
Binnen kürzester Zeit brach im Cielástel ein Durcheinander aus, wie Advon es nie zuvor erlebt hatte. Der Junge schaute seinem entfleuchenden Einhorn entsetzt nach. Farbenspiel, frei von jeglichem magischen Sattelzeug, das ihn unter Kontrolle gehalten hätte, preschte steil hinauf zum Himmel, über die Burgmauern hinweg und gen Wüste. Hier, direkt über den Mauern, gab es nichts, was ihn aufgehalten hatte, keinen unsichtbaren Zaun wie über den Weiden.
Advon musste sich zwingen, nicht aufzuspringen, nach ihm zu rufen und dabei sein Versteck preiszugeben. Es hätte keinen Sinn gehabt. Zum einen hätte Farbenspiel ihn nicht gehört. Zum anderen, das ahnte Advon, der den jungen Einhornhengst kannte wie kein anderer, hätte das Tier ihn auch nicht bemerkt. Farbenspiel war nicht ausgebüxt, um dem Stallmeister einen Streich zu spielen. Das Tier scheute und rannte in Panik vor etwas weg, brachte sich in Sicherheit. Vor irgendetwas musste es sich ganz entsetzlich erschreckt haben. Das musste nicht wirklich etwas Bedrohliches gewesen sein. Farbenspiel war noch jung und weniger erfahren als die Rösser der anderen Regenbogenritter. Ein ungewohntes Geräusch, eine Bewegung, die er nur aus den Augenwinkeln sah, das reichte bereits, um ihm einen Schreck einzujagen.
Bedenklicher war, was Farbenspiel tun würde, sobald er sich beruhigte. Ob er sich daran erinnerte, wohin er in einem solchen Fall flüchten sollte? Wo sie einander wiederfinden würden, wenn sie einmal getrennt und auf sich selbst gestellt waren?
Der Stallmeister stand erstarrt auf dem Hof, starrte dem entflogenen Einhorn entsetzt nach und beachtete kaum, wie der Blaue hinzu stürzte, ebenso verärgert wie besorgt. Der Mensch schenkte dem Magier gar keine Beachtung, so sehr der auf ihn einredete und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Der Rote, Orangene und Indigofarbene versuchten es gar nicht erst. Die drei stürzten in den Stall, verursachten dort ein großes Getöse und waren Augenblicke darauf wieder zur Stelle. Ihren Einhörnern hatten sie nur rasch Zaumzeug übergeworfen, um sie zu satteln reichte die Zeit nicht. Herzblut, Aranzie und Dämmerlicht schienen verdutzt. Was immer Farbenspiel aufgestört hatte, sie hatten es auch miterlebt, aber nicht aus ihren Käfigen entkommen. Die Eile ihrer Reiter versetzte die Tiere in Unruhe. Andererseits schien keines der Tiere etwas gegen einen Flug einzuwenden zu haben. Advon presste sich auf den Boden, versuchte, eines mit den bunten Steinen zu werden, und flehte zu Pataghíu, das keiner der Ritter ausgerechnet jetzt nach unten blicken mochte.
Er hatte Glück. Die arcaval’ay hatten nur Sinn dafür, das ausgebrochene Einhorn wieder einzufangen. Was derweil am Boden oder auf den Treppen und Brücken des Cielástel geschah, interessierte die Magier jetzt nicht. Sie mussten sich beeilen. Farbenspiel war jung und schnell. Er konnte in den Wolken Haken schlagen und in Windeseile aufsteigen und niedersinken, sie abhängen. Advon hatte das mit großem Vergnügen und Genuss ausgetestet. Erst später, nachdem die Eltern ihn wieder in ihre Arme geschlossen hatten und dabei ohne Unterlass Pataghíu gepriesen hatte er verstanden, wie gefährlich das gewesen war.
Jedenfalls: Wenn Sie Farbenspiel aus den Augen verloren, würde er ihnen vielleicht entwischen, wenn er Geschmack an der Freiheit fand. Advon seufzte wütend. Dass Farbenspiel gerade jetzt auf Abwege geriet, da er ihn doch so dringend brauchte, warf seine ganzen aufregenden Pläne weit zurück. Ohne das Einhorn konnte er das Mädchen nicht aus dem Cielástel bringen, und den Mann in der Wüste retten schon gar nicht. Musste sein bester Freund ausgerechnet jetzt entspringen?
Der Blaue war zurückgeblieben, denn sein eigenes Reittier stand ihm gerade nicht zur Verfügung. Ohne Erlaubnis Perlenglanz zu reiten, kam nicht in Frage, zumal Cýelús Einhorn noch erschöpft von dem langen Ritt war und ausruhen sollte. Also ließ der Blaue nur hilflos die Arme sinken, schaute kopfschüttelnd der wilden Jagd am Himmel nach und bezog dann wieder den Wachposten am Tor. Der Stallmeister ließ sich mitten auf dem Hof nieder, vergrub das Gesicht in den Händen und blieb in seiner Verzweiflung allein.
Und Siledaú? Die war, kaum dass die Regenbogenritter ihre Tiere auf den Hof geholt hatten, blitzschnell ihrerseits in den Stall geeilt, ohne dass der Blaue und der Mensch es in der Hektik bemerkt hatten. Aber Advon, der hatte es gesehen.
Was, bei den Mächten, war da im Stall geschehen, das Siledaú so alarmierte? Ob die Alte das kleine Mädchen etwa ausgerechnet in den Stall gebracht hatte? Ob Dýamirée etwas mit Farbenspiels Erschrecken zu tun hatte?
Advon rappelte sich auf und blickte kurz den drei arcaval’ay hinterher. Und wenn Farbenspiel sich doch einfangen ließ? Vielleicht würde er sich beruhigen und von selbst zurückkehrten, sobald er seine Artgenossen in der Nähe bemerkte. Die drei Ritter würden ihn dann einkreisen, in ihre Mitte nehmen und mit ihm zurückkehren. Das jedoch wäre fast noch ungünstiger, denn dann konnte Advon nichts tun. Vielleicht würde man Farbenspiel anschließend wieder die Ketten anlegen, so ungerecht das war. Was konnte schließlich das unschuldige Tier dafür, wenn jemand seine Tür offenließ?
Die Ritter würden versuchen, den Hengst davon anzuhalten, in bewohnte Gegenden zu laufen und dort Chaos anzurichten. Solange sie ihn nicht zu fassen bekamen, gab es Hoffnung. Zumindest dann, wenn Farbenspiel sich entschied, an ihrem Treffpunkt zu warten.
Der Junge hetzte weiter über die Brücke, hinein in den Cielástel und über Treppen und Flure dorthin, wo der rückwärtige Eingang zum Stall war. Der Weg, den er immer benutzte, wen er sich zu Farbenspiels Verschlag schlich.
***
„Was hast du angerichtet, du fürchterliches Balg!”, schimpfte Siledaú ganz in der Nähe. „Wie weit willst du es treiben?”
Keine Antwort. Fluchend griff die Alte zu und warf leichteres Gerümpel beiseite, unter dem der Prachtvogelkäfig begraben lag. Kästen und Stallwerkzeuge lagen kreuz und quer verteilt, Behältnisse hatten sich zum Teil geöffnet. Aus ihnen hatte sich ein Regen von Kleinkram auf den Boden ergossen. Ein Tiegel mit irgendeiner ranzig gewordenen Kräutersalbe, der vermutlich mehrere Sommer vergessen hier gestanden hatte, war am Boden zerschellt. Ein seltsam säuerlich-würziger Geruch erfüllte den Stall.
„Der Stapel ist umgefallen”, sagte das Kind kleinlaut. Die große Unordnung schien es nicht allzu betroffen zu machen.
„Von ganz allein? Irgendeinen Unfug hast du da drin veranstaltet!”
„Nein, das war ich nicht”, beteuerte das Kind.
Siledaú stand nun über dem umgekippten Vogelkäfig und warf erst dem Kind einen zornigen Blick zu und dann zu dem offenstehenden Einhornverschlag gegenüber. „Du lügst”, zischte sie.
„Nein, tue ich nicht. Das schöne Einhorn hat nach dem Gitter getreten, aber das Schloss ist nicht aufgesprungen. Seine Klaue ist daran hängen geblieben, und dann hat es versucht, sie wieder rauszuziehen, und dabei hat es an den Stangen geruckt und dann ist alles ins Rutschen gekommen und er hat ganz viel Krach gemacht und geknallt, und dann hat das Einhorn sich erschrocken und ist fortgelaufen.”
Siledaú schloss die Augen und zwang sich zur Ruhe. Das Kind log nicht, natürlich nicht. Schattensänger logen niemals. Stattdessen neigten sie dazu, entscheidende Details nicht zu erwähnen. Wie hatte das Balg es nur fertig gebracht, den Gaul ohne Magie aus seinem Verschlag zu holen?
„Advon Irísolor wird nicht erfreut sein, dass du ihm sein Haustier weggejagt hast”, sagte die Alte stattdessen. „Zu schade. Die arcaval’ay sind schon hinter dem Vieh her. Du wenn sie es erwischen …” Sie neigte sich über den Käfig, so dass sie dem am Boden liegenden Kind tief in die Augen sehen konnte. Die Kleine wich so weit zurück, wie sie konnte, aber sie wandte sich nicht ab.
Beeindruckend. Ob sie diesen Mut von ihrem Vater geerbt hatte?
„Wenn sie den Gaul niederringen”, vollendete die Alte den Satz, „dann hauen sie ihm seine Flügel und das Horn ab. Dann mag das Vieh vor einem Ackerpflug dienen, wenn es Glück hat. Schade. Advon hatte sich so darauf gefreut, einmal als stolzer Regenbogenritter darauf am Himmel reiten zu können. Damit ist es jetzt aus. Du hast seinen größten Traum zunichtegemacht!”
„Die Regenbogenritter tun dem Einhorn nichts!”, widersprach das Kind, aber es klang verunsichert.
„Es ist die oberste Regel der arcaval’ay, Menschen nicht in Gefahr zu bringen. Das bezieht sich auch auf toll gewordene Haustiere, ohne Unterschied zwischen bissigen Schoßhündchen und entsprungenen Kriegsrössern. Jedenfalls bist du verantwortlich, dass Advon sein geliebtes Ross verloren hat, noch bevor es zugeritten war.”
Das Mädchen ließ den Kopf hängen. Siledaú fügte hinzu: „Du bringst Unglück, Kind. Du bist verflucht. Du solltest nie geboren worden sein.”
Dýamirée verbarg das Gesicht in den Händen. „Wenn mein Papa mich befreit”, sagte sie leise, „macht er alles wieder gut.”
„Dein Vater lässt sich erstaunlich viel Zeit. Wann glaubst du denn, dass er hier eintrifft, um sich um dich zu kümmern? Ist es nicht vielleicht so, dass er froh darum ist, dich los zu sein?”
„Wieso?”
Siledaú schaute sich um. Hatte sie die Zeit für diese Diskussion? Nun, warum nicht? Der Stallmeister war draußen und am Boden zerstört. Der Blaue hatte in Ermangelung einer sinnvollen Handlungsmöglichkeit wahrscheinlich wieder Posten am Tor bezogen. Advon war bis auf Weiteres mit seinem Buch hinter einem unüberwindbaren Schloss eingesperrt. Was sollte ihr in die Quere kommen?
„Weil du unnütz bist natürlich! Was soll ein Schattensänger denn mit einem unkundigen Kind anfangen? Dazu noch mit einem Mädchen, das früher oder später möglicherweise seinem eigenen Fluch zum Opfer fallen wird? Was auch immer ihn dazu bewogen haben mag … Fleischliches mit einem Weib zu treiben, wie auch immer das überhaupt vonstattengegangen sein soll, sicher hat er sich erhofft, aus seinem eigenen Blut Magisches zu erschaffen. Nicht etwas … Wertloses ohne Magie. Vielleicht ist er froh, dich los zu sein?”
„Ganz bestimmt nicht”, sagte das Kind, das offensichtlich große Teile des Gesagten nicht verstanden hatte. „Mein Papa hat uns lieb, mich und meine Mama.”
Lieb? Nun wurde es weder absurd. Siledaú wollte weiter spotten, da fügte das Kind hinzu: „Aber er muss doch erst einmal erfahren, dass Meister Cýelú mich gestohlen hat. Weil er doch in dem teirandon hinter dem Montazíel ist, um den unkundigen Menschen zu helfen.”
„Deine Mutter wird ihn doch wohl darüber informiert haben?”
„Ich weiß nicht, ob sie das kann”, sagte Dýamirée leise. „Sie kann doch nicht so gut zaubern.”
Die Alte ließ sich auf einer der umgestürzten Kisten nieder. Nun, es wäre zu schön gewesen, wenn alles zügig der Reihe nach ineinandergegriffen hätte. Was das Kind da sagte, war einsichtig. Bevor der Schattensänger von der Entführung nichts wusste, würde er nicht auftauchen, um die Kleine auszulösen. Umso dringlicher war es, dass das Kind schnellstmöglich aus dem Cielástel verschwand. Nun, das würde sich bald erledigt haben. Und wie gut meinte das Schicksal es mit ihr, dass gerade jetzt bis auf einen alle Regenbogenritter ausgeflogen waren. Elosál und Cýelú mit einem Teil der Magier, um sich etwas anzuschauen, was der Meinung der arcaval’ay nach das Urteil der fajía erforderte, wie der Blaue erklärt hatte. Der Rest, um das just im rechten Moment entsprungene Einhorn einzufangen. Besser konnte es gar nicht kommen in der Folge der Zeit. Es war gerade ideal. Es war …
Siledaú runzelte die Stirn. Was konnte es geben, was die persönliche Anwesenheit der fajía erforderte? Worüber hatten sie geredet, Elosál, Cýelú und die Sieben, während sie selbst abgelenkt war?
***
Der Blaue konnte den Jammer des Stallmeisters nicht ertragen, hätte aber auch nicht gewusst, wie er den Menschen hätte aufmuntern sollen. Dass Farbenspiel entwischt war, hatte der Mann sicher in irgendeiner Weise mitverschuldet, aber so schlimm, dass er sich deswegen nun selbst bestrafen musste, indem er mitten in der Sonne sitzen blieb, war es nun auch wieder nicht. Die drei arcaval’ay hatten umgehend reagiert und die Verfolgung aufgenommen. Den jungen Einhornhengst einzufangen, würde nicht allzu schwierig sein. Das gutmütige Tier neigte nicht dazu, Ärger zu machen. Es war eben noch jung und schreckhaft. Mit Advon Irísolor als Reiter, sobald der die notwendige Größe und Kraft dafür hatte, würde das Einhorn sich prächtig entwickeln.
Der Ritter gab sich einen Ruck und wollte gerade seinen Posten verlassen, um den Mann wenigstens davon zu überzeugen, in den Schatten zu gehen, da bemerkte er die Reiter, die auf die Zugbrücke zuhielten. Also blieb er stehen und schaute den beiden Männern fragend entgegen.
Unkundige am Cielástel waren nichts besonders Ungewöhnliches, aber in der Regel waren es immer dieselben Personen, die etwas hier zu schaffen hatten, Futterlieferanten etwa oder vendyray, die irgendetwas feilboten, das sich die arcaval’ay nicht selbst beschaffen konnten. Die zwei hier hatte der Blaue noch nie hier gesehen.
Auch die beiden Männer waren wahrscheinlich noch nie so nahe am Heiligtum gewesen, denn sie glotzten staunend um sich und schienen zutiefst beeindruckt von den hohen, schillernden und glänzenden Mauern aus weißem Stein, Glas, Gold und Kristall. Dass der Torwächter ihnen den Weg versperrte, schienen sie erst richtig gewahr zu werden, als ihre Pferde anhielten. Die Tiere, ordentliche, aber wenig bemerkenswerte Lastenträger, gehörten zu einem Mietstall in Aurópéa, wie Plaketten an Sattelzeug und Zaum besagten. Einer führte am Zügel ein Maultier, dem ein Gestell mit zwei großen Lastkörben aufgeladen war.
„Wie kann ich euch helfen?”, fragte der Blaue höflich.
„Sollen hier was abholen”, sagte einer der beiden grobschlächtigen Burschen.
„Abholen?”
Der andere reichte dem Regenbogenritter ein Kärtchen. „Hier. Die hier.”
Der Ritter studierte die Zeilen, nickte und gab sie dem Mann zurück. „Ah. Ihr sucht Siledaú. Ist ihr wohl doch noch etwas eingefallen, was die Großmeisterin nicht mehr in diesen Mauern haben will, was? Was ist es diesmal? Noch mehr Bücher? Oder hat sie Artefakte übersehen?”
„Wir sollen…”, setzte der eine an, aber der andere fiel ihm ins Wort: „Wo finden wir diese Frau?”
Der Blaue zuckte die Achseln. „Sie war vorhin noch hier und kann nicht weit sein. Fragt den Mann da hinten, er soll euch suchen helfen. Er kennt sich im Gebäude aus. Dann geht er vielleicht auch aus der Sonne heraus.”
„Was is’ dem denn passiert?”, fragte der, der etwas dümmlicher zu sein schien.
„Fragt ihn selbst. Hauptsache, er kommt weg von da, wo er gerade ist.”
Er ließ die beiden passieren und beobachtete, wie sie auf den Stallmeister zuritten. Der Mensch blickte auf, die drei wechselten einige Worte miteinander und dann stand der eine auf und die beiden anderen stiegen ab. Die Ankömmlinge führten ihre Pferde hinter dem Stallmeister her in den Stall. Natürlich. Der Blaue lächelte. Der gutherzige Mensch würde es nicht zulassen, dass Tiere in der Hitze standen.
***
Advon hatte nicht alles angehört, was Siledaú zu Dýamirée gesagt hatte. Aber als er vorsichtig hinter der Durchgangstür hervorgelugt, die Alte gesehen und sich schnell wieder zurückgezogen hatte, war diese noch so sehr damit beschäftigt, boshafte Dinge zu dem kleinen Mädchen zu sagen, dass sie ihn gar nicht bemerkt hatte. Dýamirée war also tatsächlich hier, wo auch immer sie sich gerade befand. Vielleicht hatte sie irgendetwas damit zu tun, dass Farbenspiel ausgebrochen war. Ob sie ihn freigelassen hatte?
Von seinem Standort aus konnte er sehen, dass einiges von dem Zeug, das in der Ecke gelagert hatte, umgefallen war. Hatte Farbenspiel das etwa getan? Hatte er das Zeug neugierig untersuchen wollen, das er von seinem Käfig aus immer sehen, aber nie beschnuppern konnte? Kein Wunder, dass er sich erschreckt hatte, wenn ihm dabei all die Sachen entgegengefallen waren. Advon grinste flüchtig. Dann erklangen Huftritte am anderen Stallende, nicht das gewohnte Klackern von Einhornklauen, sondern metallbeschlagenes Trampeln wie von Pferden. Siledaú unterbrach ihre hasserfüllten Gemeinheiten, erhob sich und ging nachschauen.
Advon schaute um die Ecke und entdeckte den umgefallenen Prachtvogelkäfig, bedenklich verbeult, in dem Dýamirée lag, ohne sich aufsetzen zu können. Aber sie bemerkte die Bewegung und wandte sich ihm zu. Ein freudiges Lächeln breitete sich über ihr verweintes Gesicht und ein warmes, großes Gefühl sich in seinem Herzen aus. Er legte den Finger auf die Lippen. Sie nickte.
„Oh”, hörte er den Stallmeister zu jemandem sagen. „Da ist sie ja. Ihr habt Glück!”
„Bitte du die Mächte besser um Glück für dich”, fuhr die Alte ihn an. „Ich werde schon noch herausfinden, was hier vorgefallen ist!”
„Ich hab alles gemacht, wie ich sollte!”, wehrte sich der Stallmeister, mit einer Furcht in der Stimme, wie Advon sie nicht von ihm kannte. „Ich …”
„Rechtfertige dich später, ich hab jetzt keine Zeit für dich. Hast du nicht draußen was Besseres zu tun? Es muss nicht jeder gaffen, was ich Privates zu bereden habe! Du gehst mir besser eine Weile aus den Augen!”
Der Unkundige, der sich so gut um, die Tiere kümmerte, zögerte. Siledaú wartete ungeduldig.
„Ich glaub’, ich will von dem allem gar nichts wissen”, sagte er und trollte sich. Er packte seine Mistkarre und zog sie nach draußen. Der Misthaufen war außerhalb der Burgmauern. Das gab Siledaú etwas Zeit.
„Und ihr zwei? Da seid ihr ja endlich! Was steht ihr da rum und glotzt?”
„Der sinor schickt uns”, sagte eine Stimme, die Advon merkwürdig bekannt vorkam. „Sollen hier was abholen.”
„Ich weiß! Und je schneller ihr das tut, umso besser! Kommt mit!”
Advon zog sich lautlos wieder zurück. Die Pferdetritte und Schritte von Menschen näherten sich. Perlenglanz schnaubte die Tiere an, als sie an ihm vorbei geführt wurden. Ein Maultier antwortete furchtlos.
„Was hat euch aufgehalten”, schimpfte Siledaú. „Längst hättet ihr hier sein müssen.”
„Woher hast du überhaupt gewusst, dass wir kommen?”, fragte eine zweite Stimme, von der Advon überzeugt war, dass er sie kannte. Wenn er doch nur nachschauen könnte!
Siledaú schwieg mitten in ihrer Schimpftirade, als sei sie für einen winzigen Augenblick verwirrt. Dann redete sie weiter, als habe sie nichts gehört.
„Da drin”, sagte sie. „Ihr wisst, was ihr zu tun habt.”
„Das ist ja ‘n kleines Mädchen”, sagte der eine Mann verblüfft.
„Ich heiße Dýamirée”, antwortete das Schattensängerkind arglos.
„Du bist still”, raunzte Siledaú, besann sich und fügte hinzu: „Besser, ihr verschließt ihr den Mund.”
„Aber das hätte der sinor Úldaise uns sagen müssen!”, beschwerte sich einer der beiden. „Jetzt haben wir gar kein Metallzeug beim Zeughaus vom konsej abgeholt!”
Advon runzelte die Stirn. Sinor Úldaise? Schon wieder? Waren die beiden etwa …
Er wagte es und schaute vorsichtig nach. Tatsächlich! Die beiden grobschlächtigen Handlanger des Ratsältesten! Die, denen er den Kuchen geschenkt hatte und die irgendetwas mit dem Feuer im Garten zu tun hatten! Siledaú kehrte ihm den Rücken zu, während die beiden sich an dem Käfig zu schaffen machten. Der eine hob Dýamirée auf, mit bemerkenswerter Vorsicht. Dem anderen drückte Siledaú ein Stück Kordel in die Hand, die vielleicht im Gerümpel gelegen hatte. Offenbar sollte er das Mädchen damit fesseln.
Advon ballte die Fäuste und hielt den Atem an. Das Mädchen machte es den Männern einfach, indem es sich mit keiner Regung wehrte. Advon hatte erwartet, dass sie ängstlich kreischen und um sich treten würde. Aber sie schien keinen Widerstand zu leisten. Das erstaunte ihn, nachdem sie sich doch so tüchtig gegen die Alte zur Wehr gesetzt hatte.
„Wo bringt ihr mich denn hin?”, fragte sie stattdessen zutraulich.
„Unser Herr sagt, in seinem Garten …”
„Halt den Mund, unverschämtes Gör”, fiel Siledaú ihr ins Wort. „Du da! Hast du noch von dem Zeug bei dir, was ihr für den báchorkor benutzt habt?”
„Woher …”
„Ich hab noch was”, sagte der andere. Advon hörte, wie er sich an etwas zu schaffen machte und nahm dann einen süßlich-bitteren Geruch war, ganz zart und flüchtig. Er vermengte sich mit dem der ranzigen Salbe.
„Hier, Kleines!”, sagte der dümmlichere der beiden. „Schnupper mal da dran! Ist wie ein Duftwasser von den feinen Damen!”
„Wo habt ihr denn Duftwasser her?”, fragte Dýamirée interessiert. „Und warum benutzt ihr es nicht?”
„He!”, empörte sich der andere. „Soll das heißen, wir stinken?”
Siledaú schnaufte entnervt auf, riss dem grobschlächtigen Kerl ein kleines Fläschchen aus der Hand und schüttete Dýamirée den Inhalt kurzerhand ins Gesicht. „Sei still!”, fauchte die Alte.
„Das riecht wie Nachtwindenkr …”, plapperte Dýamirée, ohne das Wort zu vollenden. Sie murmelte nur noch etwas mit schleppender Stimme, dann erschlaffte ihr Körper im Griff von Úldaises Knecht.
„Bringt sie weg”, sagte Siledaú und warf das Fläschchen zu dem verstreuten Gerümpel. „Das Mittel wird nicht lange halten. Sobald ihr außer Hörweite des Cielástel seid, mag sie kreischen und winseln, so viel sie will. Ihr seid gut beraten, auf nichts von dem zu hören, was sie mit ihrem süßen Stimmchen und unschuldigem Blick in Euren Verstand setzen will. Dieses Kind ist gefährlich.”
„Gefährlich? Die Kleine?”
„Sie ist tödlich. Wenn Úldaise sie nicht lebendig bräuchte, längst hätte ich sie ausgemerzt. Also, denkt an meine Worte, schafft sie fort und kümmert euch nicht um das, was sie von sich gibt!”
Die beiden murmelten etwas. Dann öffnete der eine einen der Tragekiepen, die auf das Maultier geschnallt waren, und ließ das bewusstlose Kind sorgsam hineingleiten.
„Woher weißt du, was wir mit dem báchorkor gemacht haben?”, fragte der Klügere der beiden misstrauisch.
„Es spricht sich herum”, versetzte Siledaú. „Und nun geht!”
„Aber …”
„Lass sie doch”, redete der andere auf seinen Gefährten ein. „Keine Fragen, guter Verdienst. Geht uns nichts an, warum wir hier Kinder aus’m Stall von den Buntkerlen abholen sollen.”
„Wir schon seine Gründe haben. Hast recht.”
„Das ist vernünftig von euch. Immerhin wird Euer Herr Euch reich bezahlen.”
„Ja. Dreißig Opale. Für jeden”, prahlte der Erste.
„So. Dreißig”, sagte Siledaú ruhig.
„Dafür, dass wir den báchorkor zum Verrecken in die Wüste gebracht haben, hat er uns viel weniger ausgezahlt”, beschwerte sich der andere. „Und das war viel mehr Arbeit!”
„Und am Ende ist der Kerl auch noch aufgewacht!”
Aufgewacht? Advon wagte einen weiteren Blick.
„Ich bin sicher”, sagte Siledaú, „dass ihr dafür euren gerechten Lohn bekommen werdet. Und nun sputet euch. Úldaise wird nicht sehr erfreut sein, wenn ihr noch hier seid, bevor er hier eintrifft. Ich führe Euch über die Brücke, dann müsst ihr keine dummen Fragen beantworten. Die Regenbogenritter sind ehrbar, aber zuweilen schrecklich neugierig.”
Die Alte ging voran und führte die beiden Knechte aus dem Stall. Perlenglanz giftete den Pferden zum Abschied großspurig hinterher.
Advon wartete, bis die Menschen den Stall verlassen hatten. Dann verließ er seine Deckung. Wenn es ihm nur gelang, ebenfalls nach draußen zu huschen und den Blauen zu alarmieren, dann …
Der Junge zögerte. Dann besann er sich eines Besseren. Konnte es denn trefflicher kommen als jetzt? Diese beiden sonderbaren Kerle beförderten Dýamirée gerade heraus aus dem Cielástel, mit Billigung der Alten. Ohne, dass er selbst dafür ein Wagnis eingehen musste. Mehr noch: Er wusste sogar, wohin sie sie bringen würden. Den Weg zum Garten kannte er.
Advon drehte sich um, schlüpfte wieder zurück ins Gebäude und begann, zu rennen. Fast wäre er auf dem silbernen Fläschchen ausgerutscht, das am Boden lag.
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