Tíjnje hatte die opayra schnell gefunden. Wir erwartet hielt die ältere Dame sich im Nebenzimmer des Audienzgemachs auf, wo die Puppenburg stand und die Mädchen miteinander zu spielen pflegten. Tíjnje warf einen nachdenklichen Blick auf das herrliche Spielzeug. Wenn Manjév in der Nacht im Ernst gesprochen hatte, dann gehörten ihr nun die Püppchen und das aufwändig gestaltete Holzgebäude. Aber sie konnte sich nicht daran freuen. Mehr noch: Es war ihr egal. Mochte damit spielen, wer wollte. Ohne Manjév machte das ohnehin keinen Spaß.

Andererseits: Sie war nicht zum Spielen gekommen. Sie hatte eine Mission!

Die opayra saß mit einer Stickarbeit am geöffneten Fenster. Der Wind kam aus einer günstigen Richtung und schob den immer stärkeren Nieselregen vom Gebäude weg, sodass sie auf diese Weise mehr von dem trüben Tageslicht nutzen konnte. Als Tíjnje hineinkam, sich zu ihr setzte und den Pfannkuchenteller neben sich abstellte, blickte die opayra verwundert auf.

„Was machst du hier? Herr Andriér sagte, ihr Kinder dürftet heute ganz für euch sein?”

„Die teirandanja und die Jungen haben ein Steinespiel begonnen. Da mag ich nicht zugucken, das ist langweilig.”

„Wenn die Tochter von yarl Emberbey nach dem Winter herkommt, hast du eine Gefährtin in deinem Alter, mit der du Zeit verbringen kannst.”

„Bis dahin habe ich sicher auch das Spiel verstanden und kann mitmachen.”

Die opayra lächelte. „Nach dem Winter wird die teirandanja weniger Zeit haben, sich mit dir abzugeben. Und die yarlandoray werden auch nicht mehr so oft hier sein.”

„Warum nicht?”, fragte Tíjnje.

„Die Herren wollen bald wieder die eine oder andere Reise unternehmen und für die teiranda Turniere bestreiten. Da müssen die jungen Herren mit.”

„Ach ja.” Tíjnje erinnerte sich, dass ihr Vater einmal davon gesprochen hatte. Genaugenommen war Jóndere Moréaval auf seine gutmütige Art belustigt gewesen, dass Láas’ Vater sich mit dem Gedanken trug, es in seinem Alter noch einmal auf dem Turnierplatz zu versuchen. Tatsache war aber, dass die Ritter es so unter sich abgemacht hatten, dass ihre Söhne sie, untereinander vertauscht, als Knappen begleiten sollten. Tíjnje hatte nicht bedacht, dass Láas und Jándris auf diese Weise für längere Zeit fort sein würden.

Nun, vielleicht würde stattdessen Osse seine Schwester hierher begleiten. Der hatte ja nun auf dem Turnierplatz nichts zu schaffen. Wie leicht konnte dabei seine Brille verloren gehen!

„Und warum bist du hier?”, fragte die opayra. „Und wo hast du die Pfannkuchen her? Du weißt doch, Naschwerk ist …”

„Die sind gar nicht für mich”, warf Tíjnje schnell ein. „Ich passe nur darauf auf.”

Das trug ihr einen skeptischen Blick der opayra ein, aber diese fragte nicht weiter. Üblicherweise steckte hinter den seltsamen Ideen der Mädchen immer ein Einfall der teirandanja, gegen den es ohnehin kein Aufbegehren gab.

Tíjnje schaute der opayra eine Weile beim Sticken zu.

„Die teirandanja sagt, du sollst mir ein Märchen erzählen”, erklärte sie dann.

„Seit dem Frühling habe ich der teiranda geraten, eine gebildete báchorkora für euch Kinder zu beschäftigen. Aber man hört ja nicht auf mich.”

„Manjév sagt, ihr Papa wäre wohl beleidigt, wenn jemand anderes als er hier im Haus Geschichten erzählt”, plapperte Tíjnje. „Das hat die teiranda ihr jedenfalls gesagt.”

„Kinder sollen nicht über Erwachsene tratschen!” Die opayra drohte rügend mit ihrer Sticknadel.

„Dann warte ich eben damit, bis ich älter bin. Erzählst du mir eines?”

„Was willst du denn hören? Das von dem goldenen Häschen, das mit der Marmorschnecke um die Wette lief?”

„Nein”, seufzte Tíjnje, die längst die aufregenden Schauergeschichten von Láas und Jándris gewohnt war. „Das ist für Wiegenkinder. Kannst du mir was erzählen, wo Magier vorkommen?”

Nun zuckte die opayra so sehr zusammen, dass sie sich mit der Nadel in den Finger stach. Rasch, um das Tuch nicht zu beschmutzen, hielt die Frau die Hand aus dem Fenster und ließ den dicken Blutstropfen in den Regen fallen.

Stechkäfer, dachte Tíjnje. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte ein solches Biest sie einmal am Ärmchen erwischt. Es hatte geblutet und gejuckt. Die Mutter benutzte das duftende Öl, um sie zu vertreiben. Die arme opayra! Das hatte bestimmt weh getan!

„Magier? Was soll ich denn von Magiern erzählen, Kind?”, fragte die opayra. Ihre Stimme klang anders als zuvor. Vorsichtig. Unbehaglich.

„Ich habe gestern einen gesehen. Er konnte sich in einen Raben verwandeln.”

„Ich habe gehört, dass … einer hergekommen ist. Auf Wunsch der teiranda, heißt es.” Sie zog die Hand zurück und saugte an ihrem Finger. „Unverantwortlich, dieses Gesindel durch die Tür zu bitten!”

„Er ist aber schon wieder weg. Ganz weit weg.”

„Den Mächten sei es gedankt!”

„Und er ist durchs Fenster gekommen.”

„Die Mächte mögen uns behüten!”

Die opayra hielt die Mächte ziemlich beschäftigt, fand Tíjnje.

„Hast du Angst vor Magiern?”, fragte sie gespannt. „Ich hab nämlich keine. Ich habe mich ganz artig mit ihm unterhalten. Wie eine große Dame. Er hat mich mit einem Licht spielen lassen. Das war so fein und hell!”

Die opayra runzelte die Stirn. Dann sagte sie: „Zum Glück gibt es diesseits des Montazíel wohl schon lange keine Magier mehr. Im Süden, in Aurópéa, da sollen noch die Farbenkrieger wohnen. Aber sie haben schon lange nichts mehr mit den Menschen zu tun. Gut so. Das bringt alles nur Unheil.”

„Warum?”, fragte Tíjnje.

„Das verstehst du noch nicht, Kind. Es ist nicht gut, wenn Magier in das Leben von Menschen hineinpfuschen. Die Mächte haben sie fast alle aus dem Weltenspiel genommen. Wo Magier wirken, gibt es nur Elend und Unglück.”

„Das glaube ich nicht. Der Magier, der die teiranda besucht hat, ist ganz lieb gewesen. Und Manjév sagt, er hat sogar einmal einen bösen Mann besiegt.”

„Welchen bösen Mann?”

„Na, den, der im Turm gewohnt hat. Bevor der Boden morsch wurde.”

Die opayra schaute zunehmend verwirrter, misstrauischer drein. Tíjnje bemerkte nun selbst, dass sie es zu weit kommen ließ und war sich nicht mehr ganz sicher, ob die opayra überhaupt davon wissen durfte. Zählte die opayra als Erwachsene, oder galt es nur vor den Rittern zu schweigen?

Das kleine Mädchen stand verlegen auf und setzte sich neben die Puppenburg. Auf dem Dach des Pferdestalls lag ein winziger Kamm bereit, mit dem sich die Wollfädenhaare der Püppchen kämmen ließen. Tíjnje tat das, so gewissenhaft sie nur konnte.

„Ich erinnere mich an den bösen Mann”, sagte die opayra nach einer Weile.

Tíjnje blickte auf. „Tatsächlich?”

Die opayra legte ihr Stickzeug in den Schoß. Einen Augenblick beobachtete sie versonnen das kleine Mädchen, das da mit den Puppen spielte.

„Es ist gut, dass dieser schreckliche Kerl fort ist”, sagte sie. „Ich erinnere mich nur wenig daran. Ich denke, ich habe mich sehr angestrengt, möglichst viel zu vergessen. Aber ich weiß sicher, sobald er diese Burg verlassen hat, ist hier alles … wieder gut geworden.”

„War das, bevor Manjév geboren wurde?”

Die opayra nickte, aber ihr Gesicht war nun nachdenklich,. entrückt. „Ja, das war davor.”

„Was hast du denn hier gemacht, bevor Manjév da war? Da war doch noch niemand da, auf den du aufpassen musstest!”

„Doch. Ich war die Kammerzofe der teiranda.” Sie lächelte. „Genau so, wie du es einmal sein wirst, wenn die teirandanja eine junge Frau ist.”

Tíjnje überlegte kurz, ob sich wohl der Dienst als Kammerzofe und Geheimkurierin unter einen Hut würden bringen lassen. Das würde anstrengend. Aber das war im Augenblick nicht wichtig.

„Was hat der böse Mann hier gemacht?”, fragte sie stattdessen. „Hat er jemanden verzaubert?”

„Ich weiß nicht”, antwortete die opayra unwillig „Nein, ich glaube nicht. Er … er hatte keinen guten Einfluss auf die teiranda. Aber es steht mir nicht zu, darüber zu sprechen. Außerdem bist du noch viel zu jung dafür, Tíjnje. Lass es auf sich beruhen. Und lass dir bloß nie einfallen, in den Turm hinaufzusteigen. Da hat eine Dame nichts zu suchen. Es ist viel zu gefährlich.”

„Wegen dem morschen Boden?”

„Ja. Das auch. Liebes … sollte die teirandanja jemals auf die Idee kommen, den Turm betreten zu wollen, dann musst du es sofort mir, den teiranday oder einem der yarlay sagen. Willst du so brav sein, das zu tun?”

Das Kind lächelte unverbindlich. Nun war es ohnehin zu spät. Schließlich waren Manjév, Láas und Jándris nachts zuvor schon an dem verbotenen Ort gewesen. Osse bestimmt auch.

„Und ich glaube doch, dass derjenige, der gestern hier war, ein guter Magier ist. Sonst hätte die teiranda doch meinen Vater nicht losgeschickt, um ihn zu holen.”

„Was Schwarzmäntel betrifft”, sagte die opayra unwirsch, „scheinen so manche allzu viel Leichtsinn walten zu lassen. Man hört, dass die Familie Althopian … ach nein. Das ist nichts für Kinder.”

„Schwarzmäntel? Ja, einen schwarzen Mantel hat er getragen. Der war ganz schön bestickt und hat geglitzert, und …”

„Unverantwortlich, dass er sich dir gezeigt hat, der Kerl”, zürnte die opayra. „Was da alles hätte geschehen können!”

Tíjnje blinzelte verwirrt über diesen Ausbruch. Die Dame bemerkte es und sagte, etwas versöhnlicher: „Es bringt so viel Unheil, wenn keusche und tugendsame Mädchen den Schwarzmänteln zu nahe kommen!”

„Warum denn?”

„Das verstehst du noch nicht, Liebes. Dafür bist du wirklich noch zu jung. Wahrscheinlich hat das dich behütet!”

Schon wollte Tíjnje aufmucken, sich beklagen, dass alle sie stets damit abwiesen, dass sie noch zu klein sei, um Dinge zu verstehen. Nun, bei den Steinespielregeln mochte das wahr sein, aber wie sollte sie jemals etwas lernen, wenn man ihr nichts zum Denken gab, wie der mestar in den Lernstunden, der sie auch nur mit Wiegenkindaufgaben abspeiste? Sie wollte das aussprechen, aber im selben Moment hatte sie eine viel klügere Eingebung.

„Hast du Angst vor dem Magier?”, fragte sie und setzte das nun sauber frisierte Püppchen auf ein Holzpferdchen.

„Nun, wenn es zur Angewohnheit werden sollte, dass er hier ein und aus geht, dann werde ich mich wohl zu schützen wissen.”

„Man kann sich schützen?” Das kleine Mädchen hob einen Puppenritter auf, dem ein Pappschwert in die Hand geklebt war. Sie tat so, als würde er gegen einen anderen fechten. „Wie mein Papa mit seinem Eisenzeug, falls ihn jemand zum Kampf fordert?”

Die opayra sah ihr zu. Dann sagte sie: „Als meine Urgroßmutter ein junges Mädchen war, da waren noch viel mehr Schwarzmäntel unterwegs. Meine Großmutter hat das erzählt, als ich so alt war wie du, Liebes. Es hieß, ein keusches Mädchen sollte immer etwas bei sich haben, um einen Schwarzmantel abzuwehren, sollte er … frech werden.”

Tíjnje konnte ihr Glück kaum fassen! Da präsentierte ihr die alte opayra die Auskunft, die Manjév und die Jungen benötigten, ohne dass sie danach hatte fragen müssen!

„Einen Dolch oder so etwas?” Manjév hatte sich einmal darüber beschwert, dass die Eltern ihr nicht wenigstens ein schönes Messer schenken wollten, während yarl Grootplen für seinen Sohn bereits ein echtes Langschwert in Auftrag gegeben hatte. Das hatten beide Mädchen sehr ungerecht gefunden.

Die opayra nestelte an ihrem Kragen und zupfte ein Geschmeide hervor, das sie darunter getragen hatte. Tíjnje warf den Puppenritter achtlos beiseite und kam neugierig näher.

Es war kein echtes Schmuckstück. Die opayra verbarg unter ihrer Bluse eine blank polierte goldene Plakette. Sie war deutlich größer als eine Goldmünze, wie Tíjnje gelegentlich eine zu Gesicht bekam, aber das mochte daran liegen, dass jemand sie platt gehämmert hatte. Die Scheibe hatte ein kleines Loch am Rand und war auf ein einfaches Bändchen gefädelt.

„Was macht man damit?”, fragte das Kind ratlos.

„Es ist durch die Hände meiner Urgroßmutter bis zu meiner Mutter und mir gegangen. Meine Mutter sagte, wenn mir jemals ein Schwarzmantel zu nahe käme, sollte ich ihm das Gold auf die Stirn drücken.”

„Wozu?”

Die opayra betrachtete versonnen das Andenken ihrer Mutter. „Ich weiß es nicht, Kleines. Möglicherweise ist das nur ein ganz uralter Aberglaube. Ich trage es, weil es eine Erinnerung ist.” Sie lächelte, und ihr gestrenges Gesicht wurde für einem Moment ganz mild. „Aber ich denke, wenn es sein muss, werde ich zumindest versuchen, es zu benutzen.”

„Und man braucht unbedingt eine Goldscheibe?”, fragte Tíjnje interessiert.

„Man braucht irgendetwas aus Gold. Vor Gold weichen die Schwarzmäntel zurück, wie die Wildwölfe vor einem Lagerfeuer. Das hat meine Urgroßmutter gewusst.”

Tíjnje überlegte kurz. Dann nahm sie ihren Pfannkuchenteller, knickste artig vor der opayra und wandte sich ab.

„Wohin, Tíjnje? Wolltest du denn nicht ein Märchen hören? Ich kann dir das von dem stolzen Prachtvogel und den fünf Schwänen erzählen.”

„Später”, rief Tíjnje und lief auf den Flur hinaus. „Ich muss noch was erledigen. Was ganz wichtiges!”

***

Es war der wohlgekleidete, stattliche Mann, der als erster wieder zu sich kam, einen Augenblick brauchte, um seine missliche Lage zu erkennen und dann sinnlos begann, an seinen Fesseln zu reißen und zu schreien.

Galéon hob den Kopf und schaute sich das wortlos eine Weile an. Das verzweifelte Gezeter brachte auch die anderen Verurteilten nach und nach wieder zu Bewusstsein. Die Frau kreischte besonders schrill.

„Was soll das?”, rief einer von ihnen. Galéon wusste instinktiv, dasss dieser Mann einen anderen getötet hatte. „Was geschieht hier mit uns?”

„Hilfe!”, wimmerte ein anderer, verängstigt, flehend und so demütig, dass es kaum zu seiner grobschlächtigen Erscheinung passen wollte. „Hilfe! Helft mir doch!”

„Wie denn?”, schnappte die Frau. „Bist du noch ganz klar im Kopf? Wie soll dir jetzt noch einer helfen?”

„Ich bin unschuldig!”, behauptete der Mann neben Galéon. „Ich hab doch gar nichts verbrochen!”

„Erzähl doch nicht! Du bringst doch kein wahres Wort hinaus!”, schnauzte gereizt der erste.

„Ich war es nicht! Ich schwöre bei den Mächten! Ich hab keine Ahnung, wo das Geld hergekommen ist!” Er sah sich hektisch mit irrem Blick um und fügte hinzu: „Das müsst ihr mir glauben! Da will mir jemand was anhängen!”

„Pah!”, schnaubte der Gutgekleidete. „Strolche wie du verdienen es doch nicht anders!”

„Gnade!”, flehte der Wimmernde. „So helft mir doch!”

„Halt den Mund”, wurde er zurechtgewiesen. „Hier hört dich keiner mehr!”

Nun schluchzte der Mann und ließ sich kraftlos hängen.

Die Frau schaute streitlustig in die Runde und ihr Blick blieb an Galéon hängen. Sie runzelte missbilligend die Stirn. „Auch das noch. Ein báchorkor. Hast wohl jemandem was Verkehrtes erzählt, was?”

„Möglich”, antwortete Galéon. „Vielleicht wollte aber auch jemand einfach nicht in meiner nächsten Geschichte vorkommen.”

Sie verzog das Gesicht zu einem halben und sehr kurzen Lächeln.

„Pech gehabt”, sagte Galéons von seiner eigenen Unschuld überzeugter Nebenmann. „Am falschen Ort zur falschen Zeit, was, báchorkor?”

„Was geschieht mit uns?”, fragte der dritte. „Was machen sie hier mit uns?”

„Ich hab gehört”, kam es von dem Vornehmen, „sie bringen einen in die Verbannung. An einen Ort weit weg von Aurópéa.”

Die anderen horchten auf, aufflackernde Hoffnung im Blick.

„Wohin?”, fragte die Frau. „Wo soll das sein?”

„Das ist geheim”, behauptete der Wohlhabende. „Und man muss natürlich einen gewissen Stand haben. In Aurópéa darf es niemand erfahren.”

Galéon seufzte und schloss die Augen wieder.

„Einen gewissen Stand? Dass ich nicht lache!” Der erste der drei weniger betuchten Gauner spuckte aus. „Willst du wissen, was ist? Die lassen uns hier langsam verrecken, vor Durst und Hitze! Niemand hilft uns! Und niemand bringt dich bequem anderswo hin. Wichtigtuer!”

Euch vielleicht. Ich hab mir das was kosten lassen! Ich …”

„Was? Du hast jemanden bestochen, dich zu retten?”

„Ich würde es nicht Bestechung nennen. Es war eine … Gefälligkeit! Ich …”

„Na bestens!” Nun lachte die Frau in bitterer Häme. „Da macht sich jetzt einer ein schönes Leben auf deine Kosten und lässt dich hier fein krepieren!”

„Dreistes Weib! Wie kannst du es wagen …”

„Reg dich nicht auf!”, fuhr der Sarkastische dazwischen. „Wieso bist du eigentlich hier, häh? Was hast du denn angestellt, in deinem feinen Haus, in deinem Kaufladen oder Kontor, dass sie dich hergebracht haben?”

Nun schwieg der Vornehme. Wütend starrte er in den Sand hinab.

„Er weiß es nicht”, lästerte sein Gegenüber. „Ist wohl die Unschuld in Person, was? Hält sich wohl für was Besseres!”

„Zumindest hab ich niemanden abgestochen!”, brach es aus dem Vornehmen hervor.

„Ach nein? Na gut. Weißt du was? Ich auch nicht! Man muss in Aurópéa niemanden abmurksen, um einen Ausritt in die Wüste zu bekommen!”

„Und was hast du gemacht?”, erkundigte die Frau sich.

Der Sarkastische lachte bitter. „Ich? Ich hatte eine kleine Kräuterkrämerei. Die kleinste von Aurópéa! Passte in eine handliche Schatulle!”

„Bestes Rauschzeug aus Forétern, was?”, fragte der andere Straßengauner.

„Das allerbeste! Und Gestalten wie der da, das waren meine besten Kunden! Haben sich beliefern lassen, in der Oberstadt! Immer ganz diskret! Müssen sich jetzt wohl einen anderen Lieferanten suchen!”

„Und warum bist du hier, wenn du so einflussreiche Kunden hast?”

Der Kräuterkrämer zuckte die Achseln, soweit er es in den Fesseln konnte. „Scheint, dass jemand das Zeug nicht vertragen hat. Man darf es nicht übertreiben.”

„Helft mir”, kam es wieder leise von dem, der Angst vorm Sterben hatte. „Ich muss doch …” Er schluchzte.

„Was musst du?”

„Ich muss … meine Schwester … meine kleine Schwester …” Der Mann weinte nun bittere Tränen in den Sand. „Sie hat doch nur noch mich …”

„Hättest eben das Geld da lassen sollen, wo es hingehört”, sagte der Wohlhabende mitleidlos.

Der Verzweifelte schniefte. „Hab nicht gewusst, dass es … dass es Raubgeld war. Sollte es doch nur zum …” Er unterbrach sich erschrocken und biss sich auf die Lippen.

„Hast wohl den Kurier für jemanden gemacht, was?”, fragte der Kräuterverkäufer mitfühlend. „Sch… schlimme Sache, Kumpel. Für den Verborgenen etwa?”

Ein zustimmendes Schluchzen.

„Wetten dass die den niemals packen?”, fügte der echte Mörder tonlos hinzu. „Ist doch immer dasselbe.”

„Ihr kennt den Verborgenen?”, fragte der Verzweifelte verdutzt.

Jeder kennt den Verborgenen, Schätzchen”, sagte die Frau mit sonderbarer Milde. „Und jeder denkt, das sei ein großes Geheimnis!”

„Wer ist der Verborgene?”, fragte Galéon, gegen seinen Willen nun doch aufmerksam geworden. Auf die misstrauischen Mienen ringsum erwiderte er: „Ich bin nicht aus Aurópéa. Wie soll ich das wissen?”

„Niemand weiß, wer der Verborgene ist. Aber eine Menge Leute arbeiten hart für ihn”, wurde ihm erklärt.

„Harte Arbeit! Das ist ja nicht zu fassen!”, sagte der Wohlhabende. „Miese Missetaten, das meint ihr wohl!”

„Spuck’s doch endlich aus! Weshalb hast du denn jemanden bestechen müssen? Was kann einer wie du angestellt haben?”

„Gib es zu! Vielleicht wird es dir wohler, wenn du es vom Herzen hast”, verlangte die Frau.

Der Vornehme zierte sich noch kurz. Dann gestand er: „Ich hab für den konsej Dokumente verwaltet. Anträge und Befugnisse und solche Dinge. Ich hab wohl die eine oder andere Unterschrift unter die falschen Papiere gesetzt und andere sind aus den Unterlagen verschwunden.”

„Ach je. So einer”, seufzte die Frau. „Ein Schreibpultschurke.”

„Das sind die schlimmsten”, stimmte der glücklose Geldkurier schniefend zu. Der Wohlhabende errötete, obwohl sein Gesicht ohnehin vor Hitze bereits erhitzt und sonnenverbrannt war.

„He”, sagte der Mörder. „Hinter den Träumen wird’s schon nicht so schlimm sein.”

„Und was, wenn dich da die erwarten, die du vorangeschickt hast?”, fragte der Kräuterverkäufer. „Die werden recht ungehalten sein!”

„Bei den Mächten, was müsste ich mich fürchten! Ihr werdet doch diesen ganzen Spuk nicht glauben?”

„Meine Schwester … meine liebe Schwester …”, weinte der Verzweifelte wieder auf. Seine aufrichtige Besorgnis rührte Galéon. Offenbar war der Ärmste tatsächlich in etwas hineingeraten, was zu groß für ihn war, und hatte in seiner Unerfahrenheit einen Fehler begangen, der ihn nun an diesen Ort gebracht hatte. Warum hatte denn niemand Gnade mit dem bedauernswerten Tropf gehabt? Hörte sich der konsej die Geschichten der Unglücklichen überhaupt noch an? Oder hatte Úldaise selbst das abgeschafft?

„Und du?”, fragte der Korrupte und schaute die Frau an. „Was führt eigentlich dich hierher?”

„Kerle”, sagte sie kalt. „Verfluchte Mistkerle. Einer wie der andere, lüsternes Dreckspack ohne Ehre. Aber einen, den hab ich ein Stück kürzer gemacht!” Sie grinste in die Runde. Die Männer schauderten eingeschüchtert.

Der Verzweifelte wagte als erster wieder, etwas zu sagen. Er schaute zu Galéon hinüber und fragte leise: „Es kommt niemand und bringt uns an einen anderen geheimen Ort, nicht wahr? Wir sind verloren. Pataghíus Feuer wird uns vertilgen, nicht wahr?”

Galéon nickte. „Das scheint der Plan zu sein, ja.”

„Ich hab Angst”, wisperte der Mann. „Solche Angst.”

„Es ist so heiß”, stimmte der Korrupte zu.

Und der Mörder sagte: „Wird eine Weile dauern, nicht wahr?”

„Ja”, stimmte Galéon zu. Warum sollte er diese armen Leute mit seinem beunruhigenden Wissen verstören?

„Ist besser als das, was sie früher gemacht haben”, behauptete der Kräutermann mit bemüht unbeeindruckter Miene. „Wenigstens keiner, der einen beim Letzten auslacht und zuguckt.”

Die Frau hatte aufgehört, zu grinsen. Nun wirkte sie seltsam gefasst. Zwei Schritte hinter ihr stand nun ein Mann in Rot, etwas verschwommen wirkten seine Konturen in der flirrenden Hitze. Er legte seine Fingerspitzen aneinander und nickte dem báchorkor auffordernd zu. Galéon nickte zurück.

„Hört mir zu”, begann er. „Ich erzähle euch meine letzte Geschichte.”