„Farbenspiel?”, rief Dýamirée besorgt. „Was ist denn? Komm zu uns!”

„Er ist verwirrt”, sagte Advon Irísolor. „So benimmt er sich immer, wenn er etwas nicht kennt.”

„Was ist denn da? Hat er Angst?”

„Nein, natürlich nicht”, behauptete der Junge, der wohl Schwierigkeiten damit hatte zuzugeben, dass jemand, der ihm lieb war, sich vor irgendetwas fürchten könnte. „Er ist nur sehr vorsichtig.”

„Er spürt, dass etwas ans Tageslicht will.” Galéon warf einen besorgten Blick die Sandhügel ringsum hinauf, die die Senke umschlossen. Sie waren nicht allzu hoch und steil. Man konnte mit ein paar Schritten hinaufsteigen. Genau das sollten sie so schnell wie möglich tun. Er war nach wie vor überhitzt und verschwitzt nach der langen Zeit unter der erbarmungslosen Sonne. Aber nun, nun stellte sich jedes Härchen auf seiner Haut auf, so sehr fröstelte er.

Das kleine Mädchen stand ratlos neben ihm und beobachtete bestürzt, wie das Einhorn so zimperlich schnaubte, scharrte und seine Mähne schüttelte. Es wollte ganz offensichtlich zu seinem kindlichen Herrn und getraute sich doch nicht heran. Wo das Einhorn die Gefahr spürte, war das schwarzgewandete Kind arglos. Wahrscheinlich hatte die Kleine tatsächlich in ihrem Leben noch nichts wirklich Böses erfahren.

„Farbenspiel!”, rief der Junge tadelnd. „Nun sei nicht albern!”

„Gehorcht er dir immer, wenn du bei ihm bist?”, fragte Galéon, so ruhig, wie er seine Stimme halten konnte. „Oder ist er manchmal starrsinnig?”

„Der Stallmeister sagt, Einhörner sind stur wie Esel, wenn sie Gefahr spüren.”

„Und doch ziehen sie mit deinen Leuten in den Kampf?”

„Wenn sie kämpfen wollen, sind sie furchtlos wie die Ziegen. Wenn ein Regenbogenritter sie führt, gehorchen sie aufs Wort.”

„Und er hier?”

„Nun ja. Er ist noch sehr jung und musste noch nie kämpfen.”

„Und du? Hast du Angst?”

„Ich?” Der Junge schien nahezu empört.

„Dann geh”, sagte Galéon zu ihm „Nein: Lauf. Geh schnell zu ihm hin und beruhige ihn. Lass nicht zu, dass er flüchtet wie ein kluger Esel. Wir kommen nach.”

Advon runzelte fragend die Stirn. Aller Galéon beugte sich bereits zu dem kleinen Mädchen hinab. „Vergib mir, kleine camat’ayra“, entschuldigte er sich. „Darf ich dich auf den Arm nehmen?”

„Ich bin doch schon groß”, wehrte sie ihn ab. „Niemand muss mich tragen.”

„Es wäre mir trotzdem wohler, wenn ich dich ganz nahe mit mir hätte”, sagte der báchorkor, und zu dem Jungen, nun etwas energischer: „Lauf! Beruhige deinen Ziegenesel, bevor er in Panik gerät!”

Advon gehorchte und rannte den Hügel herauf, zu dem Einhorn hin. Farbenspiel schnaubte und tänzelte unruhig auf der Stelle, die gelben Schlangenaugen weit aufgerissen, die Nüstern gebläht, die Flügel hoch aufgerichtet und gesträubt. Der Hengst fixierte eine Stelle am Boden, so als nähme er dort etwas wahr, was noch nicht zu sehen war. Der Knabe sprang darüber hinweg, verharrte knapp vor dem Einhorn mitten im Schritt und wandte sich dann fragend um.

„Da ist etwas”, rief er leise. „Da ist etwas unter dem Sand! Es ist wie … kalte Luft, die aufsteigt.”

„Lauf!”, rief Galéon ihm nach, und im selben Moment brach etwas aus dem Untergrund hervor, durchstieß den Wüstensand wie ein Pfeil sein Ziel und ragte übermannshoch empor, eine Hand, eine riesengroße Hand mit sieben Fingern und dornenartigen Krallen, die einem Moment wie reglos ausgesteckt blieb und dann nach dem Einhorn tatschte wie nach einer Fliege.

Farbenspiel wischte ebenso rasch darunter weg, brüllte verstört und galoppierte davon.

Advon Irísolor war wie gelähmt. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er dieses monströse Etwas an, das sich nun in seine Richtung wandte.

Dýamirée hatte einen spitzen Aufschrei von sich gegeben. Galéon packte das schockstarre Mädchen und hob es an seine Brust. „Lauf!”, schrie er dabei dem Jungen zu. „Lauf um dein Leben! Dem Einhorn nach!”

Die Monsterhand fuhr zu Galéon herum. Anstelle von Fingernägeln hatte sie irre glotzende Augen ohne Lider, und offensichtlich konnte sie ihn auch hören.

„Lauf!”, brüllte Galéon. „Bei den Mächten, ich beschütze sie!”

Der Junge rannte los, endlich. Hinein in die Wüste. „Farbenspiel”, gellte er. „Farbenspiel! Komm zurück! Hilf mir!”

Das Einhorn brüllte nervös, aber es war nicht so weit fort, wie Galéon befürchtet hatte. Es jagte verstört um die Dünen herum. Advon Irísolor hastete ihm hinterher. Die Augenhand blickte sich wie suchend um, vielleicht überlegte sie, wen es sich eher lohnte, zu verfolgen.

„Nicht bewegen”, raunte der báchorkor dem Schattensängerkind zu. „Vielleicht rettet uns das!”

„Was ist das?”, wimmerte das kleine Mädchen entsetzt.

„Das, Dýamirée Lagoscyre”, wisperte er ihr ins Ohr, „ist ein Chaosgeist. Ein Wesen vom Ursprung des Weltenspiels.”

„Wie in den Märchen, die Papa mir erzählt?”

Was mochten Schattensänger über Chaosgeister wissen? Sicher bedeutend mehr als er.

„Genau solche”, flüsterte er ihr zu.

Sie atmete flach, stoßweise. Aber sie geriet nicht außer sich. Ihr grüner Blick musterte das Wesen so eindringlich, als wolle sie es bis in die letzte Einzelheit erkunden.

„Kannst du es besiegen?”, fragte sie dann vertrauensvoll.

„Es wäre besser”, hauchte er, „wenn dein Vater bei uns wäre.”

Der Chaosgeist war zu einer Entscheidung gekommen und bewegte die Finger. Dann reckte er sich blitzartig weiter aus dem Sand hervor, grabschte nach Galéon, und der rannte los.

Das Mädchen klammerte sich ängstlich an seinen Hals. Er stolperte mit ihr voran, aber sein Körper hatte sich noch lange nicht von den Strapazen erholt, denen er gerade noch ausgesetzt gewesen war. Galéon taumelte aus der Senke hinauf, in entgegengesetzter Richtung. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

„Keine Angst”, keuchte er dem Mädchen zu. „Keine Angst. Sie kommen nicht aus dem Loch heraus! Jemand hat sie da festgebannt.”

„Was ist das Schlimmes?”, wimmerte sie. „Wo kommt es her?”

„Böse Träume”, gab er ächzend zurück. „Keine Sorge. Es tut dir nichts. Du bist ja wach!”

Und während er das noch sagte, rutschte der Sand unter seinen Füßen weg und brachte ihn zu Fall. Er stemmte sich hoch, kämpfte gegen die unter seinen Füßen niedergehende Sandlawine an, und das Kind klammerte sich nur noch fester. Der Sand stürzte in die Tiefe wie durch einen Trichter.

„Ich hab Angst!”, jammerte sie. „Ich will zu meiner Mama!”

„Ich bring dich zu ihr”, versprach der báchorkor und drückte sie an sich, während er vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Doch der Sand glitt hinab, packte seine Füße und zerrte daran. Sie rutschten die Düne hinab, auf den handförmigen Chaosgeist zu, der Anstalten zu machen schien, sie auffangen zu wollen. Galéon ließ das Mädchen mit einem Arm los und versuchte, sich hochzustemmen, aber der Untergrund war nachgiebig und rieselte rasend schnell hinfort. Als Galéon über seine Schulter blickte, erkannte er, dass es am Grund der Senke pulsierte, so heftig, dass nach und nach die im Kreis aufgestellten Pfähle immer schiefer standen und der erste bereits umgestürzt war.

„Halt dich fest”, wisperte er und packte das Kind um die Taille, grub die andere Hand so tief in den heißen Sand, wie möglich. Fast beiläufig stellte er dabei fest, dass sein Arm bis zum Ellbogen durch die Oberfläche stieß. Der Grund darunter war schwerer, kühl, griffiger, eine feuchte Bodenschicht mit großen Steinen darin, getränkt von dem Wasser, das von Norden aus in die Wüste floss und dort versickerte. Der feine helle Wüstensand darüber, der war nur eine unter Pataghíus Glanz getrocknete Schicht. Galéon nahm all seine Kraft zusammen und krallte sich an dem festen Boden fest, mit Fäusten und Füßen. Das Kind strampelte, versuchte, Halt zu finden, ohne ihn zu behindern.

Unten im Sand warteten, lauerten sie. Die echten Chaosgeister, die erneut Lebendiges gewittert hatten und nun entschlossen waren, die Kinder zu packen, wenn es gerade keine unglücklichen Delinquenten gab.

„Halt dich gut an mir fest”, gebot er ihr und schob sie auf seinen Rücken. „Lass mich nicht los, bis ich es dir sage.”

„Und dann?” schluchzte sie. Immer mehr Sand flutete von der Oberfläche um sie herum und geriet ihnen zwischen die Zähne und in die Augen.

„Sobald ich es sage”, stieß er hervor, „lauf den Hügel herauf. Schau dich nicht um. Der Junge wird dir helfen. Renn zu dem Einhorn, wenn du es siehst, doch schau dich nicht nach mir um!”

Sie nickte verängstigt, aber sie stellte keine Fragen. Sie war in Todesangst, aber nicht in kopfloser Panik. Sie war wahrlich kein gewöhnliches kleines Menschenmädchen.

Und dann schoss direkt neben ihnen etwas Aufgedunsenes, Fleischfarbenes aus dem Sandtrichter, der sich aus der Senke bildete, während der Hügel immer steiler wurde. Es sah auf wie eine Kreuzung aus einem feisten Regenwurm mit vielen spindeldürren Krebsbeinchen. Das Wesen krabbelte blitzgeschwind voran und nahm kein Ende.

„Lauf!”

Dýamirée kreischte und machte einen Satz voran, hechtete ein Stück die Düne hinauf und robbte hastig voran. Überraschenderweise schien ihr zierlicher Kinderkörper auf dem abrutschenden Untergrund einen etwas sicheren Halt zu finden, denn sie brachte tatsächlich Abstand zwischen sich und ihn.

„Lauf!”, rief Galéon noch einmal, bevor der Wurm über ihn hinweg glitt, einen Buckel machte und dabei seinen Leib in einem Schwung versetzte, mit dem er den báchorkor auf den Rücken warf, sodass sein Körper parallel zum Gefälle drehte und weiterschlitterte. Das Monster drückte den Mann in den Sand, stützte sich an dem Menschenkörper ab wie an einer Stufe und schnellte hinter dem kleinen Mädchen her.

„Nicht!”, schrie Galéon und versetzte dem Chaosgeist einen Tritt. Er hatte keine Ahnung, welchen Körperteil er traf, aber es fühlte sich an, als stieße seine Fußspitze in einen halbleeren Wasserschlauch. Etwas schwappte in der Wurmhülle und versetzte das Monster regelrecht in Wogen, denn im Gegensatz zu einem echten Wurm hatte das unförmige, teigige Wesen keine Körpersegmente.

Der Chaosgeist gab einen seltsam erstaunten Laut von sich, fast wie das Maunzen eines Kätzchens, ließ seine Vorderseite vorschnellen. Der Teil seines Körpers, der sein Kopf zu sein schien, klappte auf, ein Maul, fast so lang wie der Kinderkörper, nach dem es schnappte, und voller flacher Mahlzähne.

Galéon kam für einen Moment auf die Knie, wenn auch in gebeugter Haltung. Er schnappte das Monster mit beiden Armen und versuchte, es zu halten und daran zu zerren. Das Kind durfte es nicht haben. Mochte es ich doch noch in die Tiefe zerren, an dem Mädchen durfte es sich nicht schadlos halten. Der báchorkor klammerte sich an dem Chaosgeist fest und kämpfte gegen ein übermächtiges Ekelgefühl an. Was er da in den Armen hielt und damit rang, war weich und quallig und ekelig lauwarm.

Von hinten senkte sich der Schatten des Handmonsters über ihn. Ringsum erklangen zwischenzeitlich weitere schaurige Geräusche, ein Schmatzen und Knurren und ganz entsetzliches Heulen. Das Gefälle wurde immer schiefer. Ohne hinzuschauen wusste Galéon, dass er über einem abfallenden Abgrund hangelte.

Und da versteifte sich das Wurmwesen, als sei es urplötzlich zu Stein erstarrt. Die kleinen Krabbenbeine spreizte es waagerecht vom Körper ab. Galéon stutzte und schaute nach oben.

„Komm”, rief das Mädchen mit hauchdünner Stimme. „Komm schnell. Ich glaube, ich kann es nicht lange halten!”

Die monströse Hand klatschte auf Galéon nieder. Der báchorkor schrie entsetzt und streckte ihr abwehrend sein Bein entgegen. Bis zu seinem Knöchel drang sein Fuß in das zweite Auge von rechts, das zerplatzte und stinkenden Schleim dabei verspritzte. Das Monster brüllte gequält auf und schnellte augenblicklich fast gänzlich zurück in das Loch, aus dem es hervorgekommen war, und Galéon drehte sich der Magen um. Mit Sicherheit hätte er sich übergeben, wenn er nicht seit zwei Tagen nichts gegessen hätte.

„Komm!”, rief das Kind. „Komm ganz schnell!”

Galéon dachte nicht nach. Die steifen Beinchen des Chaosgeistes waren fast so dienlich wie Leitersprossen. Der Sand rieselte hinfort, in seltsamen Schlieren, so als schwebe er kurzzeitig über der Erde, wie Nebel, wie Rauch. Es war, als seien die Zwischenräume zwischen den Sandkörnern viel zu groß und der Sand stürzte in einem Strudel zusammen.

Als Galéon das kleine Mädchen erreichte, stand das Maul des ersteiften Wurms sperrangelweit offen. Dýamirée hockte halb zwischen den schrecklichen Zähnen und hatte ihm das goldene Messer durch das, was sein Unterkiefer sein mochte, gestoßen, es damit an den Boden geheftet. Aus der Wunde quoll stoßweise etwas hervor, das wie schlammiges Moorwasser aussah. Das Kind zitterte am ganzen Leib, wusste wohl nicht, ob es sich bewegen durfte oder konnte. Das Monster aber war nicht tot, natürlich nicht. Chaosgeister waren unsterblich, weil sie nicht geboren wurden. Der Körper der Kreatur war zwar starr, vielleicht, weil sie spürte, dass sie verletzt war. In ihrem Rachen tastete eine unbestimmte Anzahl von ebenfalls wurmförmigen Zungen, als suche sie nach dem, das sie verletzt hatte. Es sah aus wie ein Pinsel mit langen Borsten, die in alle denkbaren Richtungen wogten, ganz dicht vor dem Gesicht des Kindes. Wenn es das Maul schloss, wäre es um das Mädchen geschehen. In den geheimnisvollen Wäldern von Forétern hatte Galéon einmal monströse Blumen gesehen, mit Kelchen, so zart und fein wie die rosa Blümchen, die als erstes unter dem Schnee hervorkamen. War ein Insekt so unvorsichtig, auf der Suche nach Nektar dort hineinzuschlüpfen, ballten die Blütenblätter sich mit einem Stoß zusammen, um es zu zerdrücken und aufzusaugen. Galéon ärgerte sich, dass ihm das gerade jetzt einfallen musste.

„Keine Bewegung”, wisperte er, denn er war nicht sicher, ob dieses Wesen hören konnte. Vielleicht war es egal, denn das Gebrüll der anderen Chaosgeister näherte sich, wenn sie doch wohl ebenfalls Schwierigkeiten hatten, dem abrutschenden Sand zu trotzen. Offenbar rutschten sie ebenfalls immer wieder zurück, so steil war das Gefälle zwischenzeitlich. „Kannst du dir vorstellen, du seiest ein Stein, Dýamirée Lagoscyre? Kannst du für mich reglos sein wie ein Stück Holz?”

Sie wollte nicken, zügelte sich aber gerade eben noch und starrte entsetzt und verwirrt zugleich auf die Tastzungen.

Galéon kletterte von dem Wurmtier hinab und nahm die Kleine in den Arm. Ganz vorsichtig, als sei sie unsagbar zerbrechlich, hob er sie über die Zähne hinweg, hielt den Atem an und zog sie dann mit einem Ruck zu sich. Die breiten Mahlzähne schnappten zu wie eine Schlagfalle. Dýamirée klammerte sich an Galéon fest und schluchzte. Aber sie waren noch nicht außer Gefahr.

„Weiter!”, rief er und zog sie auf die Füße. Geduckt, mit Händen und Füßen zugleich, krabbelte er weiter. Sie folgte ihm vertrauensvoll, aber nun doch in Panik. Das Wurmwesen kam wieder in Bewegung, wand sich wie eine Schlange und versuchte, seinen Kiefer von dem Messer zu befreien. Hinter ihnen waren andere Monster. Sie kamen näher. Und der Schlund unten an der Senke zerrte sie unaufhaltsam mit sich.

„Galéon”, hörte er das Mädchen weinen, „ich will zu Mama! Zu Papa! Ich hab so Angst!”

„Dann lauf”, sagte er. „Lauf, Dýamirée Lagoscyre. „Erzähl deinem Vater, was ich gefunden habe. Advon wird wissen, woher ich es habe. Dein Vater muss davon erfahren, falls mich hier etwas in die Tiefe holt!”

Er hielt inne und wandte sich um. Das Mädchen stolperte voran, bemerkte, dass er stehengeblieben war und schaute entsetzt auf.

„Was machst du?”, rief sie. „Du musst auch laufen!”

„Ich komme zurecht”, sagte Galéon und konzentrierte seinen Blick auf das Halbdutzend Chaosgeister, das da den Hügel hinauf flutete, jedes Einzelne so gestaltet, als habe ein Wahnsinniger Mensch und Tier zerhackt, beliebig wieder zusammengesetzt und in die Länge gezerrt, zusammengestaucht und durchgeknetet. „Aber deine Geschichte soll ein gutes Ende haben. Lauf!”

„Aber …”

„Lauf!”

Das Wurmwesen hatte sich befreit. Aus seinem Maul quoll morastiges Blut und tropfte dampfend in den Sand. Es spuckte das Messer aus, das nun verbogen und nutzlos war. Es erhob sich wie eine sich aufbäumende Schlange und schien Galéon mit seinen Krebsbeinchen umarmen zu wollen. Es ragte höher auf als das nun sechsäugige Handmonster, das sich gerade anschickte, wieder aus seinem Loch hervorzukommen.

Es waren ausschließlich echte, ursprüngliche, alte Chaosgeister. Die gequälten Menschenwesen, die minderen Chaosgeister, die waren nicht dabei, kein einziger. Wie konnte das sein? Wo waren sie hin? Hatten sie an einem anderen Ort zu tun?

Galéon wusste nicht, warum er es tat, und was er damit bezweckte. Er hob die Arme, streckte sie vor sich und spreizte seine Finger aus, bis es schmerzte. Und der Schmerz verdichtete sich außerhalb seines Körpers und wurde massiv.

Zurück, dachte er. Nicht hier. Nicht jetzt. Noch nicht!

Die Chaosgeister wichen zurück, nicht weit, aber sie kamen nicht näher. Sie geiferten und bleckten ihre Zähne. Aber es schien, als hätten sie Respekt vor ihm. Galéon war verblüfft. War das, was er da gerade tat, so eindrucksvoll, dass es sie bändigte, oder waren sie verwirrt und mussten überlegen, was sie denn nun tun sollten? Konnten sie denken? Und was, wenn er sich nun bewegte? Konnte er sich überhaupt jemals wieder bewegen?

Er blickte misstrauisch an dem Wurmchaosgeist vorbei. Vor ihm war ein Abgrund, ein Schlund, ein bodenloses Loch, das in eine finstere Tiefe führte. Und ihm gegenüber, auf der anderen Seite dieses Tiefe, oben auf dem Hügel …

Nun, der Rotgewandete war zu weit entfernt, als dass Galéon sein Gesicht hätte sehen können, und die beunruhigende Regenwolkenwand im Norden hinter ihm machte es nicht besser. Doch der báchorkor wäre bereit gewesen, bei den Mächten zu schwören, dass das Traumphantom beifällig lächelte.

„Lauf!”, rief Galéon dem Kind zu.

„Und du?”

„Ich komme nach! Ganz bestimmt”, behauptete er und zuckte zusammen. Ein Schatten senkte sich über ihn, aber er wagte nicht, sich danach umzuschauen.

„Dýamirée! Galéon!”

Das war der Junge! Der Junge mit dem Einhorn! Er hatte es einfangen können!

Und endlich, endlich setzte sich das Mädchen in Bewegung und begann, zu rennen. „Advon! Advon!”

Galéon schloss die Augen. Das, was er den Chaosgeistern entgegenwarf, was immer es war, reichte nicht mehr lange aus. Es floss aus ihm heraus, wie Wasser aus einem Schlauch. Der erste Chaosgeist, eine bizarre Mischung aus einem Hecht und einem Hirsch, der auf vier Armen mit kleinen Händchen lief, wagte sich bereits näher. Lächerlich klein gegen die anderen, wie ein vorwitziger Hund. Hinter ihm flatterten Schwingen und feinstaubiger Sand wurde heran geweht.

„Galéon! Komm her!”

„Flieht! Flieht, so schnell ihr könnt! Lass mich allein!”

„Nach all dem Aufwand, dich zu finden?”

„Bei den Mächten, gib deinem Einhorn die Sporen und flieht in den Cielástel! Ich kann die hier nicht mehr lange halten!”

Das Einhorn schnaubte und gab einen schrillen Laut von sich. Der Flügelschlag wurde stärker. Das Wurmwesen schnappte, eine Armlänge von Galéon entfernt schlugen die Zähne zusammen. Die Arme des báchorkor zitterten. Und das Handmonster grabschte nach ihm, in allen sechs Augen pure Mordgier. Der Schatten senkte sich über Galéon nieder.

„Halt dich fest!”, rief der Junge von oben, und ein doppelter Ledergurt, eine Schlinge schwang an Galéon vorbei.

Die Einhornzügel! Die, die seine Fesseln gewesen waren. Magisch, unzerreißbar.

Galéon haschte danach, verfehlte die Schlaufe aber. Doch für den Versuch, das Leder zu greifen, musste er seine Abwehr aufgeben, und der bissige Hechthirsch sprengte heran. Der Sand rutschte ruckartig ab.

Der Junge lenkte sein nervös schnaubendes Einhorn in einem engen Zirkel knapp über den Wesen, die ihn dort oben jedoch nicht zu bemerken schienen. Alle Aufmerksamkeit der Monster galt dem báchorkor und seinem hoffnungslosen Gehabe. „Fang!”, rief er und warf die Riemen wie eine Angelschnur. Das Mädchen war bei ihm, saß hinter ihm und klammerte sich so fest, dass sie ihm gewiss die Luft abdrückte.

Vielleicht könnten die Wesen Dinge nicht spüren, die keinen Bodenkontakt hatten?

Gerade im letzten Moment erhaschte der báchorkor den Riemen und schlang ihn sich ums Handgelenk. Zugleich stürzte der Sandtrichter völlig in sich zusammen und riss die Chaosgeister mit sich in die Tiefe. Galéon fühlte sich von den Füßen gerissen und in die Luft gezogen, verlor den Halt und strampelte kurz über dem Abgrund. Aber der Flug dauerte nur einen Moment und führte nur wenige Pferdelängen vom Bau der Chaosgeister weg. Dann senkte Farbenspiel sich ein Stück näher zum Boden, und Galéon wurde an dem Riemen mitgezogen. Und während das Einhorn, die beiden Kinder auf dem Rücken, knapp über dem Boden zum Cielástel zurückhetzte, ein gutes Stück über dem Erdboden, schleifte es den báchorkor durch feine, aufstäubenden und wunderbar stabilen Wüstensand. Hinter ihnen explodierte der Krater, spie eine turmhohe Sandwolke aus, die sich niedersenkte wie Schnee und den Trichter auffüllte, als sei dort niemals etwas gewesen.