
Mir war auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen, als mich vom Eingangstor weg zu bewegen und in durch jene Tür zu gehen, durch die der vermeintliche Stallbedienstete gekommen war. Zuvor hatte ich noch die Geistesgegenwart besessen, den Stab verschwinden zu lassen. Cýelú Irísolors Einhorn hatte ein wenig verdutzt gewirkt, aber nicht dagegen protestiert, als ich das schreckliche Ding rasch durch die Gitterstäbe unter die weiche Einstreu geschoben hatte. Ich hatte vor, der alten Frau aus dem Weg zu gehen, zu warten, bis die Luft wieder rein war, und dann nach Yalomiro zu suchen. Notfalls würde ich mich auf den Hof stellen und lauthals nach ihm schreien.
„Verrat mich nicht”, flüsterte ich dem Einhorn zu. Das Tier war furchteinflößend, so riesig und wuchtig, viel größer als Moréavals Pferd, vor dem ich auch schon bereits großen Respekt gehabt hatte. Ich glaube, es waren die Augen, die mandelförmigen Reptilienaugen mit der geschlitzten Pupille, die so verstörend wirkten. Tiere mit Fell sollten keine Augen haben, die zu einem mit Schuppen gepasst hätten.
Aber das war ein dummer Gedanke. Cýelú Irísolors Reittier schnaubte unverbindlich, wandte sich dann aber wieder seinem Futtertrog zu und kehrte mir seinen duftigen Schweif zu. Das duftende Heu interessierte es wesentlich mehr als ein unbedeutender Mensch jenseits der Gitter.
Ich meinerseits huschte indes zu der Tür am anderen Ende der Stallgasse, biss die Zähne zusammen, als ich durch den mit Gold verstärkten Türrahmen schlüpfte und mich auf einem fenster- und türlosen Korridor wiederfand, der zur einen Seite zu einer weiteren Gittertür führte, hinter der ich dank meiner glücklicherweise nachtsichtigen Augen Zeug ausmachen konnte, das sicher mit der Pflege der Einhörner zu tun hatte, verschlossene Eimer, Stallwerkzeuge, grob gewirkte Decken aus buntem Stoff. In der anderen Richtung führte der Gang auf einen Durchlass zu, der möglicherweise direkt in ein Nebengebäude des Cielástel führte. Im Durchgangsbereich war noch zu bemerken, dass nebenan ein Stall war, denn Wind und Schritte trugen sicherlich ständig Stallstaub und kleine Einstreufetzen hindurch. Doch der Gang selber bestand aus demselben schillernden, vielfarbigen, glänzenden Material, das ich nach wie vor nicht eindeutig als Glas oder Stein identifizieren konnte.
„He!”, hörte ich diese unangenehme, krächzende Stimme der alten Frau im Stall. „Wo bist du?”
Ich huschte vor ihr davon und entschied mich, so leichtsinnig es sein mochte, dem Gang zu folgen und in die andere Richtung zu laufen, hinein in die Burg. Zum Glück trug ich anschmiegsame Schuhe mit Sohlen, durch die ich daheim im Etaímalon so gut den weichen Waldboden spüren konnte. Das erlaubte mir, relativ geräuschlos über den bunt gefliesten Boden zu hasten.
„Heda!”, hörte ich sie. „Wo bist du? Zeig dich!”
Ich schlüpfte durch den Durchgang und fand mich in einem Treppenhaus wieder, unmittelbar vor einer in weiten geschwungenen Bögen hinaufführenden Wendeltreppe in zarten Pastellfarben. Hier glichen die Wände weniger farbenprächtigem venezianischen Glas, sondern erinnerten mich eher an die Perlmutterschicht in einer Abalone-Muschel. Meine Oma hatte so etwas besessen, ein kitschiges Urlaubsouvenir, das ich als Kind immer fasziniert angeschaut hatte. Ich fragte mich, wie die arcavala’ay sich in dieser Umgebung aus ineinanderfließenden, verschmelzenden Farben orientieren konnten und begriff mehr und mehr, dass Pataghíus Wirken nicht einfach nur das Tageslicht sein mochte, genauso wenig wie Noktáma nur von Dunkelheit umgeben war. Pataghíus Domäne waren die bunten Farben, die es hier im verwirrenden Überfluss gab.
Ich hörte die Schritte der Alten. Natürlich kam sie hinter mir her. Sie konnte sich ja wohl denken, wohin ich laufen würde. Zumindest würde sie das wissen, solange ich hier in diesem Bereich blieb, schließlich war sie im Gegensatz zu mir ortskundig. Ich musste weiter und mich irgendwo verstecken, wo es mehrere Wegmöglichkeiten gab. Also die Treppe herauf.
Ich dachte nicht weiter nach und eilte die Wendeltreppe ein Stück aufwärts. Den nächsten Abzweig, nahm ich mir vor, würde ich nicht nehmen. Ich würde mindestens zwei Etagen hinauf laufen, dort in einem Gang verschwinden, abwarten, ob sie mir nachkam und sobald sie auf der ersten Etage suchte, sofort wieder die Treppe hinab stürmen und so schnell es nur ging, durch den Stall wieder ins Freie fliehen. Das konnte doch nicht so schwer sein. Das war eine alte, gebrechliche Frau. Spielend würde ich sie abhängen können. Wenn alles Stricke rissen, musste ich sie eben umschubsen, wenn sie sie mi in den Weg zu stellen versuchte.
Aber je weiter ich nach oben lief, desto mehr überkam mich die erschreckende Erkenntnis, dass es hier keine Treppenabsätze gab. Das hier war lediglich eine Treppe, die sich in verschwenderisch großzügigen Windungen, mit flachen Stufen, in die Höhe schraubte, gut beleuchtet von Tageslicht, das aus hohem versetzten Fensterbögen von allen Seiten einfiel. Eine Konstruktion, wie ich sie in einem Turm erwartet hätte. Ich schaute hinauf und erkannte, dass es erst sehr weit oben, wahrscheinlich auf Höhe des Wehrgangs außen an der Burg, so etwas wie eine Zwischenetage geben mochte.
Wer hatte sich eine so unpraktische, verschwenderische Treppe an genau dieser Stelle einfallen lassen? Eine Leiter hätte den gleichen Zweck erfüllt!
Nun, dachte ich, das hier ist keine von Menschenhand errichtete Festung. Das ist ein Heiligtum. Vielleicht hat Pataghíu selbst dieses Gebäude entworfen. Aber warum hatte er dermaßen mit den Dimensionen übertrieben? Zu neunt, nein, zu zehnt waren sie, rechnete man das Kind mit, das offenbar ausgerissen war. Wozu diese riesige Burg?
Angenommen, sie wären tatsächlich einmal …. mehr gewesen. Angenommen, während der Chaoskriege wären viele von ihnen vielleicht nicht umgekommen, aber irgendwie … verschwunden. Hätte dann nicht auch der Stall viel mehr Einhörnern Platz geboten? Ach, was machte ich mir gerade jetzt, auf der Flucht, diese grässliche alte Frau auf den Fersen, solche Gedanken? Wer sagte denn, dass es nur diesen einen Stall gab?
„Ich weiß, wo du bist!”, rief die alte Frau, unten an der Treppe. „Was hast du hier zu schaffen?”
Warum, überlegte ich, lief ich eigentlich vor ihr weg? Sollte ich nicht vielmehr versuchen, mit ihr ins Gespräch zu kommen?
Nein. Meine Intuition war dagegen. Mit dieser alten Frau stimmte etwas nicht. Sie hatte mit Dýamirées Entführung zu tun, und sie schien den goldenen Ritter auf irgendeine Weise unter Kontrolle zu halten. Alles in meinen Instinkten versicherte mir, dass es besser wäre, der alten Frau auszuweichen. Aber ich durfte nicht zulassen, dass sie es irgendwie fertig brachte, mich tiefer in den Cielástel hineinzutreiben, wo ich mich unweigerlich verlaufen würde. Ob Yalomiro mich in diesem fremden Heiligtum jemanls würde finden können? Würde er im Notfall kommen, um mich zu retten, wie er es schon so oft getan hatte?
„Bist du die Mutter?”, rief die alte Frau die Treppe hinauf, und ich erstarrte.
„Es hat keinen Zweck, sich zu verstecken”, rief sie. Ihre Stimme war bereits näher, als ich für möglich gehalten hätte, aber ich konnte sie von hier oben nicht sehen. Vorsichtshalber ging ich in die Hocke und versuchte, durch die Stützstreben des Handlaufs zu spähen, die kunstvoll geschraubt waren wie die Hörner mancher Antilopen.
„Ich weiß, dass du dort oben bist,” sagte sie. „Du musst nicht vor mir fliehen. Ich bin dir wohlgesonnen! Wenn du weiter läufst und in die Burg gerätst, dann werden die Ritter dich töten. Komm besser zu mir, Liebes!”
Ich schwieg ratlos. Vielleicht hatte sie recht. Wenn ich mich unvorsichtig im Heiligtum der Regenbogenritter weiter bewegte, ohne dass Yalomiro mich beschützte, war ich für die Ritter nichts weiter als ein Eindringling. Wie würde ich reagieren, wenn mir ein Eindringling im Etaímalon gegenüber stünde? Wie nervös waren die Bewohner dieses Heiligtums, nach alldem, was hier durch Verschulden eines Schattensängers geschehen war?
„Hast du mitgebracht, was deine Tochter befreit?”, fragte die Alte. In ihrer Stimme lag ein geschäftstüchtiges Interesse. „Komm zu mir! Zeig dich! Lass uns verhandeln!”
Sie hatte den Fuß der Treppe erreicht. Bis zum oberen Ende war es weit. Sie würde mich weiter nach oben treiben, wenn ich vor ihr weg lief. Aber hatte ich keine andere Wahl, als vor ihr zu flüchten? Würde Yalomiro weglaufen? Nein, würde er nicht. Er würde sich ihr zeigen und es irgendwie fertig bringen, sie in ein Gespräch zu verwickeln, das ihm die Oberhand verschaffte. Immerhin war das doch nichts weiter als eine unkundige, unsympathische alte Frau!
„Du willst deine Tochter doch zurückhaben, nicht wahr? Willst du nicht wissen, wo du sie finden kannst?”
Was sollte ich tun? Was sollte ich entscheiden, ohne Yalomiro bei mir, der gewiss nicht nur genau gewusst hätte, was hier zu antworten war, sondern auch, wie man diese unheimliche alte Frau hätte überlisten können?
„Warum zögerst du?”, fragte sie, und ich hörte wieder diese vertrauten, schlurfenden Treppensteiggeräusche. „Ich kann dir sagen, wo du deine Tochter findest. Ich kann dir zeigen, wie du sie befreist. Bist du denn nicht gekommen, um sie zu holen?”
Yalomiro, dachte ich. Wenn ich nun eine riesige Dummheit begehe, bitte sehe es mir nach.
Ich erhob mich und streckte ihr abwehrend die Hand entgegen. Nicht, dass ich in Erwägung gezogen hätte, einen Zauber zu wirken. Aber ich hoffte, die Möglichkeit, ich könnte es tun, würde sie auf Abstand halten.
Und dann sah ich sie erstmals aus der Nähe. Sie schlurfte mir unbeeindruckt entgegen. Klein, gebeugt, mager war sie, ihr Gesicht verrunzelter als eine Trockenpflaume. Sie trug dieses graue, flatternde Gewand mit einer weiten Kapuze über dem Kopf, mit dem sie ganz und gar nicht in diese farbenfrohe, prächtige Umgebung passte. Die Augen, die mich darunter anblitzten, waren dunkelgrau, wie angelaufenes Silber, aber von erschreckender Schärfe.
„Zurück!”, sagte ich, und versuchte meine Stimme so fest klingen zu lassen wie möglich. „Bleib mir vom Leibe.,”
„Ich komme dir nicht näher als nötig. Aber ich will wissen, wer du bist!”
Warum sollte ich lügen? „Ich bin Salghiára Lagoscyre. Wo ist meine Tochter?”
Sie lächelte. In ihrem Mund fehlte mehr als ein Zahn, und trotzdem sah ihr Grinsen irgendwie … bissig aus.
„Lagoscyre … Ich kenne diesen Namen, obwohl ich lange nichts mehr davon gehört habe.”
„Wo ist meine Tochter? Warum hat Cýelú Irísolor sie entführt?”
„Wo ist das, was er ursprünglich mitbringen sollte? Du hast es bei dir, wie ich höre!”
Redete sie nun von dem Stab? Hatte Yalomiro tatsächlich richtig geraten, als er annahm, dass es dem Regenbogenritter um das alte, kaputte Artefakt des Verfluchten gegangen war?
„Ich will erst wissen, wo meine Tochter ist!”
Die alte Frau schlurfte näher. Ich hielt es aus, bis sie ein paar Schritte vor mir war. Dann überkam mich ein so großes Unwohlsein, dass ich schaudernd zurückwich. Irgendwas in meiner Mitte verdrehte sich so unangenehm, dass es sich anfühlte, als müsse ich mich unweigerlich übergeben, genau hier, auf dieser schönen bunten Perlmutttreppe.
„Welcher Meister hat dich geweiht?”, fragte sie interessiert. „Wie kann es sein, dass du ein Kind hervorgebracht hast?”
„Wie bitte?”, brachte ich vor.
„Liebes”, sagte sie, aber es war alles andere als Wärme in ihrer Stimme, „Noktáma hat es ganz sicher nicht gut geheißen, dass du dich fleischlichen Vergnügungen mit deinesgleichen hingegeben hast. Wie verderbt, wie sittenlos seid ihr geworden in all dieser Zeit? Wo ist der Vater?”
„Er ist … nicht weit weg.”
„Das denke ich mir. Ich werde ihn wohl noch finden. Wo ist der Stab?”
Ich konnte nicht anders. Ich musste Abstand zwischen sie und mich bringen, bevor der Ekel mich überwältigte. Ich ging rückwärts, Stufe um Stufe, weiter die Treppe empor. Zum Glück waren die Stufen so flach, dass ich nicht strauchelte.
„Wo ist meine Tochter?”, hielt ich dagegen. „Sag du mir das zuerst!”
„Deine Tochter”, sagte die Alte grinsend, „ist ein Monster. Ein Ungetüm. Ein die Mächte lästerndes, widernatürliches Unding.”
„Mag sein”, sagte ich, meinen Zorn und Übelkeit schluckend, aber nicht willens, mit dieser widerlichen Alten zu diskutieren. „Ich hätte sie trotzdem gern zurück.”
„Wir könnten darüber reden.”
„Gern. Sag mir, wo sie ist.”
„Nur gegen das, was du hoffentlich mitgebracht hast!”
Nun fixierten ihre unheimlichen Augen mich auf eine Art, die mich auf ganz absonderliche Weise beunruhigte. Es war … nun ja. Yalomiro konnte jemanden auf ganz ähnliche Weise ansehen, so eindringlich, abwartend, auffordernd, so, dass man ihm einfach antworten musste. Ich kannte diese Art von Blick, die sich mit einem Schweigen nicht zufrieden gab. Aber was bei Yalomiro empathisch wirkte, war in ihren Augen bedrohlich, fordernd, inquisitiv.
„Ich …”, brachte ich hervor und war außerstande, den Blickkontakt mit ihr zu unterbrechen. „Ich will einen Beweis dafür, dass Dýamirée lebt. Dass es ihr gut geht!”
„Und ich”, hielt sie dagegen, „will wissen, wo das … Tauschobjekt ist.”
„Das”, sagte ich verstört, einem ganz absurden Gedankenblitz folgend, „werde ich nur Cýelú Irísolor allein sagen. Schließlich wollte er es rauben!”
„Seltsam”, entgegnete sie und kam erneut einen Schritt näher. „Ich hatte einen Moment lang gedacht, dass du vielleicht so etwas wie Liebe zu deinem Kind empfindest.”
„Natürlich!”, protestierte ich. „Natürlich liebe ich sie!”
„Wie kann das sein?”, fragte sie lauernd. „Liebe? Liebe unter Schattensängern? Lächerlich!”
„Vielleicht”, hielt ich verwirrt dagegen, denn ich wusste natürlich, auf was sie anspielte „hat Noktáma uns neu gestärkt.”
„Das”, sagte sie amüsiert, „soll sich zeigen. Was habt ihr hervorgebracht? Unmagisch, unkundig, schwach. Das Kind ist nutzlos, wertlos für Noktáma. Schmutz und Makel im Etaímalon.”
„Dann gib sie mir zurück!”, brach es aus mir heraus. „Gib sie mir zurück! Sag, wo sie ist! Für uns ist sie nicht nutzlos!”
„Erst das Artefakt!”
„Was willst du mit dem Artefakt? Wenn überhaupt, dann steht es Meister Cýelú und der fajía zu!”
„Das”, sagte sie kalt, „überlasse getrost mir. Ich bin die ergebene Dienerin der Meister. Was ich verlange, ist ihr Wille. Ich werde das alles zum Rechten regeln.”
Ich wich Stufe um Stufe weiter die Treppe hinauf. Sie kam mir entgegen, ohne ihren angelaufenen Blick von mir zu lassen.
„Bitte”, bat ich. „Wir wollen nichts weiter als unser Kind zurück.”
„Und ich”, sagte sie, „will nichts weiter als den Stab. So einfach ist das.”
Ich blieb stehen. Sie verharrte ebenso abrupt.
„Was willst du damit?”
„Siledaú! Gib acht!”, rief da plötzlich jemand hinter mir.
Ich schrak herum und sah, ganz oben an dem Treppenabsatz, der in die Burg führte, einen arcaval’ay stehen. Sein Gewand unter dem goldenen Rüstzeug war orange, und er richtete eine energische Geste auf mich.
Die Greisin namens Siledaú geriet augenblicklich in hektische Bewegung.
„Packt sie!”, schnappte sie. „Da ist die Schwarzmäntelin! Frevel! Frevel! Eingedrungen in Pataghíus Haus!”
Ich schaute erschrocken zwischen der zeternden Alten und dem ein paar Stufen über mir stehenden Regenbogenritter hin und her. Der Ritter war alarmiert, wachsam, kampfbereit. Aber, im Gegensatz zu der gebrechlichen alten Frau wirkte der Magier … nun. Er war die bessere Wahl.
Ich erinnerte mich an die Geste, die Yalomiro mir einmal beigebracht hatte, die in dieser Welt jeder verstehen und akzeptieren würde. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und kehrte ihm meine Handflächen zu. Ich hätte noch etwas sagen sollen, aber dazu war ich in diesem Moment zu eingeschüchtert. Der Ritter war so viel mächtiger als ich mit meiner kleinen geerbten Magie, das spürte ich bis hierher.
„Schwarzmäntel”, keifte die Alte. „Schattensängerbrut! Packt sie! Macht sie nieder.”
Der Regenbogenritter warf ihr einen überraschten Blick zu, beachtete sie aber nicht weiter, richtete eine abwehrende, aber zu meiner Überraschung nicht allzu aggressive Geste auf mich und kam langsam auf mich zu..
„Dein Meister Yalomiro hat dich verraten”, sagte er. „Begleite mich.”
„Verraten?”, fragte ich verstört. „Was habt ihr ihm angetan?”
Der Orangene stutzte. Dann überflog ein Lächeln sein ebenso geschlechts- wie alterloses Gesicht. Tatsächlich … nun, da ich ihn aus der Nähe sah, war ich nicht imstande zu sagen, ob er ein Jüngling oder ein gestandener Mann war. Oder überhaupt ein Mann. Nein. Kein … Mann. Er war unwirklich, stand nun vor mir, war doch nicht greifbar und ebenso phantastisch und fern vom rational fassbaren wie die bunten Flügeleinhörner. Wenn es nicht so furchtbar abgedroschen und kitschig geklungen hätte … der arcaval’ay schien mir ein fleischgewordenes Märchenwesen zu sein, das sich irgendwie in der Wirklichkeit dieses Weltenspiels manifestiert hatte.
„Fürchte dich nicht, camat’ayra“, sagte er ruhig. „Deinem Meister ist kein Leid geschehen. Aber mit mir kommen musst du. Keine Angst. Wenn du friedlich bist, bin ich es auch.”
Ich schaute zwischen ihm und der Alten hin und her. Ihr Gesichtsausdruck war plötzlich so verkniffen, als sei sie extrem verärgert. Er lächelte, selbstsicher und belustigt. Ich war überrascht. Er schien sich zu freuen, ihr ihren Fang weggeschnappt zu haben.
Sie wusste, wo Dýamirée war. Wusste er das auch?
„Komm”, sagte er. „Komm mit mir. Ich bringe dich zur Meisterin”
Mit ihm zu gehen war eindeutig die bessere Idee. Ich nickte ihm zu und stieg vorsichtig zu ihm hoch.
„Wolltest du nicht nach Advon suchen?”, fragte er derweil zu der Alten hinab.
„Ich habe Euch eine Schwarzmäntelin gefangen! Was erwartet ihr denn noch?”, keifte sie.
„Die Meisterin wird es dir danken”, sagte der orange Ritter. „Aber nun solltest du gehen und den Jungen suchen. Hier in der Burg wird es gefährlich. Der Großmeister der Schwarzmäntel hat sich der Meisterin und dem Meister bereits ergeben. Wir kommen zurecht.”
Mich überlief es eiskalt. Die alte Frau zögerte.
„Geh”, sagte er. „Überlass die Magier uns”
Dabei streckte er mir ebenso galant wie nachdrücklich seine Hand entgegen. Ich zuckte zurück.
„Verzeiht”, flüsterte ich. „Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich Euch berühre.”
Nun lächelte er. „Du bist wohl diejenige, die nicht erfahren ist in der Magie?”
Ich nickte beschämt. Warum sollte ich ihm etwas vormachen.
„Komm mit mir”, sagte er. „Es ist uns wohler, euch im Blick zu haben.”
Ich schaute über meine Schulter zu der alten Frau hin. Der schien es ganz und gar nicht zu passen, dass der Regenbogenritter keine Anstalten machte, mich zu bedrohen. Aber aus irgendeinem Grund hatte sie es plötzlich sehr eilig. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und rauschte die Treppe hinab, viel schneller und behänder, als es mit ihrem gebrechlichen alten Körper hätte möglich sein sollen.
***
Verflucht! Verflucht! So nahe war sie daran gewesen! So dumm und leichtsinnig hatte dieses Monster, diese camat’ayra, die es vollbracht hatte, ein Kind zu gebären, sich direkt vor ihre Nase begeben. Hatte der Orangene ausgerechnet in diesem Moment die Treppe betreten müssen?
Siledaú eilte zurück in den Stall. Was nun? Der Stallmeister, dieser tumbe, nutzlose Unkundige, hatte von einer vendyra im Stall gesprochen, die einen Wanderstab feilbieten wollte. Den hatte dieses gleichzeitig so erfreulich angstschlotternde und impertinente Weibsstück im Treppenhaus nicht bei sich gehabt. Sie musste das Artefakt also irgendwo unterwegs versteckt haben. Wie schwer konnte es sein, einen mannslangen Stab in diesem begrenzten Gebiet zu verbergen? Er konnte nur im Stall sein. Es war ausgeschlossen, dass sie ihn weggezaubert hatte.
Siledaú eilte durch den rückwärtigen Eingang zurück in den Stall, wollte gerade um die Ecke biegen und sah gerade noch rechtzeitig, wie der Goldene von der Hofseite aus das Gebäude betrat. Eine Wolke von unbändiger Wut brandete spürbar von ihm aus. Im Vorbeigehen riss er das Zaumzeug seines Einhorns an sich, das der Stalldiener im Vorraum an einem Haken zurückgelassen hatte, um es später zu warten und auf Schäden von der Reise überprüfen zu können.
Dann stapfte er mit zornumwölkter Miene auf den Verschlag seines Einhorns zu, des einzigen, das sich zurzeit im Stall aufhielt, nachdem Farbenspiel entlaufen und die anderen auf die Weiden gebracht worden waren.
Siledaú zögerte. Es wäre eine perfekte Gelegenheit gewesen, ihm von den Eindringlingen zu erzählen und ihn auszufragen, denn wenn es stimmte, dass die arcaval’ay den Anführer der Schwarzmäntel bereits gepackt und besiegt hatten, war er vielleicht dabei gewesen.
Aber was wollte er nun im Stall?
Die Alte entschied sich, abzuwarten und huschte in den Schatten in der Gerümpelecke, von wo aus sie auf die Stallgasse spähen konnte. Mit ihrem grauen Gewand verschwand sie im Dämmerlicht zwischen all dem Zeug, keinen Moment zu früh. Denn kaum war Cýelú im Verschlag seines Rosses verschwunden, kam ihm im Gleitflug ein großer schwarzer Vogel nach, segelte elegant durch die offene Tür die Stallgasse entlang, landete und schlüpfte aus einem sanft aufleuchtenden Silberschimmer zurück in seine eigentliche Gestalt. Siledaú unterdrückte mit Mühe ein überraschtes Einatmen.
Er brachte es fertig, im Cielástel zu zaubern, wenn auch offensichtlich unter großer Anstrengung! Wie mächtig musste dieser Mann sein! Und mehr noch – Cýelú Irísolor, der Dummkopf, ließ sich davon nicht beeindrucken. Er versuchte mit der Schulter, Perlenglanz’ Schnauze aus der Heuraufe zu drängen, um ihm das Zaumzeug anlegen zu können.
„Gehen wir zusammen?”, fragte der Schattensänger, indem er sicheren Abstand zu den goldenen Gitterstäben hielt, „oder wollt Ihr Euch allein in Gefahr bringen?”
„Ach”, kam es ärgerlich aus dem Verschlag. „Lasst mich einfach in Ruhe!”
„Ich kann mir gut vorstellen”, fuhr der Schattensänger fort und blickte sich prüfend im Stall um, „dass die Kinder miteinander unterwegs sind. Oder neigt Euer Sohn dazu, kleine Mädchen zu plagen?”
„Meinen Sohn”, schnaubte Cýelú Irísolor, „habe ich dazu erzogen, ein ritterlicher und gebührlicher Junge zu werden.”
„Nun, dann sollten die beiden miteinander auskommen, denn meine Tochter ist freundlich und sanft wie die Blumen im Schatten des Boscargén.”
„Ich weiß”, gab Cýelú zurück. „Ich hatte die Freude, die Kleine kennenzulernen!”
Der Schattensänger schaute sich mit schwach silbern schimmernden Augen um, als suche er etwas. Natürlich. Wahrscheinlich hatte er selbst das Weibsstück hergeschickt und erwartet, sie hier vorzufinden..
Siledaú versuchte aus ihrem Versteck, einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen. Groß, schlank und elegant war er, aber sein Haar begann, zu ergrauen. Seine maghiscal war, ungeachtet des vielen Goldes im Cielástel, beinahe so deutlich zu spüren wie die des Goldenen. Das war … beunruhigend. Und … gefährlich. Dieser Schattensänger war mächtiger, als es Siledaú geheuer war. Mit ihm zu verhandeln würde ein hartes Stück Arbeit sein. Das musste sie sich sparen. Diesen Schattensänger musste ihr jemand aus dem Weg räumen.
Und es war sicher keine gute Idee, gerade jetzt an diesem Ort zu sein. Wie leicht konnte einer der beiden auf die Idee kommen, einen Blick in die Abstellecke zu werfen! Es war nicht auszuschließen, dann der Schattensänger ihre Anwesenheit spüren konnte, ungeachtet all der goldenen Gitterstäbe ringsum, die seine Wahrnehmung empfindlich stören mussten. Siledaú seufzte lautlos. Wie gern hätte sie die beiden Männer länger belauscht, um herauszufinden, warum sie sachlich miteinander redeten, statt einander wutentbrannt umzubringen. Aber sie durfte nicht riskieren, entdeckt zu werden. Noch nicht. Das würde die ganze schöne Überraschung verderben.
Den Stab suchen, oder vielleicht noch bequemer: abholen konnte sie immer noch. Nun aber …
„Wenn wir Siledaú finden”, sagte Cýelú und zog Perlenglanz am Zügel auf die Stallgasse hinaus, „überlasst sie mir.”
„Selbstverständlich. Haben meines- und euresgleichen einander nicht geschworen, sich nicht in die Angelegenheiten des anderen einzubringen?”
Der massige Körper des Einhorns mit den aufgestellten Flügeln nahm die gesamte Breite der Stallgasse ein, als Cýelú versuchte, es davon abzuhalten, störrisch wieder zur Heuraufe zurückzukehren. Dieser Moment oder nie! Es blieb keine Zeit zum Überlegen.
Siledaú glitt in einer schattenfließenden Bewegung zwischen dem Gerümpel hervor, hindurch durch die Hintertür und verschwand lautlos im Korridor dahinter.
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