
Yarl Emberbey schaute verblüfft auf die Kinder, die im strömenden Regen die Treppe zum Hocheingang hinaufstiegen, angeführt von keinem geringeren als seinem eigenen Sohn. Da stand er, mit nassen Gewändern, triefendem Haar, das ihm an der Stirn klebte. Er trug eine Entschlossenheit in seinem von diesen schrecklichen Glasscheiben gezähmten Blick, dass der alte Ritter darüber stutzte. Ihm folgten die beiden älteren Jungen in ihrer adretten, wenn auch nicht ganz tadellos angelegten Knappengewandung, beide angetan mit ihren noch hölzernen Schwertern. Der Anblick von Jándris Altabete und Láas Grootplen versetzte dem yarl einen Stich, einen Schmerz der Enttäuschung, von dem sich Schwermut ausbreitete. So hätte er sich die Zukunft des rumreichen Hauses Emberbey gewünscht, flink und zäh und mutig und geziemlich, wie es sich für einen jungen yarlandor gehörte.
Dann bemerkte er, dass die kleine Tochter von yarl Moréaval, die aus irgendeinem Grund einen Teller mit Naschwerk mit sich herumtrug, seinen Sohn vertrauensvoll bei der Hand hielt. Daheim tat Truda das manchmal auch, aber sie war seine Schwester. Das war etwas gänzlich anderes. Auch das kleine Mädchen war durchnässt vom Regen.
„Vater”, ergriff Osse das Wort, noch bevor er selbst eine Frage stellen konnte, „falls yarl Althopian dort oben ist, müssen wir mit ihm reden.”
„Herr Wayreth ist beschäftigt”, sagte Alsgör Emberbey. „Ich darf niemanden vorlassen.”
„Wenn Herr Wayreth uns selbst fortschickt”, sagte Osse, „werden wir augenblicklich gehorsam sein und den Turm wieder verlassen.”
Der yarl traute seinen Ohren nicht ob dieser Dreistigkeit. Er tat einen Schritt in die Mitte der Türschwelle. Nun, sie würden es nicht wagen, an ihm vorbeizuschlüpfen und darauf zu vertrauen, dass er ihnen nicht folgen konnte.
„Solange ich hier stehe”, sagte er, „werdet ihr den Turm nicht betreten, Osse.”
„Und wenn wir eine hilfreiche Idee hätten, für das, womit der hochedle Herr sich dort so sehr abmüht?”
Alsgör Emberbey schaute die beiden anderen Jungen an. „Und was wisst ihr von dem, weshalb Herr Wayreth in Nöten ist?”
„Mehr, als uns lieb ist”, kam es von Láas Grootplen, aber Jándris Altabete, der wohl eloquentere der beiden, hatte ein Gegenwort auf den Lippen. „Wenn mein Vater da oben wäre und sich keinen Rat wüsste – ich meine, was immer da gerade das Problem ist – ich bin mir sicher, er würde jede hilfreiche Idee hören wollen.”
Vorlaut war er, der junge Altabete, und trotzdem beließ Herr Alsgör es bei einem rügenden Blick.
„Und wo habt ihr sie her, die hilfreiche Idee?”
„Ich habe gelesen“, sagte Osse.
„Und ich hab Sachen besorgt“, fügte das kleine Mädchen mit einem stolzen Blick auf die verwässerten Pfannkuchen hinzu und fügte verschwörerisch hinzu: „Aber das ist ganz geheim!”
„Und wir, wir haben …”, begann Láas, aber Jándris fiel ihm ins Wort: „Wissenschaftliche Studien betrieben.”
Herr Alsgör schaute von einem zum anderen. Von seinem Sohn hätte er es ohnehin nicht erwartet, aber alle anderen sahen ebenfalls nicht aus, als wollten sie ihm einen kindischen Streich spielen. Und hatte der teirand, die teiranda selbst nicht verfügt, man solle den Kindern kein Hindernis sein?
„Und wenn eure Idee nichts anderes ist als eine kindische Spinnerei? Etwas aus einem Märchenbuch und dem Geschwätz einer opayra?”
Tíjnje kicherte verstohlen über diese Respektlosigkeit aus dem Mund des alten Mannes, aber es war Láas Grootplen, der sagte: „Herr Alsgör, yarl Althopian und unsere Väter, seine Freunde, sind in Sorge um seinen Sohn. Wir sind in Sorge um unseren Freu… Standesgenossen.”
„Eines Tages”, fügte Jándris hinzu, „sollen wir doch eine Kumpanei sein, zum Ruhm und Schutz unserer teirandanja. Alle vier. Es ist uns sehr ernst.”
Vier? Damit konnte der yarlandor sicherlich nicht den Jungen aus Rodekliv meinen. Der war sein Geheimnis und das seines Sohnes. Ob …
„Und Tijnje“, stellte Láas klar und legte seine Nichte seine schon so kräftigen Hände auf die Schultern. „Eine Kumpanei und eine tugendreiche Dame dabei.”
„Mögen die Mächte und die teiranday es mir verzeihen”, sagte der yarl und trat beiseite.
Osse verneigte sich förmlich. „Danke, Vater.”
Einen Moment schauten sie einander in die Augen. Ein paar Regentropfen rannen über die Brillengläser. Dann ging der Sohn ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei in den Turm. Die anderen folgten ihm, manierlich ohne zu drängeln.
Alsgör Emberbey schaute ihnen nach, als sie die steinerne Treppe im unteren Teil des Turmes hinaufstiegen. Er fragte sich, ob es seiner Gefährtin gefallen hätte, den Jungen so zu sehen.
Wie gut, dass es regnete. So ging es niemandem etwas an, wie feucht seinen Wangen waren.
***
Asgaý von Spagor versuchte, seine Tochter abzulenken. Er hatte sich mit ihr an dem Tisch in der Halle niedergelassen, wo das verwaiste Steinespiel gestanden hatte, und mühte sich, sie für eine Partie zu begeistern. Doch selbst als Kíaná von Wijdlant sich zu ihnen gesellte, war das Mädchen unaufmerksam. Ob es daran lag, dass sie ganz ohne die anderen Kinder und vor allem ohne Tíjnje, ihre unverzichtbare Vertraute, war?
Am Tisch hatte ein Buch gelegen, für das selbst Tíjnje schon zu alt war. Wahrscheinlich hatte eines der Kinder es aus der Büchersammlung geholt und sorgsam hier liegen lassen, um es nicht unnötig herumtragen zu müssen. Der teirand erinnerte sich dunkel, dass er das Buch vor einigen Sommern einem geschäftstüchtigen vendyr abgekauft hatte, der Literatur aus allen Gegenden beidseits des Montazíel feilbot. Manjév hatte das Buch wenig geschätzt, zu läppisch war die Geschichte gewesen. Nun aber blätterte sie nachdenklich durch die Seiten und achtete kaum darauf, dass die Eltern nun schon die zweite Runde begonnen hatten. Kíaná von Wijdlant war unachtsam, obwohl Asgaý sich alle Mühe gab, seine hýardora gewinnen zu lassen. Doch letztlich war es egal, kam es doch nur darauf an, das Kind im Auge zu behalten. Was immer die Ritter im Turm bewirken mochten, was immer den Kindern eingefallen sein mochte – Manjév sollte außer Reichweite bleiben, bis das Problem gelöst und Merrit Althopian befreit war. Ob über das Dach, wie Althopian es sich vorgenommen hatte, oder durch die Tür, falls jemandem etwas Besseres einfiel.
Manjév legte das Bilderbuch aufgeschlagen auf den Tisch und nahm sich dann den schmalen, mit bunten Glassteinen besetzten Reif vom Kopf. Es war eine Kinderkrone aus poliertem Messing, eine, die vor langer, langer Zeit ihre Mutter selbst getragen hatte.
„Wann bekomme ich eine echte goldene Krone?”, fragte das Mädchen plötzlich.
„Gefällt dir diese nicht mehr, Kind?”
„Sie ist nicht richtig. Das ist Tand!”
„Du brauchst noch keine goldene Krone, Manjév. Sei froh darum, dass dir noch eine Frist bleibt, bis du diese Verantwortung tragen musst.”
„Darf ich einmal deine Krone aufsetzen, Mama?”
Kíaná von Wijdlant schaute sich kurz um, ob jemand von den Schutzbefohlenen hinsah. Dann reichte sie der Tochter ihren Goldreif. Manjév setzte sich das Herrschaftszeichen auf den Kopf, aber es war noch zu groß dafür und rutschte ihr zu weit die Stirn hinunter. Enttäuscht gab sie es der teiranda zurück. Die Mutter lächelte.
„Warum will Noktáma nicht, dass Schattensänger Pataghíus Gold berühren?”
„Das ist, damit die Menschen sich gegen die Schwarzgewandeten schützen können.”
„Das verstehe ich nicht.”
„Liebes, als Noktáma ihre Diener ins Weltenspiel gesetzt hat, gab sie ihnen sehr viel Macht. Das war wichtig, weil sie dazu bestimmt waren, in Noktámas Namen das Weltenspiel zu beschützen. Aber Pataghíu sah das und gab zu bedenken, dass es nicht gut sei, so mächtige Wesen ins Weltenspiel zu setzen, ohne dass die Menschen sich gegen sie wehren konnte.”
„Aber hat Noktáma die Schattensänger denn in die Welt gesetzt, damit sie den Menschen schaden?”
„Nein. Aber Pataghiú traute den Schwarzgewandeten nicht, denn es waren immer noch verführbare Menschen mit eigenem Willen. Anders als seine Regenbogenritter und die fajíae.“
„Das verstehe ich auch nicht.”
„Machst du denn immer das, was man dir aufträgt, Manjév?”, fragte die teiranda belustigt.
„Auch, wenn es zuweilen unentdeckt bleibt?”
Die teirandanja errötete.
„Und so einigten Pataghíu und Noktáma sich, den camata’ay Schwächen zu geben. Und da Noktáma sich so über Pataghìus Verschwendung geärgert hatte, fiel die Wahl leicht.”
Manjév runzelte skeptisch die Stirn. „Das ist doch nur eine von deinen Geschichten, oder?”
„Nein”, sagte Kíaná von Wijdlant, und ihr Blick verschwamm unvermittelt, so als schweife er in weite Ferne. „Es ist wahr. Gold … Gold bricht dunkle Zauber.”
Asgaý von Spagor schaute seine hýardora verblüfft an. Kíaná von Wijdlant drehte ihre Krone nachdenklich zwischen den Händen. Dann erhob sie sich ruckartig.
„Bei den Mächten! Nun erst fällt uns das ein!”
***
Advons Herz klopfte schneller, als er sich dem kleinen Wäldchen etwas abseits der Straße nach Aurópéa näherte. Diesen Ort hatte der Junge bereits vor vier Sommern entdeckt, damals noch zusammen mit seinem Vater im Sattel von Perlenglanz. Er war damals noch viel kleiner gewesen, es war ein heißer Tag gewesen und irgendwann hatte er wohl angefangen, zu quengeln, weil er sich unbehaglich fühlte. Cýelú Irísolor war daraufhin mit ihm in den dichtesten Schatten gegangen, den er hatte finden können, unter diese vielleicht vor ewigen Zeiten von einem Garten übrig gebliebenen Bäumen, deren Kronen mit fleischigen dicken Blättchen und dürren Ästchen sich etwas über Mannshöhe zu einem undurchdringlichen, lichten Gewirr vereinten. Dort hatte der Goldene mit seinem kleinen Sohn gerastet, und Advon hatte eine Weile geschlafen und sich abgekühlt. Danach war alles wieder gut gewesen, und sie waren in den Cielástel zurück geritten.
Etwas an diesem Ort, die Stille, die Kühle und der blaue Himmel über den Bäumen, hätte etwas in Advon angerührt, das er nicht vergessen hatte. Als er später einmal die Gelegenheit hatte, hatte er den Rastplatz von damals gesucht, zu seiner Freude wiederentdeckt und Farbenspiel dorthin geführt, als es ihm einmal gelang, Siledaús wachsamen Augen zu entwischen.
Sie hatten sich dort erfolgreich eine ganze Weile versteckt, bevor die arcaval’ay, allen voran ein völlig aufgestörter und besorgter Cýelú Irísolor, ihn aufgespürt hatten. Natürlich war Magie im Spiel gewesen dabei.
Aber nun gerade … gerade erst waren die Eltern und die übrigen Magier ins Heiligtum zurückgekehrt. Mit etwas Glück hatte man sein Ausreißen noch gar nicht bemerkt. Siledaú hatte ihm sicher nicht umsonst eine Aufgabe zugeteilt, die ihn viele Gongschläge beschäftigt halten würde.
Als Farbenspiel ihn kommen hörte, stemmte das Einhorn sich vom Boden hoch und schritt mit vorgestrecktem Hals, auf Klauenspitzen, aus dem knackenden Dickicht hervor. Die Flügel hatte es so dicht an den Körper gelegt, wie es konnte, um das Gefieder nicht in Unordnung zu bringen. Einhörner mochten keine Enge. Umso dankbarer war Advon, dass Farbenspiel sich nicht nur an den Ort erinnert hatte, sondern auch freiwillig dort gewartet hatte. Sicher hatten die Süßigkeiten, mit denen er das Einhorn bestochen hatte, dazu beigetragen.
Advon hatte von dem unkundigen Stallmeister gelernt, dass unkundige Ritter ihre Rösser lehrten, zu ihrem gestürzten Herren oder, sofern der nicht mehr aufsteigen konnte, in ihren Stall zurückzukehren. Wenn ein einfältiges Pferd ein solches Kunststück schon beherrschte, dann war es doch für ein Einhorn, das auf eine ganz andere Weise mit seinem Herrn eine Einheit bildete, wohl nicht schwer, sich an einen Treffpunkt zu erinnern. Der Orientierungssinn der Einhörner war immerhin vorzüglich. Und Farbenspiels Naschsucht unübertroffen.
Advon umarmte dankbar den Kopf seines Reittieres und belohnte ihn mit einem Stück des besonderen Früchtekuchens. Während Farbenspiel zufrieden kaute, legte Advon ihm einen Zügelriemen um den Hals. Das musste als Sattelzeug reichen. Dann kletterte er, die Beuteltasche mit dem Wasser und seiner Ausrüstung auf dem Rücken, zunächst auf einen niedrigen Ast und von dort auf den Rücken des jungen Hengstes.
„Wir sind jetzt auf einem richtigen Abenteuer”, erklärte er dem Einhorn. „Und wir haben ganz viel zu tun. Zuerst retten wir eine Dame in Not, dann befreien wir einen Unschuldigen und am Ende entlarven wir Siledaú und ihre üblen Pläne. Du hilfst mir doch?”
Farbenspiel prustete und lüpfte seine Flügel so weit, dass Advon seine Knie dahinter klemmen konnte. Der Junge klopfte seinen Hals und dirigierte das Einhorn wieder hinauf zur Straße.
„Wir müssen uns beeilen, aber ich glaube, es ist besser, wenn wir noch nicht fliegen und abseits der Straße bleiben. Es ist besser, wenn uns niemand von der Burg aus sieht oder Unkundige auf uns aufmerksam werden. Kannst du rennen, Farbenspiel?”
Das Einhorn schnaubte und kletterte die kleine Steigung aus der Senke heraus. Dann trabte es an und hielt sich südwärts, weiter in Richtung der Hügel. Er hätte einfach, wie er es so gern tat, lospreschen und sich in eine Staubwolke voran bewegen können, aber Advon vermutete, dass das Tier nicht riskieren wollte, ihn auf seinem wackeligen, sattellosen Sitz zu verlieren. Also entschied Farbenspiel sich für einen Kompromiss. Er galoppierte so sanft wie möglich, breitete die Flügel aus, sobald dafür genug Platz war, und segelte alle paar Sprünge sanft voran wie eine Schwalbe. So vermied so kleinere Senken und war erheblich schneller als die Reit- und das Lasttier von Úldaises Männern.
Advon flehte dennoch zu Pataghíu und hoffte, er würde den beiden zuvorkommen, bevor sie den Garten erreichten. Der Junge atmete erleichtert auf, als er die Hügelkuppe mit den weggebrannten Pflanzen in der Ferne ausmachen konnte. Auf diese Weise erwies sich das Feuer im Nachhinein als eine Fügung der Mächte. Der Junge war sich nicht sicher, ob er sonst unter all den Gärten den richtigen herausgefunden hätte.
***
„Findest du auch seltsam, was der Alte mit ‘nem kleinen Kind vorhat?”, fragte derjenige von Úldaises Knechten, der manchmal zum Nachdenken neigte.
„Ist doch egal, solang’s Opale bringt”, sagte der andere, der mit den Gedanken ganz woanders zu sein schien. „Geht uns nichts an.”
„Na ja. Aber immerhin. ‘n Kind. Was hat’n Kind mit dem Alten zu tun?”
„Hättest die Alte ja fragen können. Ist bestimmt eine Schwester von ihm oder sowas.”
„Oder sein Liebchen.”
Nun kicherten die beiden und malten sich aus, ob und wie eine Zweisamkeit zwischen Úldaise und der grantigen alten Frau vonstattengehen könnte. Sie waren sich einig, dass das wohl eine ziemlich unanständige Sache sein dürfte.
Nach einer Weile wurde ihnen das langweilig. Das Gespräch kam zum Erliegen, bis der eine nach einer Weile fragte: „Wie lange willste noch für den Alten schuften?”
„Wie meinste das?”
Der andere zuckte die Achseln. „Hab überlegt. Im Moment ist alles gut. Aber ich werd’ auch nicht jünger. Ich glaub, sobald ich die Opale hab, such ich mir was anderes.”
„Oh. Versteh ich.”
„Kannst ja mitkommen, wenn du willst.”
„Nach Ferocrivé?”
„Hab gehört, da gehen viele hin, denen Aurópéa zu heiß wird. Der yarl da sucht immer Kerle, die anpacken können.”
Der andere dachte darüber nach, aber ein Geräusch lenkte ihn ab. In der Tragekiepe des Maultiers regte sich etwas und stöhnte tief auf.
„Schnell. Das Gör kommt zu sich!”
Sie trieben ihre Reittiere an und zogen das Packtier mit sich. Gerade, als sie den verkohlten Dornbeerbusch an der Grundstücksgrenze passierten, kam Leben in die menschliche Last.
„Lasst mich raus!”, forderte die Stimme des kleinen Mädchens. Wenig ängstlich, vielmehr ziemlich energisch.
„Halt dein Maul”, raunzte der Gröbere der beiden sie an. „Sind noch nicht am Ziel!”
„Aber ich will hier raus!”
„Wirst schon noch früh genug rauskommen!”
„Wenn mein Papa herausfindet, dass ihr mich wegschleppt”, kam es düster aus dem Korb, „dann …”
„Was dann? Wird er uns dann verprügeln, dein Papa?”, lachte der andere.
„Nein. Dann …” Stille im Korb. Offenbar fiel der Kleinen einfach keine Drohung ein, die schrecklich genug gewesen wäre, nichts Schreckliches, was sie ihrem Vater zutrauen würde. „Dann werdet Ihr beide das bereuen. Mein Papa ist der mächtigste Schattensänger! Und wenn der Goldene Ritter es erst erfährt, dann …”
„Welcher goldene Ritter?”
„Na, Meister Cýelú! Unter dessen Schutz stehe ich nämlich auch! Und der hat ein scharfes Schwert und er kann fechten! Ich hab gesehen, wie er den netten unkundigen Ritter …”
Wieder verstummte sie. Aber diesmal wechselten die beiden Männer alarmierte Blicke.
„Wenn das Gör doch zu den Regenbogenkerlen gehört”, wisperte der eine, „dann sind wir in Schwierigkeiten.”
„Aber was hat der Alte mit einem Balg von den Magiern zu tun?”
„Weiß ich’s? Vielleicht will er was vorbereiten für seinen großen Auftritt. Vielleicht will er was in der Hand haben.”
„Ich komm mit nach Ferocrivé.”
„Dann los!”
Sie ritten weiter und zerrten das beladene Maultier den Hang hinauf. Der Geruch der verbrannten Pflanzen schien die Tiere nervös zu machen. Das Kind war eine Weile ruhig. Dann fragte es: „Wo bringt ihr mich hin?”
„Keine Sorge, Kleines. Hier wird dir niemand etwas antun.”
„Es wird dich aber auch niemand hören!”
„Es wird mich jemand finden”, sagte sie. Allzu viel Angst zu haben schien sie immer noch nicht. Das war beunruhigend.
Sie stiegen weiter nach oben, passierten das Lagerfeuer, das ihnen am Vortag so viel Pech gebracht hatte, und fanden tatsächlich ein Stück weiter oberhalb die Überreste eines Gebüschs und dahinter, wie Úldaise gesagt hatte, einen Einstieg zu einer Höhle, ein Spalt im Fels, so niedrig, dass ein Erwachsener auf allen vieren hätte hineinklettern können. Der eine tat es, zog sich aber schnell wieder zurück.
„Geht ganz schön steil runter da.”
„Und?”
„Na, wir können sie doch nicht da herunterwerfen.”
„Oh. Haste Angst, das Balg könnte sich den Hals brechen?”
„Hab Angst, die Regenbogenritter brechen uns den Hals, Trottel.”
„Wen nennst du hier Trottel?” Der Angesprochene ballte drohend die Fäuste.
Die beiden waren nahe daran, handgreiflich zu werden, da begann das Kind im Korb, sich heftig zu regen. „Wenn ich ganz brav bin”, versuchte es zu verhandeln, „lasst ihr mich dann wenigstens raus aus dem Korb? Ich laufe euch auch bestimmt nicht weg.”
Die beiden besannen sich. Dann schnallte der, der hosenlos durch die Nacht gerannt war, den Korb auf, packte das Mädchen am Oberarm und zog es heraus, so leicht, als habe er ein Kaninchen im Genick gepackt.
Das Kind strampelte kurz vor Schmerz, erkannte dann, wo es war und erstarrte, wie entsetzt. Mit großen grünen Augen schaute es auf die verbrannten Büsche und Bäume, als habe es nie zuvor etwas Schrecklicheres gesehen. Der Mann stellte es zu Boden, packte es aber fest an den gebundenen Händen.
„So”, wandte er sich dann an seinen Begleiter. „Wir können es schnell machen und sie einfach hier abladen. Oder wir stehen hier herum, bis die Kerle mit ihren fliegenden Gäulen hier auftauchen.”
„Und wenn sie dabei kaputt geht? Oder sich verletzt und da unten verreckt, bevor jemand sie findet?”
„Und wenn genau das das ist, was Úldaise vorhat?”
„Und wenn es, bei den Mächten, ein Unterschied ist, einen verrückten báchorkor in einen Brunnen zu werfen oder ein kleines Kind in einen Abgrund?”
„Und wenn ich mich einfach losbindet und laufen lasst?”, schlug das Kind vor. „Ich verrate auch niemandem, dass ihr mich nicht in das Loch geworfen habt.”
„Was?”
„Ihr müsst mich nicht da in die Höhle werfen. Das hat euch die schlimme alte Frau gesagt. Die mag mich nicht. Aber das ist nicht schlimm, denn ich werde nicht in den Cielástel zurückgehen. Ich will zu meiner Mama und meinem Papa. Die sind weit, weit weg von hier.”
„Unser Herr hat uns gesagt, dass du ins Loch gehörst. Was denkst du, was passiert, wenn der nachschaut und du weg bist?”
„Wenn ihr ohnehin auch weggeht”, sagte sie schlau, „wird er nicht mit euch schimpfen. Und euer Herz bleibt sauber. Mama sagt, man soll nicht gehorchen, wenn jemand einem befiehlt, sein Herz schmutzig zu machen, damit andere Hände sauber bleiben.”
Nun schauten beide verwirrt. Da stand sie, süß und niedlich und mit intensiv blickenden Augen, grün wie frisches Laub, und für einen Moment waren die beiden verwirrt genug, dass es den Anschein hatte, als würden sie auf sie hören wollten.
Für einen viel zu kurzen Moment.
„Du plapperst zu viel,” sagte der Erste dann. „Darauf fallen wir nicht rein.”
„Kindergeschwätz”, knurrte der andere, und seine grobe Hand packte Dýamirée bei ihrem langen blauschwarzen Haar. „Ab in das Loch mit dir!”
Sie kreischte auf, halb empört, halb vor Schmerz. Und im nächsten Moment hatten sie sie gepackt, einer bei der Hand, der andere am Bein, und schoben sie voran, durch die Felsspalte, in das Loch, hin zum Abgrund, in dessen Tiefe das Wasser rauschte und rief.
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