay griffen nach ihren Schwertern, aber der Schwarzgewandete hob beschwichtigend die Hand. „Was für ein Glück für das Weltenspiel”, sagte er gelassen, „dass ich keinerlei Interesse daran habe, mich auf einen unnötigen Kampf mit Euch einzulassen. Wir sind nicht darauf aus, uns mit euch zu messen. Vorausgesetzt, Ihr übergebt mir im Augenblick meine Tochter und sie ist unverletzt an Leib und Seele.”
Elosál hörte auf jedes Wort, jede Nuance in dem, wie er sprach und betonte. Sie war beeindruckt von der Beredsamkeit des Eindringlings und verstand auch einen Gutteil davon, was er nicht sagte. Aber das rettete weder Cýelú vor seinem schlechten Gewissen, noch änderte es etwas daran, dass sie dem Schattensänger seine Forderung nicht erfüllen konnten. Die Kinder waren nun einmal entwischt. Beide.
Elosál schauderte. Und wenn nun Advon in die Hände anderer, versteckter Schattensänger fiel?
„Meister Lagoscyre”, begann sie.
„Yalomiro”, korrigierte er höflich. „Yalomiro Lagoscyre.”
„Meister Yalomiro … ihr werdet Verständnis dafür haben, dass wir den Cielástel verteidigen müssen. So wie wir verstehen, dass euresgleichen nach dem Kind sucht.”
„Selbstverständlich. Schickt Eure Ritter gern aus, um dieses Gebäude nach meinesgleichen zu durchkämmen, wenn es Euch beruhigt. Ich bitte mir nur eines aus.”
„Sprecht.”
„Es sind … unerfahrene camata’ay dabei, die ihre Magie noch nicht recht kontrollieren können. Verzichtet im allgemeinen Interesse darauf, jemanden anzugreifen. Niemand wird euch Widerstand leisten. Niemand bei Verstand würde es riskieren, in Euren Mauern Schattenmagie zu wirken, aber sie werden versuchen, sich zu verteidigen, wenn sie sich dazu gezwungen sehen. Wenn ihr jemanden findet, so sagt in meinem Namen, es sei in Ordnung, sie herzuführen. Man wird Euch ohne Widerwort folgen.”
„Schwärmt aus”, gebot sie den Rittern. „Und wenn euch camat’ay begegnen, beschwichtigt sie und heißt sie in Frieden in unserem Haus willkommen. Versammelt sie in der Halle. Geht.”
Die Sieben gehorchten ihr nicht sofort. Natürlich nicht. Nie würden sie ihre Großmeisterin, die fajía, schutzlos zurücklassen, wenn ein Schwarzgewandeter nahe war.
„Cýelú”, sagte sie, „du bleibst hier. Das sollte genügen.”
„Um Euch zu beweisen, dass ich nichts Falsches im Geist führe”, bot der Schwarzgewandete an, „überlasst mir bitte ein Teil von Eurem Armschmuck.”
„Wie bitte?”
„Ich will Euch beweisen, dass ich nicht vorhabe, irgendwelche Zauber gegen Euch zu richten. Ich mag ebenso gut auf meine Kräfte verzichten, wenn Worte genügen sollten.”
Die Ritter raunten überrascht auf. Das war ein unerwartetes Entgegenkommen. Elosál verstand, was er da Großzügiges anbot.
„Das müsst Ihr nicht tun”, sagte sie rasch. „Ihr müsst Euch uns gegenüber nicht erniedrigen. Meister Yalomiro. Ich vertraue Euch.”
„Ihr vielleicht. Aber Eure Ritter nicht, und das aus gutem Grund. Bitte, Hohe Dame.”
Sie nickte und zog sich dann einen ihrer goldenen Armreifen ab. Vertrauensvoll streckte er ihr seine Hand entgegen und zischte vor Schmerz, als sie ihn ihm anlegte. Das Silber in seinem sanften, selbstbewussten Blick verdunkelte sich. Einen Moment lang sah es aus, als wanke er vor Schwäche, aber nur ganz kurz. Elosál wusste, dass die Frechheit des Schattensängers, sich im Cielástel aufzuhalten, ihn immense Selbstbeherrschung kosten mochte. Sie wartete, bis sie sich sicher sein konnte, dass der fremde Magier keinen Schwächeanfall erlitt. Dann wandte sie sich den Sieben zu. „Geht. Und sorgt dafür, dass niemand Magie gegen den anderen erhebt. Zeigt den Schwarzgewandeten, wie hoch auch wir den Frieden schätzen.”
Die Sieben zögerten, aber was Elosál ihnen gebot, das hatte Gewicht. Leise miteinander tuschelnd verließen sie das Damengemach, aufmerksam und bereit, sich zu verteidigen. Doch Elosál war sich sicher, dass sie besonnen reagieren würden, wenn sich ein weiterer Schattensänger zeigte.
Sie wartete einen Augenblick, bis sie sich sicher war, dass keiner der Ritter mehr mithörte. Dann setzte sie sich auf eine der eleganten Liegen und schaute auffordernd von einem zum anderen. Beide Männer schwiegen, beäugten einander abschätzend und respektvoll. Cýelú schlug als erster seinen Blick wieder nieder.
„Wie konntet ihr hier eindringen, Meister Yalomiro?”, fragte die fajía schließlich.
„Ein kleiner Abkürzungszauber”, sagte er. „Und den Rest der Strecke bin ich geflogen.”
„Eure Tochter ist nicht hier”, fuhr sie fort und betrachtete wieder das sonderbare Kuscheltier. Das Spielzeug war durchtränkt von Liebe. Das war so seltsam, passte nicht zu dem, was sie erwartet hatte.
„Ich weiß”, sagte er zu ihrer Überraschung. „Ich war nicht hergekommen, um Euch in Eurem Gemach zu erschrecken. Ich habe gelauscht.”
„Das ist eine Dreistigkeit”, sagte Cýelú, sicherlich allein aus dem Bedürfnis heraus, nicht im eigenen Haus stumm zu bleiben. Und doch stand ihm sein schlechtes Gewissen deutlich im Gesicht.
„Keine größere, als ein unschuldiges Kind zu stehlen.”, sagte Yalomiro Lagoscyre und trieb Cýelú Irísolor damit erneut Schamesröte ins Gesicht.
„Ich hatte meine Gründe”, sagte er etwas zu barsch.
„Es gefällt mir zu hören, dass es meiner klugen und tapferen Tochter offenbar bereits gelungen ist, sich selbst zu befreien”, entgegnete der Schattensänger. „Sollte es so sein, dass auf irgendeinem Wege Euer Sohn bei der Sache mittut, dann will ich Euch gern behilflich sein, ihn wieder aufzuspüren.”
„Das können wir allein”, sagte Cýelú grimmig.
„Cýelú!”, mahnte die fajía. Und dem Schattensänger zugewandt fügte sie hinzu: „Siledaú, unsere liebe Freundin, ist bereits unterwegs, um sich um die Angelegenheit zu kümmern. Advon ist öfter allein unterwegs. Es ist nicht gesagt, dass Eure Tochter damit zu tun hat.”
„Wenn ich es richtig verstanden habe”, gab der Schattensänger zu bedenken, „sind beide zugleich aus demselben Zimmer verschwunden.”
Sie nickte und betrachtete den camat’ay forschend. Der Mann gefiel ihr. Er hatte eine ähnliche selbstbewusste Freundlichkeit und Autorität an sich, die ihr vor langer Zeit an jenem anderen Meister namens Lagoscyre so aufgefallen war.
„Wenn Ihr bereits wisst, dass das Mädchen nicht hier ist”, erkundigte sie sich, „warum seid Ihr nicht sofort wieder fortgegangen? Ihr habt Euch in Lebensgefahr gebracht. Wir alle hätten Euch aus dem bloßen Erschrecken heraus töten können.”
„Hohe Dame”, sagte der Schattensänger, „das ist wohl meiner immer noch gestillten Neugierde geschuldet. Ich bin gekommen, um bei Meister Cýelú”, er verneigte sich höflich in dessen Richtung, „das Tauschgeschäft anzubieten. Und nun höre ich hier von seltsamen Begebenheiten, die sich in eine Höhle zutragen und die Signatur des Verfluchten zu tragen scheinen.”
„Bei den Mächten, redet nicht in Rätseln! Was denn für ein Tauschgeschäft?”
„Ich habe das Objekt hergebracht, das das ursprüngliche Ziel Eurer Reise war, Meister Cýelú. Ihr seid doch in zum Etaímalon gereist, um den Stab des Verfluchten zu fordern. Nicht wahr?”
Elosál durchzuckte ein Gefühl, als erstarre ihr Blut zu spitzigen Eiskristallen. Sie konnte spüren, wie ihre maghiscal aufloderte vor Entsetzen.
„Den Stab des Verfluchten?“, rief sie entsetzt aus. Und zu ihrem noch größeren Entsetzen machte Cýelú keine Anstalten, dieser dreisten Geschmacklosigkeit zu widersprechen, die der Schattensänger da von sich gab. Im Gegenteil.
„Eure hýardora hat ihn nicht herausgeben wollen”, sagte er ärgerlich. „Und das Kind …”
„Du hast diese Reise unternommen, um … Siledaú hat dich ausgeschickt, um …” Elosál sank entgeistert in sich zusammen. Diese Ungeheuerlichkeit war mehr, als ihre Vernunft erfassen konnte.
„Ja”, gab er kleinlaut zu.
„Warum? Warum … was … ich verstehe es nicht!”
„Ehrlich gesagt”, plauderte der Schattensänger, „haben wir uns auch nicht erklären können, was den Wunsch in Euch erweckt hat, das Artefakt unserer immerwährenden Schande in Eurem Besitz haben zu wollen. Dann seid Ihr selbst also nicht eingeweiht, hohe Dame?”
Elosál zögerte. Wenn sie nun die Wahrheit sagte, dann gab sie zu erkennen, dass sie nicht wusste, was in ihrem eigenen Haus vor sich ging. Dass ihr hýardor, der Großmeister, Dinge an ihrem Wissen vorbei tat.
„Warum, Cýelú”, wisperte sie. „Warum hast du mir davon nicht erzählt?”
„Sie hat gesagt, die Gefahr aus dem Norden können wir nur abwenden, wenn der Stab in unserer Hand liegt. Sie …” Er räusperte sich und sagte grimmig in Richtung des Schattensängers. „Es sollte nicht noch einmal geschehen, dass diese schreckliche Waffe gegen Pataghíus Diener erhoben wird. Dass Schattensänger erneut die Vernichtung nach Aurópéa tragen.”
„Die Prophezeiung”, sagte Elosál tonlos. „Schon wieder. Und immerfort.”
„Ich habe es für dich getan”, beteuerte Cýelú, und nun ließ er seine Emotionen sehen. „Elosál, ich habe das alles nur gemacht, damit dir und Advon nichts geschieht. Sie … sie hat gesagt, nachdem du die letzte der fajíae bist, wärest du nicht mehr in der Lage, noch einmal zu bestehen. Und weil die Frau, die ich im Boscargén antraf, sich unwissend stellte …”
„Meine hýardora“, unterbrach der Schwarzgewandete, „hat sich nicht unwissend gestellt. Sie hat von Ovidáol Etaímalars Werkzeug keine Kenntnis gehabt.”
Elosál legte sich das Stofftier in den Schoß und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich will das alles nicht hören! Was für ein Wahnsinn! Was für ein Wahnsinn, Cýelú! Warum hast du nicht mit mir darüber geredet? Seit wann haben wir Geheimnisse, und gleich so schreckliche?”
„Sie hat gesagt”, verteidigte er sich mit einem sonderbar zwiespältigen Schuldbewusstsein in der Stimme, „sobald du davon erfährst, setzt sich das Unheil unweigerlich in Bewegung. Es hätte so sein sollen, dass du gar nichts davon erfährst! Und alles wäre ein und für allemal gut gewesen!”
„Das ist alles eine sehr sonderbare Art von Heimlichtuereien und guten Absichten”, sagte der Schattensänger befremdet. „Wer ist diese alte Frau, diese Siledaú, die Euer Herz so sehr mit Sorge und der unbändigen Liebe zu Eurer hýardora und Eurem Sohn erpressen kann, Meister Cýelú?”
Der Goldene wollte aufbrausen, aber bevor ein heftiges Wort fiel, stutzte er. Der Schattensänger musterte ihn mit besorgtem, mitfühlendem Blick, ungeachtet der durch das Gold verschleierten, geschwächten maghiscal. Elosál sah das und fühlte, wie Cýelú einen Moment verwirrt war. War das ein … Hoffnungsschimmer, ein winzig kleiner, den er selbst nicht erkannte?
„Ich brauche Euch gar nicht länger zuzuhören”, setzte der Schattensänger hinzu. „Ich verstehe, was hier geschieht. Wer ist diese Frau? Was tut sie hier im Cielástel? Und wie konnte sie Euren eigenen Willen gegen Euch richten?”
„Siledaú”, nahm Elosál das Wort, denn Cýelú war zu durcheinander, um zu sprechen, „ist eine kluge alte Unkundige. Eine Seherin. Sie hat ihr Leben dem Studium der alten Magie, der Zeit der Chaoskriege gewidmet und weiß besser darüber Bescheid als jeder andere. Und die Mächte offenbarten sich ihr und zeigten ihr eine Vision, um uns zu warnen.”
„Vor meinesgleichen?”
„Ja. Sie sagte voraus, dass eine Gefahr sich im Norden erheben würde, eine, die vom Schatten ausgeht, und zum Untergang der arcaval’ay führen würde.”
„So.” Nun schien der Schattensänger belustigt. „Eine Armee von Schattensängern, angeführt von Ovidáols altem Stab, um das mächtige Regenbogenheer zu zerreiben?”
„Was ist daran so lustig?”, erzürnte Cýelú sich.
Yalomiro Lagoscyre lachte leise. „Nun, Hohe Dame, es ist wahr. Während Ihr mit dieser sonderbaren alten Seherin oben in Pataghíus Halle gestritten habt, haben alle Schattensänger des Weltenspieles, alle miteinander, den Stab hergebracht und den Cielástel erstürmt.”
Elosál keuchte auf, und Cýelús Hand zuckte zu seinem Schwert. Der camat’ay hob die Hände.
„Alle Schattensänger”, wiederholte er. „Meine geliebte hýardora und ich. Zu zweit. Die beiden letzten. Sie traut ihrer Magie nicht. Ich habe freiwillig auf die meine verzichtet. Und der Stab … der ist noch immer so kaputt und nutzlos wie an dem Tag, an dem die Chaoskriege endeten.”
„Zu zweit?”, fragte Elosál, und Cýelú steckte die Waffe wieder ein.
Der Schattensänger nickte. „Und nun beginne ich zu verstehen. Ihr hattet keine Ahnung davon, was meinesgleichen widerfahren ist, nicht wahr? Ihr habt seit sechzig Sommern den Cielástel nicht verlassen und wart froh, nichts von uns zu hören?”
Elosál benötigte einen Moment, ehe sie verstand, was diese Worte bedeuteten. Nicht, was geschehen war, das konnten sie nicht wissen. Aber wenn es stimmte, was der Schattensänger da sagte, dann erklärte das so viel. So unglaublich viel.
Die fajía erhob sich. Ihre goldenen Augen loderten vor Zorn, das konnte sie selbst spüren.
„Sie muss das gewusst haben”, sagte sie kalt. Cýelú starrte verstört ins Leere.
„Warum hat sie es nicht gesagt?”, fragte er. „Warum … was soll das Ganze?”
„Warum sie es nicht gesagt hat”, sagte der Schattensänger ruhig, „kann ich nicht sagen. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass eine so gelehrte Frau, die meinesgleichen so intensiv studiert hat, wissen sollte, dass ein Werkzeug mit seinem Meister stirbt. Selbst wenn ich es wollte, selbst wenn ich Euren Untergang im Sinn hätte, der Stab wäre vollkommen unnütz für mich. Es ist völlig unsinnig, ihn durch das halbe Weltenspiel zu schleppen. Eure Reise, die Entführung meiner Tochter und das, was Ihr dem tapferen yarl Moréaval angetan habt, Meister Cýelú, war ebensolcher Unfug wie die Prophezeiung.”
Elosál stutzte. Yarl Moréaval? Wer war das nun wieder? Es schien Cýelú zu treffen wie ein Peitschenhieb. Und was …
„Ich packe sie mir”, verkündete Cýelú Irísolor düster. „Ich packe sie mir und werde mir die Antworten holen!”
„Cýelú …”
„Nicht jetzt, Elosál. Sie kann noch nicht weit sein. Ich werde sie mir holen, bevor sie Advon findet! Bei den Mächten, bei Pataghíu selbst, ich werde …”
„Ich wäre gern dabei”, sagte Yalomiro Lagoscyre, aber er schaute sie, Elosál an, als bäte er sie um Erlaubnis. „Aus reiner Wissbegierde. Darf ich Euch begleiten, Meister Cýelú?”
Elosál nickte ihrem hýardor zu, ohne in Gänze zu begreifen, was für Ungeheuerlichkeiten sich auftaten. Cýelú hatte es eilig. Er hob ungeduldig die Arme und eilte dann fort.
„Gebt mir Eure Hand, Meister Yalomiro. Ich will Euch nicht wehrlos in diesen Kampf ziehen sehen.”
„Ich wäre Euch überaus dankbar”, entgegnete er höflich. „Es ist wirklich ausgesprochen schmerzhaft.”
Sie zog ihm den Reifen vom Handgelenk, und er atmete erlöst auf.
„Habt Ihr von Meister Askýn Lagoscyre gehört?”, fragte sie ihn dabei.
„Er war mein Meister, Hohe Dame.”
Sie nickte. Das hatte sie sich fast gedacht, auch wenn die Zeit nicht dazu passte. Er nickte ihr dankend zu. Doch anstatt Cýelú nachzueilen, verwandelte er sich in einen Raben und flatterte blitzschnell durch das Fenster davon.
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