Saháalírs trübe Augen leuchteten. Scharfe Gedanken jagten in seinem alten Kopf hin und her, und wäre es nicht lästerlich gewesen, er hätte die Mächte darum angefleht, ihn nur für den Rest des Tages fünfzig Winter jünger zu machen. Das Abenteuerfieber des sinor war entfacht. Der sinora schien es ähnlich zu gehen. Atemlos lauschten die beiden dem Bericht des Wachmanns, den sie mit der näheren Inspektion des Brunnens beauftragt hatten. Der Mann war einige Gongschläge fort geblieben, Zeit, die sie beide ungeduldig im Palast des konsej verbracht hatten. Zwischenzeitlich hatten sich auch die anderen sinoray in die Halle begeben, teils noch auf eigenen Füßen, teils getragen von ihren Dienern. Aber an eine richtige Ratssitzung oder auch nur informelle Gespräche über die Geschicke von Aurópéa war nicht zu denken. Der greise Recke, der in Gedanken noch eine große Zahl an Waffenknechten befehligte, hatte sich bei Saháalír erkundigt, wie denn der Stand der Gefechte in Pianárdent sei, dann um eine Karte der südlichen yarlmálon gebeten und damit begonnen, fleißig darin herumzukritzeln. Das tat er jeden Tag. Möglicherweise arbeitet er an neuen Grenzverläufen. Die sinora, die auch an diesem Tag vergeblich auf den jungen Gewandschneider gewartet hatte, hatte sich still niedergelassen und starrte lächelnd ins Leere. Auch mit den anderen war nicht viel anzufangen. Jene, die noch bei halbwegs wachem Verstand waren, widmeten sich privaten Dingen. Der Schwerhörige hatte seinen Schreiber dabei und diktierte ihm einen geschäftlichen Brief, so laut, dass Saháalír und die sinora mühelos mithören konnte, dass es um eine Pachtangelegenheit von Ackerfläche östlich von Aurópéa ging.

Saháalír war erneut schmerzlich klar geworden, dass er und seine geschätzte Freundin, zusammen mit dem verdächtigen Úldaise, die Einzigen im konsej waren, die sich noch tauglich um Ratsgeschäfte kümmerten. Aber selbst das war heute egal. Der Wachführer stand bei ihnen und erstatte mit gedämpfter Stimme Bericht.

„Entlang des Wasserlaufs”, berichtete er, „geht es nicht viel weiter. Vielleicht ein-, zweihundert Schritte. Dann versperrt Geröll den Weg, das Wasser rinnt hindurch wie durch eine Gießkanne. In der anderen Richtung jedoch, da gibt es einen Tunnel.”

„Einen Tunnel?”

„Nun ja, einen Gang. Ich kann nicht sagen, ob er von Menschenhand angelegt wurde. Möglich, vielleicht aber auch nicht.”

„Wohin führt der Gang?”

„In südwestliche Richtung. Wir sind eine ganze Weile dort hindurch gegangen, aber es wurde immer niedriger und schmaler. Wir haben den Kleinsten von uns vorgeschickt. Er ist noch eine weite Strecke vorangekommen, aber dann wurde es so eng, dass er umkehren musste.”

„Aber das Wasser staut sich nicht?”

„Nein. Es liegt Geröll herum und das Wasser sucht sich seinen Weg in Richtung Brunnen.”

„Dann kann der báchorkor nicht von dort entkommen sein”, sagte die sinora.

„Vielleicht doch. Möglicherweise hat er sich einen Weg durch diesen engen Tunnel gebahnt. Es ist nicht unmöglich.”

Saháalír und die sinora schauten die Stadtwächter zweifelnd an.

„Ich habe einmal eine Geschichte gehört”, erklärte der verlegen, „da sind mutige Abenteurer durch einen eingestürzten Bergwerksschacht einem gefräßigen Steinwurm entkommen. Sie haben das Geröll einfach über sich hinweg geräumt. Und wir wissen nicht, wie weit der Einsturz ist, vielleicht ist es nur ein kurzes Nadelöhr. Sollen wir dem nachgehen, Herr? Ich müsste nur jemanden finden, der noch kleiner und schlanker ist als unser kleinster Mann.”

„Das ist nicht nötig”, sagte Saháalír. Er entsann sich an den jungen Wachsoldaten, von dem der Stadtwächter wahrscheinlich sprach und der gegen den schmächtigen báchorkor geradezu ein muskulöser Hüne war. „Weißt du, woher das Wasser kommen könnte?”

„Ja, Herr. Ich dachte mir, dass das von Belang ist und habe mir die Aufzeichnungen geben lassen.”

„Aufzeichnungen?”, fragte die sinora überrascht. „Es gibt Aufzeichnungen?”

„Ja. Natürlich. Der maedlor, der die Wasserkartierungen verwaltet, hat eine ganze Weile suchen müssen, aber er hat in seinem Archiv etwas dazu gefunden.”

„Das ist unfassbar!”, rief Saháalír erfreut aus, so laut, dass die Modefreundin pikiert zu ihm hinschaute, bevor sie wieder in ihre Gedankenwelt abdriftete.

„Das hast du sehr gut mitgedacht und ausgeführt”, lobte die sinora. „Und was sagt die Karte?”

„Hier. Ich habe es mir ausgeliehen. Ich habe gesagt, es könne um ein Bewässerungsprojekt gehen, das im konsej besprochen werden soll. Ich hoffe, das war nicht zu vorwitzig?”

„Zeig her”, forderte Saháalír und nahm gespannt eine uralte Karte entgegen, die der Wachhauptmann ihm stolz anreichte. Sie war auf Pergament gezeichnet, das vermutlich seit Generationen nicht mehr betrachtet worden war. An den Knickstellen war das Material etwas abgewetzt.

„Wenn man die Fließrichtung des Wassers weiterdenkt und davon ausgeht, dass es nicht wesentlich die Richtung wechselt,” erklärte der Hauptmann eifrig, „dann kommt es von hier ungefähr aus Richtung der Hügel mit den alten Gärten. Und auch da gab es tatsächlich einen größeren Brunnen, der vor langer, langer Zeit einmal Wasser geführt hat. Hier.”

„Ist das sicher?”

„Ja, ist es. Es gab einen Beleg dafür, dass in dem Brunnen dort ein Abflussgitter angebracht worden ist.”

„Wann? Und warum?”

„Etwa fünfzig Sommer vor den Chaoskriegen. Und warum … nun, offenbar ist dort durch eine natürliche Öffnung öfter Laub und Wasser eingetragen worden. Weil immer wieder vorkam, dass der Unrat den Abfluss in Richtung Stadt verstopfte, kam ein Gitter dorthin, sodass der Landbesitzer regelmäßig zur Jahreszeit das Zeug ausräumen konnte.”

Saháalír nahm seinen Lesestein zur Hilfe. Die Lage des Gartens, in dem sich der zweite Brunnen befunden hatte, machte ihn stutzig.

„Weiß man, wem dieser Garten heute gehört?”, fragte er nachdenklich.

„Ich dachte mir, dass Euch das interessiert, Herr”, sagt der Hauptmann stolz. „Das habe ich natürlich auch herausgefunden. Ich meine, dass muss der konsej ja wissen. Wegen des neuen Bewässerungsplans.”

„Wie bitte? Ach, ja, natürlich.” Saháalír lächelte und war begeistert. Der Wächter erinnerte ihn an einen Gehilfen, den er vor drei Dutzend Sommern gehabt hatte und der mit klarem Verstand und Intelligenz ein hochgeschätzter maedlor gewesen war. „Und, was hast du herausgefunden?”

„Ihr werdet staunen, Herr. Der derzeitige Besitzer des Grundstücks ist …”, er machte eine kunstvolle Pause und sagte dann leise, damit niemand mithörte: „Úldaise Tiáramalé.”

„Nein!”, rief die sinora überrascht aus.

„Das erklärt, warum man den báchorkor genau dort aufgegriffen hat!” Saháalír nickte nachdenklich, aber wenig überrascht über die Neuigkeit. „Der junge Mann muss sich tatsächlich durch den Einsturz weitergearbeitet haben und dort hervorgekommen sein.”

„Es wird noch spannender”, sagte der Wachmann. „Aber das scheint mir nur eine Kuriosität zu sein, ohne weitere Bedeutung.”

„Sprich.”

„Ihr ahnt nicht, wer der Besitzer des Gartens war, zu der Zeit, als diese Karte gezeichnet wurde.”

„So rede schon”, bat die sinora gespannt.

„Habt Ihr von dem berühmten Chronisten und forscor Úldaise Benévolír gehört, der die große Geschichte der Chaoskriege geschrieben hat?”

„Natürlich”, sagte die sinora. „Quälen die mestary die Kinder heute immer noch mit dem langweiligen Zeug?”

„Meine Töchter beklagen sich bitter darüber”, erklärte der Hauptmann leutselig.

„Das ist fürwahr ein lustiger Zufall”, sagte Saháalír nachdenklich, „dass ein Namensvetter des sinor viele Generationen zuvor den selben Garten besaß.”

„Habt Ihr weitere Aufgaben für mich, Herr?”, fragte der Hauptmann begierig. Ihm war anzusehen, dass ihm der ungewöhnliche Auftrag sehr behagt hatte.

„Heute nicht mehr.” Saháalír winkte seine Träger an, die am gegenüberliegenden Eingang der Ratshalle auf Abruf standen. „Du persönlich und jeder deiner Untergebenen hat sich eine gute Belohnung verdient. Sorge nur noch eine Weile dafür, dass niemand vor der Zeit von seiner heutigen Mission redet. Sagen wir … bis Sonnenaufgang. Ich werde mich morgen persönlich bei euch erkenntlich zeigen.”

„Ich verstehe, Herr.” Der Stadtwächter war sichtlich mit sich zufrieden.

„Und nun sei so gut und besorge mir und der sinora eine Sänfte für zwei Personen.”

Der Mann verneigte sich und machte sich dienstfertig auf den Weg. Saháalír ließ sich von seinen Dienern in seinen Tragestuhl heben.

„Wohin gehen wir, Saháalír?”, fragte sie überrascht. „Wir können doch nicht so einfach den konsej verlassen?”

Er schüttelte den Kopf und deutete mit dem Kinn in Richtung der anderen, die entweder vor sich hin dämmerten und dösten oder mit gänzlich anderen Dingen beschäftigt waren. „Denkst Ihr, jemand wird uns hier vermissen, Teuerste? Wir machen eine kleine Visite auf dem Land.”

„Úldaises Garten?”

Er nickte. „ich denke, es kann nicht schaden, wenn auch wir uns die Sache einmal näher anschauen.

***

Osse war erschrocken, als der Ruck durch den Turm gegangen war. Es hatten sich dabei große Brocken aus dem Dach gelöst und waren auf ihn niedergeprasselt. Der Junge war dicht an die Tür zurückgewichen und versuchte, zu begreifen, was da gerade geschehen war. Hatte die Erde gezuckt? Wie konnte das sein? Was hatte eine solche Gewalt, den Boden zum erzittern zu bringen?

Es war weiter nichts geschehen, nicht hier oben, aber von unten drangen Rufe, aufgeregtes Stimmengewirr. Bei den Mächten, die anderen Kinder, die Erwachsenen! Althopian, ebenso verstört und geängstigt über das Beben des Turmes, hatte seinen Streithammer fallen gelassen, Osse beiseite geschoben und durch die Luke geklettert, um zu sehen, was geschehen war. Dem nach zu urteilen, was Osse sich aus den Stimmen von unten zusammenreimen konnte, hatte der Ruck, der durch das Gebäude gegangen war, wohl einen Teil der Treppe mit sich gerissen.

Bei den Mächten, wie sehr er, Osse Emberbey, Treppen schon immer misstraut und sie gefürchtet hatte.

Der Junge horchte, hörte Althopian reden. Offenbar redete er der teirandanja zu. Bei welcher Gelegenheit mochte das Mädchen zu der Gruppe gestoßen sein?

Osse seufzte zitternd und warf einen Blick auf die schreckliche verschlossene Tür, hinter der etwas lauerte, das die goldene Haarnadel an sich gerissen hatte. Was immer das gewesen sein mochte, es konnte schwerlich Magie des Schattensängers sein.

Ob es Merrit Althopian, diesen anderen Jungen, von der er fast zu hoffen gewagt hatte, einen fremden Bruder gefunden zu haben, verschlungen hatte? Einen Bruder von fremdem Blut und doch so nahe in der Seele?

Osse legte die Hand auf die Tür und bückte sich dann nach dem Pfannkuchenteller. Das Gebäck war zwischenzeitlich ungenießbar, kalt, nassgeregnet und eingestäubt von dem Sand, der den Boden bedeckte. Osse glaubte, die Körnchen bewegten sich knapp über dem Boden, wie träge Rauchschlieren. Aber bestimmt spielten ihm nur seine Augen einen Streich. Der Junge hob den Schmuckkamm auf, den Tíjnjes Mutter bei besonderen Gelegenheiten wohl im Haar trug. Seine eigene Mutter hatte keine so kostbaren Kämme besessen, nur solche aus Holz und Horn.

„Osse?”, hörte er eine Stimme hinter der Tür, leise, fast unvernehmbar. Zitternd und müde.

Althopian redete auf der Treppe. Die teirandanja schien in Angst. Weiter unten, andere Erwachsenenstimmen. Osses Hand schloss sich fester um den Kamm. Zögerlich legte er das Ohr an die Tür.

„Osse”, wisperte die Stimme des anderen Jungen. „Osse! Hilf mir! Hilf mir hier heraus!”

„Dein Vater wird dich befreien”, sagte Osse, der nicht wusste, ob irgendwelchen Stimmen noch zu trauen war. „Er macht gleich weiter mit dem Dach.”

„Bitte”, flehte die Jungenstimme. „Du musst ihn aufhalten. Er darf es nicht versuchen. Es wird ihn umbringen!”

Osse stutzte. Würde eine Trugstimme so reden?

„Was redest du? Wer sollte ihn umbringen wollen?”

„Wenn er auf das Dach geht”, sagte die Stimme flehentlich, „dann wird es ihn hinabstoßen. So, wie es den Stein geworfen hat, der meine Mama erschlagen hat.”

„Und wie soll ich dir helfen? Wie stellst du dir das vor?”

Die Jungenstimme hinter der Tür schwieg. Osse wich zurück. Hatte er es sich doch gedacht, dass das ein Trug war. Dass …

„Es ist so finster”, sagte der Junge hinter der Tür. „Es ist finster, als sei das Licht verschwunden.”

„Es wird bald wieder heller. Dein Vater schlägt das Dach ein. Dann hast du Tageslicht.”

„Wo ist mein Vater?”

Osse stutzte. Wenn der Junge das wirklich nicht wusste, war er es vielleicht doch selber?

„Er ist ganz in der Nähe. Er lässt dich nicht allein.”

„Ich habe Angst, Osse!”

„Du bist bald in Sicherheit! Das Dach ist bestimmt nicht verzaubert. Dein Vater schlägt die Dachpfannen ein und zieht dich heraus. Wir …”

„Was war das für ein Beben, Osse? Stürzt der Turm ein? Stürzt alles über uns zusammen?”

„Gar nichts stürzt”, behauptete Osse, bestrickt von der so vertrauten, so echt klingenden Stimme des Freundes. „Nicht der Turm, und nicht dein Vater.”

„Bitte”, wimmerte der Junge im Turmzimmer. „Bitte, lass nicht zu, dass mein Vater sich totstürzt! Ich habe doch nur noch ihn! Ich habe ihn so lieb! Ich habe solche Angst! Es ist so finster hier … so dunkel. So kalt …”

Erneut ein jämmerliches Wimmern. Osse bemerkte, dass er die Hand so fest um den Kamm geschlossen hatte, dass die Zinken sich in seine Handflächen bohrten. Die Haarnadel hatte das Ding im Zimmer gestohlen. Er versuchte, seine verkrampften Finger zu lösen und legte den goldenen Kamm zurück zu den verdorbenen Pfannkuchen.

„Wie kann ich wissen, dass du es bist?”, fragte er. „Gib dich mir zu erkennen, mit etwas, dass nur wir beide wissen können.”

Einen kurzen Moment war es still, abgesehen vom stetigen Regenprasseln und fernem Donnergrollen. So still, dass Osse hörte, wie Althopian sich vorsichtig auf der Treppe bewegte. Vorsichtig, bedacht, so als traue er der Sache nicht so recht.

„Ein Käfer”, sagte der Junge hinter der Tür plötzlich. „Ein Käfer und eine kleine Häuschenschnecke. Weißt du noch? Gestern, in der Laube? Unter den Rosen?”

Osse erstarrte bestürzt. Ja, er erinnerte sich. Der blaue glänzende Panzerkäfer hatte Merrit gezwickt, die Schnecke so beharrlich die Bank erklommen.

„Bitte”, sagte der Junge im Zimmer. „Bitte. Lass es nicht zu!”

Osse legte beide Hände auf die Tür.

„Mächte”, wisperte er. „Mächte, was soll ich tun? Was kann ich tun?”

Osse! Hilf ihm, hörte er eine ferne Stimme, nicht von jenseits der Tür, sondern direkt in sich selbst. In seinem Herzen.

Der Junge erstarrte. Diese Stimme … ihre Stimme.

„Mama?”, brachte er gerade noch tonlos über die Lippen.

Osse! Tu es jetzt! Tu es, solange du die Chance hast!

Der Streithammer war schwer, zu schwer für die Hände, die sonst allenfalls eine Schreibfeder hielten. Aber die Trittleiter, die yarl Grootplen herbeigeschleppt hatte, die stand stabil, besser als der Turm aus Stühlen, den Althopian zuvor errichtet hatte. Durch das für einen Erwachsenen noch viel zu kleine Loch peitschen Regenböen hinein.

Osse nahm seine Brille ab und steckte sie in die Tasche. Um ihn wäre es nicht schade. Der fremde Junge aus Rodekliv würde den Vater erfreuen. Und Merrits Vater konnte sich ungestört um die teirandanja kümmern. Um ihn, den Maulwurfblinden, das Eulengesicht, war es nicht schade. So sollte es sein.

***

Merrit hörte jedes Wort, das das Wesen in der diffusen, lichtlosen Finsternis sagte. Er hatte versucht, dagegen anzuschreien, es zu übertönen, den Freund zu warnen. Aber seine Stimme, so laut und verzweifelt sie war, sie war nicht aus dem Zimmer heraus gedrungen.

Der Junge hockte auf dem Tisch und fegte Sand davon herunter. Die Tischplatte hatte begonnen, sich zu bewegen, sie dümpelte sacht wie ein Schiff, wie ein am Flussufer vertäutes Boot. Merrit grauste sich. Wenn der Untergrund sich bewegte, dann war nicht nur die obere Begrenzung des Raumes, die verputze Zimmerdecke mit dem wunderbaren Bildnis der roten Dame verschwunden, sondern auch der Fußboden. Nun saß er auf diesem sonderbaren Tisch, der sich im Gegensatz zu Decke und Grund noch gegen den Sand behauptete, als sei er ein rettendes Floß, und hatte keine Idee mehr, was er dagegen tun konnte.

„Lass sie in Ruhe”, wisperte er in das Sandrieseln hinein. „Lass meinen Vater in Ruhe, und meinen Freund!”

Warum sollte ich, höhnte die Stimme, die den arglosen Osse gerade so in die Irre geführt hatte. Ich habe sie alle, alle zu mir gerufen. Nicht mehr lange, und sie werden mein sein. Es gibt kein Entrinnen mehr.

„Osse wird meinen Vater nicht aufhalten können. Was soll er denn machen? Er ist ein Kind, wie ich!”

Das wird sich zeigen, kleiner Ritter. Deine kleinen Freunde und Widersacher haben sich mit lustigen Ideen gegen mich verschworen. Ameisen, die ein Brettspiel erklommen haben. Mal schauen, was sie anstellen werden. Es verstummte für einen Moment und fügte hinzu: Wie dumm wäre es, darauf zu verzichten. Du hast sie als Köder in die Falle gelockt, kleiner Ritter, und solange sie hier sind, kann ich sie beobachten, ohne das sie mir aus der Zeit entwischen. Wie kleine Ameisen unter einem Lesestein, wie ihn alte Leute benutzen. Wie interessant!

„Lass sie in Ruhe”, flehte Merrit matt und wohl wissend, dass dieses Wesen niemals auf ihn hören würde.

Willst du mir das Spiel verderben, kleiner Menschenritter? Wie langweilig!

„Worauf wartest du denn dann noch?”, erzürnte der Junge sich. Die Wut wallte wieder in ihm hoch, heißer und ätzender, als er es ertrug. Ohne die Worte dafür zu haben, ahnte er, dass gerade das diesem schrecklichen Wesen im Nichts Vergnügen bereitete. Merrit hatte als kleiner Junge einmal miterlebt, wie ein paar größere Knaben einen kleinen Welpen geärgert hatten, indem sie ihn von allen Seiten mit Stöckchen gepiekt hatten. Das Hündchen hatte geknurrt, gekläfft und geschnappt, aber die bösen Kinder damit nur noch mehr angespornt. Damals hatte er sich ähnlich hilflos gefühlt, denn er selbst war noch zu klein, um sich für das Tier zu erheben. Zum Glück war der Vater in der Nähe gewesen, um die bösen Kinder zu schelten und ihnen das Hündchen wegzunehmen. Waýreth Althopian duldete auf seinem Grund keine Grausamkeit gegen Tiere. Und schon gar nicht gegen Menschen.

Merrit ächzte hilflos auf. Er fühlte sich in seiner ausweglosen Lage wie das wehrlose kleine Tier und der ohnmächtige kleine Junge von damals zugleich. Was würde er dafür geben, käme einer, ihn zu verteidigen, und der Vater, der starke, furchtlose, gerechte, um ihn zu beschützen!

Er tastete nach dem rostigen Streitflegel, seinem einzigen Besitz, der ihn an die Zeit erinnerte, als er noch im Weltenspiel gewesen und voller Leichtsinn den Worten der anderen Jungen gefolgt war. Er klammerte sich daran wie an einen Anker. Das Holz, das rostige Metall, Dinge, die noch echt und wirklich waren in dem Nichts, das sich immer weiter ausbreitete. Dann spürte er einen stechenden Schmerz in seinem Schenkel, ganz unvermittelt und unerklärlich.

Das Wesen lachte. Hier, höhnte es. Nimm das! Du willst doch Spielzeug, nicht wahr? Kleines Wiegenkind, soll ich dir auch noch eine Rassel besorgen?

Merrit biss die Zähne zusammen und tastete nach dem Schmerz. Etwas Hartes geriet ihm unter die Finger. Er packte zu und riss es heraus, versuchte gar nicht erst, seinen Wehlaut zu unterdrücken. Dann biss er die Zähne zusammen und tastete.

„Mama?”, wisperte er dann leise, denn er erkannte, was es war. Eine Edelsteinnadel, eine von der Art, wie seine schöne, liebe Mutter sie für ihre aufwändigen Frisuren benutzt hatte. Merrit hatte einst auf ihrem Schoß gesessen und mit kleinen Kinderfingern nach dem glitzernden Haarschmuck getastet, bis sie ganz struwwelig war und darüber von Herzen lachte. Nein, das hier konnte unmöglich seiner Mutter gehören. Das hatte das Wesen irgendwo anders hergenommen, um ihn damit zu stechen. Aber dennoch – er sah es vor sich, das lachende Gesicht seiner Mutter mit den schwarzen Haaren und den eisblauen Augen und fühlte sich seltsam getröstet davon. Merrit Althopian schob den Schmerz in seinem Bein beiseite und stach sich die Nadel vorsichtig durch den Stoff der Tunika über seinem Herzen.

Und im selben Moment schallte ein Geräusch durch die Finsternis, überlaut und dröhnend, und so energisch, dass es dem Jungen Angst und Bange wurde.

Es war das Geräusch von Metall, das Ton zerschlug.