
Sie mussten nicht so tief in die Wüste hinein reiten, wie Galéon angenommen hatte. Die Hügel am Rand von Soldesér waren nicht mehr zu sehen, und auch die goldenen Dächer von Aurópéa waren aus dem Blick entschwunden. Ein Kamm aus Dünen schirmte die Sicht zur Stadt ab. Galéon kannte die Wüste recht gut und hatte versucht, sich die Richtung zu merken, in die sie geritten waren, obwohl außer Frage stand, dass er keinen Rückweg vor sich hatte. Úldaise hatte einen versteckten Platz gefunden, gar nicht so weit weg, und sogar bequem zu erreichen für die Unkundigen, die nach getaner Arbeit wieder in die Stadt zurückehren mussten.
Offenbar hatten die Stadtwächter, die mit der undankbaren Aufgabe betraut waren, in der Zeit seit Úldaises Amtsantritt Routinen entwickelt, um sie möglichst schnell zu erledigen. Die beiden Knechte des sinor waren noch etwas unbeholfener, das Reiten nicht gewohnt, verkatert, müde und nicht gut auf Úldaise zu sprechen, wie Galéon ihrem gelegentlichen Fluchen entnahm. Am Ziel angekommen, gingen sie entsprechend grob vor. Sie zerrten Galéon vom Pferd und hinüber zu den Pfählen, die in einer Senke zwischen den Hügeln in einem Kreis aufgestellt waren. Diesmal legten sie ihm je einen Einhornzügel um Hand- und Fußgelenke und banden ihn zwischen zwei Pfosten fest, so straff, dass der báchorkor am Ende nur noch seinen Kopf bewegen konnte. Den anderen Delinquenten ging es nicht besser. Kurz darauf standen die fünf Männer und die Frau, alle nach wie vor betäubt und ohne jegliche Gegenwehr, in der Runde, den Kopf gesenkt, die Blicke leer und die Glieder ohne Kraft.
„Und jetzt?”, fragte der etwas intelligentere Knecht den maedlor mit dem Klemmbrett, der gar nicht erst abgestiegen war und sich Notizen machte.
„Jetzt? Jetzt reiten wir wieder zurück in die Stadt. Quittiert mir das hier bitte.”
„Was ist das?”
„Die Bestätigung, dass ihr mit eigenen Augen gesehen habt, dass dem Spezialgefangenen von sinor Úldaise Gerechtigkeit widerfahren ist. Ich brauche eine Unterschrift.”
„Ihr lasst die Leute einfach stehen? Kommt nicht noch ein fýntar und erledigt den Rest?”
„Nein”, sagte der maedlor eingeschnappt. „Den Rest erledigt die Wüste.”
Galéon ließ sich in den Fesseln hängen wie bewusstlos. Aber seine Aufmerksamkeit war ungetrübt. Er fragte sich, ob einer der beiden in der Lage war, seinen eigenen Namen zu schreiben. Zu seiner Überraschung schien das der Fall zu sein, denn der maedlor bedankte sich knapp und nahm seine Papiere wieder entgegen.
„Und was genau macht die Wüste?”, fragte der andere Knecht.
„Keine Ahnung”, sagte einer der Wächter. „Ist nicht unsere Sache. Vermutlich krepieren sie hier von selbst, sobald es später am Tag richtig heiß wird.”
„Ja”, stimmte ein anderer zu. „Hier gibt’s keinen Schatten und was zu trinken bringt ihnen auch niemand. Ist fast wie ein Feuer, nur bleibt nicht so viel Dreck und Asche zurück. Beim nächsten Mal ist hier alles erledigt.”
Einige Stadtwächter lachten. Galéon schauderte. Er wusste es bereits besser.
„Aber”, wandte Úldaises zweiter Knecht ein, „wenn die hier austrocken wie Dörrobst … was passiert denn dann mit all dem Aas?”
„Fragt doch euren Herrn, wenn Euch das interessiert.”
„Interessiert euch das nicht?”
„Es hat uns nicht zu interessieren, solange wir unseren Lohn bekommen.”
„Es ist ein guter Lohn und eine saubere Sache. Da gibt es nichts zu hinterfragen.”
Bemerkenswert, dachte Galéon. Sie sind bedacht, keinen Schmutz ans Herz zu bekommen.
„Saubere Sache?”, wunderte sich auch Úldaises Knecht,
„Na klar. keiner von uns macht sich die Finger schmutzig. Wir liefern den Abschaum ab und Pataghíu kümmert sich darum. Die Wüste macht den Rest. “
„Mit Haut und Haar und allen Knochen? Das würde doch ein Schwarm Geier nicht so schnell schaffen!”
„Hört mal”, sagte ein anderer Mann. Galéon meinte, die Stimme desjenigen zu erkennen, der ihm das Betäubungsmittel gegeben hatte. „Vielleicht sind irgendwo östlich von hier welche gerade auf dem Weg hierhin, um die hier abzuholen. Vielleicht für die Minen, zwei Tagesritte von hier. Vielleicht beschafft der konsej einfach auf die Weise Arbeiter für die gefährlichen Sachen, sodass es ein Geheimnis bleibt.”
„Das Weibsbild da etwa auch?”
„Ach, für die gibt es da sicher auch was Passendes zu tun.”
Wieder Gelächter, diesmal anzüglich gefärbt. Galéon verspürte einen Anflug von Mitgefühl für den Stadtwächter, der sich vielleicht einreden wollte, keine Menschenleben auf dem Gewissen zu haben, Recht und Gesetz hin oder her.
„Und nun verabschiedet Euch von Úldaises Liebling, und steigt auf. Wir sollten hier weg sein, bevor die große Hitze kommt. Zurück bis zur Stadt sind wir auch eine Weile unterwegs!”
„Ja. Sobald die Sonne senkrecht über dem Montazíel steht, ist das hier richtig ungemütlich.” Die Stadtwächter sammelten die nun ledigen Handpferde ein und stiegen auf. Úldaises Gehilfen führten ihre Reittiere an Galéon heran. Die Gelegenheit schien wohl äußerst einladend zu sein.
„Das war’s, báchorkor“, sagte der eine und boxte Galéon mit Herzlichkeit in den Magen. „Werd’ die Plackerei deinetwegen wohl ‘ne Weile nicht vergessen.”
Der andere schloss sich mit einem deutlich niedriger zielenden Abschiedstritt an. „Denk an uns, während du verdorrst!”
Galéon konnte ein schmerzhaftes Keuchen nicht unterdrücken. Die Knechte feixten einander an und kletterten in die Sättel. Der maedlor gab das Zeichen zum Aufbruch, und der Trupp setzte sich in Bewegung.
Galéon hob den Kopf. „Und ihr sagt Úldaise, sein Spiel ist durchschaut”, rief er seinen Widersachern nach. „Und es ist bald beendet.”
Die zwei schraken herum und starrten ihn entsetzt an. Galéon lächelte finster. Seine Zunge war wieder unversehrt. Oh, wie gut fühlt sich das an.
Natürlich hatten die anderen es auch gehört. Sie wendeten ihre Pferde, und Galéon genoss den Schrecken in ihren Augen.
„Weg hier”, ordnete der maedlor mit trockener Stimme an. „Schnell. Bevor die anderen auch aufwachen.”
„Aber wenn er doch wieder reden kann, dann …”
„Weg hier, habe ich gesagt!”; schrie der maedlor den Knecht an, mit einer Barschheit, die nicht zu seinem bürokratischen Wesen passen wollte. „Ihr wollt nicht dabei sein, wenn sie aufwachen!”
Er wartete keine Antwort ab, gab dem Pferd die Sporen und galoppierte an. Die anderen beeilten sich, seinem Beispiel zu folgen. Die Reittiere der Knechte schlossen sich an, ohne ein Kommando abzuwarten.
Als der Staub sich wieder legte, konnte Galéon nicht mehr an sich halten. Er begann, zu lachen. Zuerst belustigt, und mit jedem Lidschlag mehr und mehr in Verzweiflung, bevor er in furchtsamer Erwartung verstummte. Nun gab es kein Zurück mehr. Die Hitze? Die Sonne? Die Geier?
Die Stadtwächter hatten ja keine Ahnung!
***
Manjév hörte den Lärm schon, als sie den Turm betrat. Weit oben, unter dem Dach, hämmerte jemand auf Metall ein, hielt ab und zu inne und fluchte unverständlich vor sich hin. Wenn die Mutter sich hier aufhielt, war sie nicht allein. Manjév konnte sich denken, wer da oben in Verzweiflung die Tür bearbeitete. Sie hatte schließlich bemerkt, welcher der yarlay nicht in der Halle gewesen war. Die teirandanja seufzte, nahm all ihren Mut zusammen und begann den Aufstieg. Es ließ sich nicht mehr aufschieben. Jederzeit konnten Unbeteiligte den Turm betreten, um irgendetwas aus dem Keller zu holen, denn hier lagerten schließlich auch die Vorräte. Spätestens dann würde das Getöse bemerkt, und kurz darauf würde man in ganz Wijdlant wissen, was durch ihre Anordnung mit Merrit Althopian geschehen war.
„Mama?”, fragte sie, als sich die lange Treppe fast bewältigt hatte. Die teiranda stand auf der Treppe zur Falltür und hatte sie bei dem Lärm nicht kommen hören. Zu konzentriert hatte sie zu yarl Althopian hinauf geschaut, dem sie nicht im Weg sein wollte.
Kíaná von Wijdlant wandte sich um und stieg ein paar Stufen hinab, auf das Mädchen zu. „Manjév! Kind! Warum hast du mir das alles nicht gesagt, heute Nacht?”
Manjév senkte den Blick. „Ich hatte gedacht, wir bekommen es selbst in Ordnung.”
Die teiranda nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. „Manjév!”, flüsterte sie. „vertraust du mir denn nicht?”
„Bekommt ihr ihn denn befreit?”, fragte das Kind leise.
Die teiranda schüttelte den Kopf. Das Hämmern oben an der Falltür verstummte. Wahrscheinlich hatte der Ritter bemerkt, dass jemand hinzugekommen war.
Manjév befreite sich sanft aus dem Griff ihrer Mutter, drückte sich an ihr vorbei und kletterte hinauf.
Waýreth Althopian schaute sie stumm an. Der Mann war schweißgebadet und seine Augen verdächtig gerötet. Er hielt einen Meißel und einen Hammer in Händen, keine Axt wie die beiden Rittersöhne zuvor. Offenbar hatte er versucht, damit zwischen Türblatt und Rahmen vorzudringen und die Scharniere aus dem Mauerwerk zu schlagen. Ohne Erfolg, natürlich.
Als Manjév schließlich auf dem Absatz stand, knirschte es unter ihren Schuhen. Wahrscheinlich Mörtelstaub, der hinab gefallen war.
„Majestät”, sagte der Ritter leise und senkte den Blick vor ihr. „Mein Sohn ist da drin und wird wahnsinnig.”
„Wahnsinnig?”
„Er beginnt, von Dingen zu phantasieren. Er scheint mit jemandem da drinnen zu reden, ich höre ihn wispern.”
„Hat er gesagt, warum er dort drinnen ist”, fragte Manjév, so laut, dass sie hoffte, er würde es hören, falls er an der Tür lauschte.
Althopian schüttelte den Kopf.
„Wie habt Ihr ihn hier gefunden?”, fragte die teirandanja weiter.
„Sein Freund hat mich alarmiert.”
Also war Osse Emberbey doch ein Verräter! Manjév überkam Ärger, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Sie schaute sich um. Die Mutter war halb durch die Bodentür gestiegen.
„Warum, Majestät, habt ihr nicht sofort um Hilfe gebeten?”, fragte nun auch der Ritter.
„Niemand bekommt diese Tür auf. Wir … haben es auch versucht.”
„Wir?”
Manjév nickte.
„Wer?”
„Jándris und Láas. Und Osse war auch dabei. Und … Tíjnje hat auch ein bisschen geholfen, glaube ich.”
„Wann?”
„Gestern Nacht.”
„Und keiner von euch hielt es für angemessen, einem von uns Bescheid zu geben, obwohl ihr wusstet, welche Sorgen wir uns gemacht haben?”
Manjév senkte beschämt den Blick.
Althopian nickte verstehend. „Also ist er in dieses Zimmer geraten, nachdem Meister Yalomiro bereits Wijdlant verlassen hatte?”
„Ich habe Euch bereits gesagt, dass es ein unglücklicher Zufall gewesen sein muss”, mahnte die teiranda.
„Was uns in keiner Weise weiterhilft”, sagte der yarl mit einer Verärgerung, die sich nicht mit der gebotenen Demut vereinbaren ließ. „Tür und Wand sind unüberwindbar.”
Manjév biss sich auf die Lippen. Nein, sie durfte jetzt nicht einfach weinen und hoffen, dass damit das Problem aus der Welt gewaschen würde.
„Herrin”, sagte Althopian nach einer Weile des Schweigens, „habt Ihr es vorhin ernst gemeint, als Ihr sagtet, ich könne euretwegen das Dach vom Turm schießen mit einem Katapult?”
Manjév wandte sich erschrocken ihrer Mutter zu und sah sie ernst nicken.
„Aber es sollte Euch klar sein, dass es sich dabei ebenfalls um einen ungangbaren Weg handeln dürfte. Kein Katapult kann in dieser Höhe einen Treffer erzielen, selbst wenn Ihr eines hättet.”
„Ein Katapult nicht. Ein Streithammer schon eher. Es sind tönerne Dachschindeln, mit denen es gedeckt ist, nicht wahr?”
„Ja.”
„Und die Zimmerdecke? Ich erinnere mich nicht an ein Gebälk.”
„Ein Verputz aus Flechtwerk und Lehm, meine ich.”
„Gut. Ich denke, Ton und Lehm sind weniger hartnäckig als verzaubertes Holz.”
„Herr Waýreth”, warf sie ein, „Ihr seid kein Vogel. Kein Specht, der auf einen Baum einhackt.”
Althopian warf Hammer und Meißel zu Boden. In seinen tränenroten Augen stand ein wild entschlossenes Leuchten.
„Ich brauche kein Katapult”, sagte er grimmig. „Ich brauche eine Leiter.”
***
Der Stab von Ovidáol Etaímalar lag quer über dem Tisch in Yalomiros Arbeitszimmer. Was zuvor darauf gelegen hatte, Papiere, Gerätschaften und Behälter, hatte Yalomiro ungeduldig beiseite gewischt. Der Weltenschlüssel und die Einhornfeder ruhten nebeneinander vor ihm auf der schwarzen Tischplatte. Der Schlüssel schimmerte. Die Einhornfeder wiederum verlor mehr und mehr von ihrem überirdischen Perlenschimmer. Das Weiß wurde immer matter und gebrochener, je mehr Magie sich in dem Schlüssel staute.
Yalomiro zauberte. Seine Hände lagen neben Feder und Schlüssel auf dem Tisch auf, seine Finger deuteten ein Dach darüber an. Was genau er dabei wirkte, konnte ich weder erkennen noch herleiten. Aber sein silbriger Blick war so konzentriert, als arbeite er mit winzigen Werkzeugen an einem komplizierten Mechanismus mit kleinsten Zahnrädern und Federn. Er sang, allerdings sehr, sehr leise.
Ich schaute beeindruckt zu. Dýamirées Schmusetier saß vor mir auf dem Tisch. Als ich noch nicht Teil dieser Welt war und meine Vorstellungen von Zauberei sich im Wesentlichen auf Fantasy-Kinofilme und Kinderbücher gründeten, hatte ich immer gedacht, es müssten große Gesten, bedeutungsschwangere Zaubersprüche und spektakuläre Licht- und Klangeffekte dabei sein. Ich hatte Yalomiro das einmal erzählt, als wir zusammen am See gesessen und die Nacht genossen hatten. Ich hatte ihm sogar ein paar Zaubersprüche aufgesagt, an die ich mich aus Kindergeschichten erinnerte. Es kam sehr selten vor, dass Yalomiro Tränen lachte. Dies war eine solche Gelegenheit gewesen.
Ich schaute schweigend zu, wie die Feder mehr und mehr verfiel und sich aufzulösen schien, zu schmelzen wie eine Schneeflocke, während der Schlüssel an Potenz gewann. Schließlich lehnte Yalomiro sich zurück und faltete die Hände. Sein Blick blieb weiterhin auf den Schlüssel gerichtet.
„Es wird noch eine Weile dauern”, sagte er dann. „Wenn es fertig ist, bringt das Werkzeug uns zur nächstliegenden Tür dort, wo das Einhorn sich gerade aufhält, das diese Federn gelassen hat. Mit etwas Glück ist das ein Stall im Cielástel.”
„Dann funktioniert dieser Zauber anders als das Hufeisen für Moréavals Pferd?”
Er erhob sich und schob den Stuhl beiseite, nahm sich den Stab und das Stofftier. „Ja. Das Hufeisen war viel einfacher. Damit habe ich einfach nur eine Fähigkeit des Einhorns zweckentfremdet, damit das Pferd sie nutzen kann.” Er lächelte freundlos. „Armer Moréaval. Ein besonders angenehmer Ritt wird das weder für ihn noch für sein Ross.”
„Aber geschehen kann ihm, nichts?”
„Er ist unsterblich, Salghiára. Vielleicht ist mir auch der eine oder andere Zauber in das Elixier geraten, der ihm hilft, hauptsächlich insofern, dass er nicht groß über das nachdenken wird, was er gerade erlebt. Aber das ist nun nebensächlich. Wir müssen uns bereit machen. Ich möchte, dass du noch einmal den Schutzzauber webst. Ganz allein. Während du nicht hier bist, darf niemand den Etaímalon betreten. Ich kümmere mich um den Wald.”
„Aber … du hast doch gesehen, was beim letzten Mal geschehen ist! Es … während ich nicht hier bin?”
„Sobald wir Dýamirée befreit haben, nimmst du den Schlüssel und fliehst mit ihr hierher zurück. Unverzüglich.”
„Aber … was ist mit dir?”
„Du wirst keine Rücksicht darauf nehmen, ob ich bei euch bin oder zurückbleibe. Möglicherweise sind … Dinge zu regeln.” Er unterbrach sich und schaute noch einmal auf den Weltenschlüssel, der gerade zum Fernreiseschlüssel wurde. „In dem Moment, in dem sie den Stab sehen, hat Dýamirée keinen Wert mehr für sie. Ich würde mich wundern, wenn sie euch überhaupt verfolgen, solange ich nicht damit weglaufe.”
„Aber was wollen sie mit dem Ding überhaupt? Wenn es doch ein Schattensängerwerkzeug- …”
„Waffe.”
„ … eine Schattensängerwaffe ist, ist sie doch in den Händen von Regenbogenrittern unwirksam.”
„Vielleicht, Salghiára, hat sie einfach der abstruse Gedanke gepackt, dass sie das, was so viel Unheil über sie und ihre Welt gebracht hat, in ihrer eigenen Verwahrung haben wollen, ähnlich wie wir das ay’cha’ree gehütet haben. Vielleicht misstrauen sie aus heiterem Himmel dem Schwur unserer Meister aus jenen Tagen, Ovidáols tödliche Schöpfung zu versiegeln und zu verbergen. Dann allerdings wäre das ein reichlich sonderbarer Zeitpunkt und ein seltsames Vorgehen.”
„Inwiefern?”
„Sie hätten buchstäblich Generationen Zeit dazu gehabt, es mit den camat’ay auszuhandeln. Regenbogenritter und Schattensänger haben sich am Ende nicht in verbitterter Todfeindschaft gegenübergestanden, Salghiára. Die Regenbogenritter sehen auf uns herab und verachten uns, das ist wahr. Das ist eine Tatsache, die man ihnen nicht vorwerfen kann, nach alldem, was … geschehen ist. Aber sie wissen ebenso, dass unseresgleichen die Taten des Verfluchten weder unterstützt noch gutgeheißen hat. Sie wissen, dass meinesgleichen ihn überwunden und das hier”, er pochte mit dem Ende des Stabes auf den Boden, „erobert hatte. Um es zu vereinfachen: Meinesgleichen hat ihnen am Ende beigestanden, um den Schrecken zu beenden. Leider ist es nicht gelungen, bevor sehr viel Blut und Farbe vergossen wurde.”
Ich folgte ihm. Er ging hinüber in die Halle und setzte sich auf den Großmeisterthron, die Stange quer über seinem Schoß, Dýamirées Kuscheltier in den Händen. „Es gab vereinzelt Kontakte zwischen ihnen und uns … später. Sehr reserviert, sehr formell. Aber niemals haben Regenbogenritter oder Schattensänger Unfrieden miteinander gesucht. Wer weiß, warum ihnen das plötzlich nicht mehr ausreicht.”
„War Ovidáol ein Großmeister?”, fragte ich.
„Nein. Als er mit den camat’ay brach und den Boscargén verließ, war er ein einfacher Schüler, in seinem fünfundzwanzigsten Winter.”
„Und ein so junger Mann hatte die Macht, ein solche schreckliche Waffe zu schaffen?”
Yalomiro nickte. „Gerade weil er so jung und unerfahren war, hatten die Meister ihn unterschätzt. Aber wie sich später zeigte, hat er auf seinen Reisen irgendwo das Material und das Wissen erlangt, um sein Meisterstück zu schaffen. Sehr wahrscheinlich hatte er … nun, Hilfe.”
„Das Widerwesen”, sagte ich leise.
„Was sonst?”
„Und dann hat er …”
„Am Ende stand er mit seinen Chaosgeistern vor dem Cielástel, hinter sich eine Schleppe von sinnlos vergossenem Blut und Zerstörung, und brachte das Verderben über Pataghíus Diener. Es kam zum großen Gemetzel. In den Boscargén kehrte am Ende nur einer von zehn Schattensängern zurück.”
„Wie entsetzlich!”
„Die Verluste unter den arcaval’ay waren ähnlich hoch, Salghiára. Und unter den Unkundigen … ich glaube, es hat niemand wirklich nachgezählt.” Er seufzte und fügte hinzu: „Salghiára – in dem großen Schrank im zweiten Zimmer rechts von hier müsste ein Trinkschlauch liegen. Bitte suche zusammen, worauf du nicht verzichten willst. Lass mir einen Moment in Stille mit Noktáma.”
„Muss ich mir Sorgen machen, Yalomiro?”
„Wieso?”
„Meinst du etwa, ich spüre nicht, dass du dich fürchtest?”, fragte ich.
„Tue ich das?”
„Ja.” Ich blieb vor dem Thron stehen und schaute ihm eindringlich in die Augen. Seine maghiscal flackerte, als stünde sie unter Spannung. Das erschreckte mich. Ich empfand Yalomiros Anwesenheit stets als fest und solide, etwas, das mir immer Halt bieten würde, wenn etwas in mir aus dem Gleichgewicht kam. In diesem Augenblick, als er in Noktámas Halle saß und mich fortschicken wollte, da war es … anders. Das, was ich als sein Selbstbewusstsein, sein Selbstvertrauen, seine Stärke deutete, hatte plötzlich mehr von einem Kartenhaus als von einer Burgmauer.
Ob es an dem Stab lag, den er da bei sich hatte? Ich schaute auf das Ding mit dem rätselhaften Stein in der Metallfassung. Wahrscheinlich bildete ich es mir ein, aber von dem Gebilde ging ein unterschwelliges Unbehagen aus. Und dann, mit so großer Verzögerung, dass es mich selbst verwunderte, erreichte eine andere, noch viel brisantere Information meinen Verstand.
„Chaosgeister?”
***
Úldaise war zu spät. Damit war zu rechnen gewesen; dass er den Abtransport des báchorkor in die Wüste nicht mehr miterlebt hatte, hatte sich nicht verhindern lassen. Das brachte es eben mit sich, wenn man eine so vielbeschäftigte Person war.
Úldaise kannte den Weg zu der Senke, die er damals zu dem auserkoren hatte, was er dem konsej erfolgreich als eine Alternative zu den Richtstätten in Aurópéa angepriesen hatte, wo fýntaray ohne großen Unterschied wirkliche Verbrecher und unglückliche Opfer von Verleumdung und Missverständnissen mit Schlinge oder Klinge hinter die Träume gebracht hatten. Manchmal auch mit etwas kreativeren Mitteln. Verschwendung.
Saháalír, damals noch ein jüngerer unter den Greisen und die anderen sinoray waren angetan von dieser neuen Lösung gewesen. Tatsächlich war es vor allem Saháalír gewesen, der den öffentlichen Hinrichtungen sehr kritisch gegenüber gestanden hatte, mit dem Argument, es fördere auf ungute Weise die Sensationsgier und Verrohung der Leute. Nun, Saháalír hatte viel Zeit in Ivaál verbracht und sich von der hohen Sittlichkeit dort anstecken lassen. Úldaise sollte es nur recht sein. Das neue Verfahren hatte sich etabliert, und Saháalír wäre nicht auf den Gedanken gekommen, dagegenzureden, nachdem er sich selbst im konsej dafür eingesetzt hatte.
Úldaise hatte einen Weg durch die Wüste gewählt, der ihn in ausreichend großem Abstand von hinten an die Senke heranbrachte. So vermied er eine direkte Begegnung mit den Stadtwachen und seinen beiden idiotischen Handlangern und konnte trotzdem Zeuge des großen Spektakels werden.
Die sechs Verurteilten hingen, der Sonnenglut ausgesetzt, in ihren Fesseln, betäubt von dem Gebräu, das Úldaise eigens zu diesem Zweck nach altem Rezept aus einem sehr alten Buch herstellen ließ. Das machte den Stadtwächtern die Arbeit noch leichter, denn selbst körperlich überlegene Delinquenten leisteten keinen Widerstand mehr. Ein einfacher, sauberer Auftrag, der nicht allzu sehr an Mitleid und Gewissen rührte. Schließlich brachte man niemanden um, sondern nur an einen anderen Ort, nicht wahr?
Und tatsächlich. Die Übeltäter, der Amtsbetrüger, die liederliche Dirne, die Verbecher, sie waren alle gleich in diesem Moment. Keiner von ihnen bemerkte den sinor, der mit seinem Pferd die Düne hinab ritt.
Nur der báchorkor, der war wach und bei Verstand. Der junge Mann ächzte unter der Sonne und versuchte, den Kopf umzuwenden. Úldaise brachte das Pferd so zum Halt, dass er außerhalb seines Blickfeldes blieb.
„Bereust du es schon?”, fragte der sinor.
„Du wirst es bereuen”, gab der junge Mann zurück.
„Ah. Deine Zunge gehorcht dir also wieder. Sehr schön. Es wäre schade gewesen, wären mir deine Schreie entgangen.”
„Sie werden mich nicht töten können”, sagte Galéon über seine Schulter hinweg.
„Das sollte dich ernsthaft beunruhigen.”
„Und wenn ich dich beunruhigen sollte?”
„Wie meinst du das?”
„Was, wenn die Mächte einen Grund dafür gehabt haben, dass sich unsere Wege ausgerechnet hier und an diesem Ort gekreuzt haben?”
„Zufall. Reiner Zufall.” Úldaise lachte. „Allerdings … ich wüsste schon gern noch, was dich letztlich nach Aurópéa geführt hat, báchorkor, zu dieser Zeit.”
„Ebenfalls der Zufall. Ich hörte vor einiger Zeit von einem anderen báchorkor, der auf dem Weg von Aurópéa nach Pianárdent war, von den kuriosen Methoden, mit denen sich die Stadt ihrer ungeliebten Störenfriede entledigt. Es gab Details an seiner Geschichte, die mir seltsam vorkamen.”
„Seltsam?”
„Sie passten nicht zu einer guten Geschichte. Also kam ich her, um nachzuschauen. Ich hatte ja … Zeit. Viel, viel Zeit.”
„Nun”, antwortete Úldaise milde, „du wirst nahe dabei sein, um, es mit eigenen Augen zu sehen. Ich fürchte nur, du kannst anschließend keine wirklich gute Geschichte mehr daraus machen. Und nun mach dich bereit, báchorkor. Ich werde aus der sicheren Ferne zuschauen. Und danach … nun, ich habe einen Termin im Cielástel. Bedauerlicherweise werden die arcaval’ay nicht mehr lange Gäste empfangen können.”
„Das wird sich zeigen. Vielleicht kommt dir der ehrenwerte Saháalír in die Quere, so die Mächte ihn die Zeichen erkennen lassen.”
Úldaise lächelte. „Und was denkst du, bin ich in der Lage mit einem halbblinden, gelähmten Tattergreis zu tun, der den Helden spielen will?”
„Bist du feige, Úldaise? Hast du da etwas angefangen, was du selbst nicht kontrollieren kannst?”
Der sinor lachte, wendete sein Pferd und trabte davon, überließ den báchorkor seinem unschönen Schicksal.
Kontrollieren? Aber natürlich.
Sehr bald schon.
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